E. T. A. Hoffmann: Das fremde Kind Erstdruck in: Kinder-Märchen von C. W. Contessa u.a., Berlin (Reimer) 1816. Vollständige Neuausgabe mit einer Biographie des Autors. Herausgegeben von Karl-Maria Guth. Berlin 2015. Textgrundlage ist die Ausgabe: E.T.A. Hoffmann: Poetische Werke in sechs Bänden, Band 3, Berlin: Aufbau, 1963. Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe als Marginalie zeilengenau mitgeführt. Umschlaggestaltung von Thomas Schultz-Overhage unter Verwendung des Bildes: Camille Corot, Leotine und die Turteltaube, 1872. Gesetzt aus Minion Pro, 11 pt. Über den Autor: 1776 in Königsberg auf die Vornamen Ernst Theodor Wilhelm getauft, nennt er sich später aus Verehrung für Mozart Ernst Theodor Amadeus oder kurz E.T.A. Hoffmann. Er studiert Jura in Königsberg, wird Referendar am Berliner Kammergericht, wegen Karikaturen auf preußische Offiziere strafversetzt nach Polen und schließlich Kapellmeister in Bamberg. Bis er 1814 nach Berlin zurückkehrt widmet er sein künstlerisches Schaffen vornehmlich der Musik. Er wird zum Kammergerichtsrat berufen, gründet den »Serapinenorden« und schreibt seine großen Romane, »Die Elixiere des Teufels« und die »Lebensansichten des Katers Murr«, sowie zahlreiche Erzählungen, deren vorletzte, der »Meister Floh«, beschlagnahmt wird, weil der preußische Polizeidirektor in der Figur des Knarrpanti eine Satire auf seine Person sieht. 1822 erkrankt E.T.A. Hoffmann schwer und diktiert - völlig gelähmt - vom Sterbebett aus die Erzählung »Des Vetters Eckfenster«, in der der große Romantiker sich dem kritischen Realismus annähert bevor er am 25. Juni in Berlin stirbt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.07.2022Die Kleinen tun euch ja nichts
Besuch aus dem Feenreich: E. T. A. Hoffmanns
Märchen "Das fremde Kind" verteidigt den
phantastischen Blick.
Auf einmal sind die fremden Kinder da: Herrmann und Adelgunde heißen sie, brav und geputzt sind sie, kleine Erwachsene an den Händen ihrer Eltern. Doch die Kutsche, die sie in das abgelegene Dörfchen Brakelheim brachte, kommt gerade erst zum Stehen, da ist das Urteil über sie schon gefällt: vom Leser und auch von den Geschwistern Felix und Christlieb. Ihren Eltern, dem ländlichen Edelmann Theodor von Brakel und seiner Frau, gilt der Besuch, die Zierpuppen sind ihre Verwandten. Zuvor hatte man ihnen eingeschärft, sich nur ja anständig zu benehmen, damit der vornehme Besuch sie nicht für "hässliche Bauernkinder" hält, nun wird ihre freundliche Begrüßung von den weinerlichen städtischen Besuchern zurückgewiesen, sodass ihre Mutter mahnt: "Adelgundchen, Hermann, die Kinder tun euch ja nichts", was die Sache nicht besser macht. Auch die Geschenke, die die mürrischen Gäste mitgebracht haben, erweisen sich tags darauf im gewohnten Spiel im Wald als nutzlos: Der mechanische Jäger geht in den Händen von Felix ebenso rasch entzwei wie der aufziehbare Harfenist, und Christliebs neue Puppe hält kaum länger, weshalb die Geschwister alles ins Gebüsch und in den Teich werfen.
Das fremde Kind aber, das nun auftaucht, gleicht den Gästen in keiner Weise. Es spielt mit den Geschwistern, versteht die Sprache der Tiere und der Natur, es nimmt sie an die Hand und fliegt mit ihnen und erzählt von einem fernen Feenreich, aus dem es stammt und wo seine Mutter herrscht. Allerdings muss sie sich gerade mit einem bösen Gnom namens Pepser auseinandersetzen, der sich als ihr Berater tarnte und aus reiner Lust am Quälen Unheil stiftete. Und als die Geschwister, die von nun an ständig in den Wald gehen, um mit dem fremden Kind zu spielen, auf einmal einen Hauslehrer bekommen, ist ihnen rasch klar, dass sich hinter dem seltsamen Herrn mit dem wunderlichen Namen "Magister Tinte" der feindselige Gnom verbirgt.
