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© BÜCHERmagazin, Melanie Schippling
Jakuta Alikavazovics Roman "Das Fortschreiten der Nacht" erzählt von einer fragilen Liebe in stürmischen Zeiten
Jakuta Alikavazovic ist hierzulande nahezu unbekannt, und in Paris, wo sie lebt, genießt sie in Literaturkreisen zwar einen exzellenten Ruf, aber das große Publikum hat sie mit ihren bislang vier Romanen, einigen Kurzgeschichten und Kinderbüchern noch nicht erreicht. Vielleicht wird das auch so bleiben. Alikavazovics Romane sind keine leichten Lektüren. Auch der jüngste nicht, der wie seine Vorgänger von einer schwierigen Liebe erzählt, aber auch von vielen anderen Dingen: vom Jugoslawien-Krieg und der Belagerung Sarajevos, von Überwachung und Angst, Geld und Status. Wie diese Dinge zusammenkommen, ist manchmal ein Rätsel, aber nicht, weil Alikavazovic nicht auf den Punkt zu bringen vermochte, was sie sagen will (wie das bei rätselhafter Literatur zuweilen der Fall ist), sondern weil sie eine Wirklichkeit abzubilden versucht, die ein Leben lang rätselhaft bleibt.
Paul und Amélia sind Anfang zwanzig, als sie sich in Paris begegnen. Er stammt aus einfachen Verhältnissen und arbeitet als Nachtwächter in einem Hotel, während sie, als Tochter des Besitzers, in diesem Hotel dauerhaft wohnt. Auch in ihrer Liebe zueinander unterscheiden sich die beiden. Paul liebt Amélia immer ein bisschen bereitwilliger als sie ihn, weil sie nicht gelernt hat, was Liebe ist. Amélia weiß nur, wie sich Verlassensein anfühlt - vor allem von der Mutter, die sich einst in der fixen Idee verlor, den Jugoslawien-Krieg durch Poesie aufzuhalten und die in den Wirren Sarajevos auf Nimmerwiedersehen verschwand. Auf diese Weise dringt ein Teil europäischer Geschichte in die Liebesbeziehung von Paul und Amélia und weitet den Roman zu einer Reflexion über die unsichtbaren Folgen von Kriegen, über das, was die Schriftstellerin Jakuta Alikavazovic kürzlich als "europäische Melancholie" bezeichnete: Die Mutter hat sich für den Krieg entschieden und ihn in absentia an ihre Tochter vererbt, die zeit ihres Lebens für den Konflikt leben wird. "Und Paul erinnert sich, dass er zum ersten Mal Amélias Wut gesehen hatte, ihre Rage, zum ersten Mal schien es ihm, dass sie ihre Gesten vollendete, diese trägen Bewegungen, die sonst nur zu neun Zehnteln ausgeführt zu werden schienen, ihr letzter Teil, derjenige, der fehlte, war die Zerstörung."
Besiegt werden die bösen Geister (vielleicht) erst in der dritten Generation. Denn Paul und Amélia bekommen eine Tochter, die, weil Amélia in einer Anstalt verschwindet, ebenfalls ohne Mutter aufwächst. Paul zieht das Kind groß und pflanzt ihm früh einen Chip unter die Haut. Das ist seine Art, seiner Ängste Herr zu werden, wobei diese Ängste qua Herkunft andere sind als die der weiblichen Figuren. Paul weiß wenig über das stets namenlose Land, aus dem seine eigenen Eltern einst nach Paris emigriert sind, aber er spürt, dass seine Familie einer Not entkommen ist, die in ihm als starkes Bedürfnis nach Sicherheit nachklingt. Den Luxus des Zweifels kann er sich nicht leisten. Als Erwachsener verdient er nicht zufällig sein Geld mit einer Firma, die Sicherheitsglas in entlegene Ecken der Welt verkauft.
Das fügt sich nahtlos in die erzählte Zeit. Das Buch verfolgt seine Figuren dreißig Jahre lang, aber es gönnt ihnen keinen Augenblick der Ruhe. Wie auf Wasser müssen sie sich fühlen, denn Jakuta Alikavazovic will eine Liebesgeschichte erzählen, in deren Brüchen sich die Gebrechlichkeit der Gegenwart spiegelt, und das gelingt ihr nicht nur durch zahlreiche Anspielungen auf konkrete Ereignisse der Zeitgeschichte, etwa auch auf die Unruhen in der französischen Banlieue von 2005. Auf die um sich greifende Überwachungstechnologie. Und auf eine schleichend sich zersetzende französische Gesellschaft - ein Prozess, den sie als "Balkanisierung der Gesellschaft" bezeichnet, womit einen jeder zumindest begrifflich von den Geschehnissen auf dem Balkan eingeholt wird. Es gelingt ihr auch stilistisch, die Dinge in der Schwebe zu halten, durch rasche Wechsel der Erzählperspektiven und das Verweben von Wirklichkeit und Traum. So wirkt das ganze Buch wie eine äußerst fragile Konstruktion.
Das soll es auch. Der Roman vermisst verschiedene Zeitzonen eines Lebens: eine Zeit der Leidenschaft, in der die äußere Welt kaum Bedeutung hat; und eine Zeit des Kampfes, in der im Angesicht der Welt stets die Frage nach der Belastbarkeit der Liebe aufkommt. Wie macht man eine Liebe dauerhaft in einer Zeit, die auf Dauerhaftigkeit nichts gibt? Das ist die Frage, die das Buch beantwortet, indem es auf raffinierte Weise gründlich ist und flüchtig bleibt.
Es ist von allem ein bisschen - ein bisschen Liebesgeschichte, Bildungsroman, Sozialgeschichte, ein bisschen Familienchronik from dusk till dawn. Und ein bisschen rätselhaft. Aber welche Liebe wollte von sich behaupten, dass sie kein Rätsel bliebe?
LENA BOPP
Jakuta Alikavazovic: "Das Fortschreiten der Nacht". Roman.
Aus dem Französischen von Sabine Mehnert. Edition Nautilus, Hamburg 2019. 256 S., geb., 22,- [Euro].
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