E. T. A. Hoffmanns "Das fremde Kind" erschien ursprünglich in einer Märchensammlung und wurde später von ihm in den Großroman "Die Serapionsbrüder" aufgenommen, wo es als Gegenstück zu "Nussknacker und Mausekönig" fungiert. Zugleich aber geht es darin um den Gegensatz zwischen der trockensten Form von Erziehung, die Gestalten wie Adelgunde und Herrmann hervorbringt, und der freien Phantasie, für die das ausschweifende Spiel der Geschwister mit dem fremden Kind steht, in das wiederum der Hauslehrer einbricht.
Felix und Christlieb sehen und erleben, was außer ihnen niemand erleben kann, mehr noch: Selbst untereinander haben sie je unterschiedliche Perspektiven, die sich nicht decken. Felix sieht in dem Kind einen Jungen, Christlieb ein Mädchen, und wo Felix die Kleidung des Kindes wie grünes Laub beschreibt, trägt es in Christliebs Augen Rosenblätter. Einig sind sich die Geschwister aber darin, dass das fremde Wesen ihnen mit großer Vertrautheit wie alten Freunden begegnet.
Als Teil der "Serapionsbrüder" gewinnt der Text dadurch eine Dimension hinzu. Denn das poetische Programm, das Hoffmann - und so auch die Erzähler der Romaneinlagen - postuliert, verlangt von Hörern wie Zuhörern den größten Respekt für die individuelle Perspektive und für die Phantasie, die sie nährt. Wenn also der verhasste Lehrer in den Augen der Kinder nicht nur exzentrisches Verhalten an den Tag legt, sondern auch vollends zur ekligen Fliege wird, dann gibt es keinen Anlass, diese Erzählung rundweg abzulehnen - erstaunlicherweise ist die Bereitschaft der Eltern, den entsprechenden Bericht der Kinder ernst zu nehmen, recht hoch, besonders was den Vater angeht.
Nun ist eine Ausgabe des Märchens bei Secession erschienen, illustriert von Katina Peeva, die besonders für die dunklen Seiten des Textes eindrucksvolle Bilder gefunden hat. Die Fliegenhaftigkeit des Lehrers Tinte leuchtet sofort ein, wenn man die spitze Nase, die dünnen Gliedmaßen und den halslosen Kopf auf den flächigen Bildern betrachtet, während die Kinder selbst entschieden einen Stich ins Liebliche haben.
Dabei belässt es der Verlag aber nicht, der seinen Kunden "ein multidimensionales Erleben des Gesamtkunstwerks ermöglichen" möchte, bestehend aus Text, Bildern und Klang: Wer mit dem Smartphone einen QR-Code im Buch scannt, gelange "in den Genuss der Musik", die als "Klangumgebung" für die Lektüre fungiert. Mit dem Genuss ist das so eine Sache. Grundlage für die auf diversen Plattformen abrufbaren Klänge ist Hoffmanns Harfenquintett in c-Moll (nicht: "in D-Moll", wie der Verlag schreibt), und warum man nicht das Original statt ein bis in den schieren Kitsch hinein waberndes Ergebnis dieser Verfremdung beigegeben hat, erschließt sich nicht. Ganz abgesehen von der Frage, ob ein derart abgründiger Text wie dieser nicht besser ohne "Klangumhüllung" rezipiert werden kann.
Denn umso wacher wird man dann die Sätze wahrnehmen, die das infrage stellen, was man als gesichert angenommen hatte: den nüchternen Blick der Erwachsenen als Gegenpol zur kindlichen Phantasie. Während die Mutter beklagt, dass sich die Kinder "nichts ausreden lassen", bedrängt der Vater sie geradezu, das Gesehene ernst zu nehmen. Am Ende erfahren die Geschwister, dass er selbst einst vertrauten Umgang mit dem fremden Kind, dieser Inkarnation phantastischen Erlebens, hatte - und er beschwört Felix und Christlieb, daran festzuhalten, aller künftigen Entwicklung zum Trotz.
"Sag' mein Junge, kann wohl ein Herr Magister eine Fliege sein?", fragt er Felix. Welche Antwort er sich gegen die langweilige Realität erhofft, schimmert durch. Und auch, welche Bürde es bedeutet, im Alltag immer "Nein" antworten zu müssen. TILMAN SPRECKELSEN
E. T. A. Hoffmann: "Das fremde Kind".
Mit Bildern von Katina Peeva. Secession Verlag, Berlin 2022. 95 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Besuch aus dem Feenreich: E. T. A. Hoffmanns
Märchen "Das fremde Kind" verteidigt den
phantastischen Blick.
Auf einmal sind die fremden Kinder da: Herrmann und Adelgunde heißen sie, brav und geputzt sind sie, kleine Erwachsene an den Händen ihrer Eltern. Doch die Kutsche, die sie in das abgelegene Dörfchen Brakelheim brachte, kommt gerade erst zum Stehen, da ist das Urteil über sie schon gefällt: vom Leser und auch von den Geschwistern Felix und Christlieb. Ihren Eltern, dem ländlichen Edelmann Theodor von Brakel und seiner Frau, gilt der Besuch, die Zierpuppen sind ihre Verwandten. Zuvor hatte man ihnen eingeschärft, sich nur ja anständig zu benehmen, damit der vornehme Besuch sie nicht für "hässliche Bauernkinder" hält, nun wird ihre freundliche Begrüßung von den weinerlichen städtischen Besuchern zurückgewiesen, sodass ihre Mutter mahnt: "Adelgundchen, Hermann, die Kinder tun euch ja nichts", was die Sache nicht besser macht. Auch die Geschenke, die die mürrischen Gäste mitgebracht haben, erweisen sich tags darauf im gewohnten Spiel im Wald als nutzlos: Der mechanische Jäger geht in den Händen von Felix ebenso rasch entzwei wie der aufziehbare Harfenist, und Christliebs neue Puppe hält kaum länger, weshalb die Geschwister alles ins Gebüsch und in den Teich werfen.
Das fremde Kind aber, das nun auftaucht, gleicht den Gästen in keiner Weise. Es spielt mit den Geschwistern, versteht die Sprache der Tiere und der Natur, es nimmt sie an die Hand und fliegt mit ihnen und erzählt von einem fernen Feenreich, aus dem es stammt und wo seine Mutter herrscht. Allerdings muss sie sich gerade mit einem bösen Gnom namens Pepser auseinandersetzen, der sich als ihr Berater tarnte und aus reiner Lust am Quälen Unheil stiftete. Und als die Geschwister, die von nun an ständig in den Wald gehen, um mit dem fremden Kind zu spielen, auf einmal einen Hauslehrer bekommen, ist ihnen rasch klar, dass sich hinter dem seltsamen Herrn mit dem wunderlichen Namen "Magister Tinte" der feindselige Gnom verbirgt.
E. T. A. Hoffmanns "Das fremde Kind" erschien ursprünglich in einer Märchensammlung und wurde später von ihm in den Großroman "Die Serapionsbrüder" aufgenommen, wo es als Gegenstück zu "Nussknacker und Mausekönig" fungiert. Zugleich aber geht es darin um den Gegensatz zwischen der trockensten Form von Erziehung, die Gestalten wie Adelgunde und Herrmann hervorbringt, und der freien Phantasie, für die das ausschweifende Spiel der Geschwister mit dem fremden Kind steht, in das wiederum der Hauslehrer einbricht.
Felix und Christlieb sehen und erleben, was außer ihnen niemand erleben kann, mehr noch: Selbst untereinander haben sie je unterschiedliche Perspektiven, die sich nicht decken. Felix sieht in dem Kind einen Jungen, Christlieb ein Mädchen, und wo Felix die Kleidung des Kindes wie grünes Laub beschreibt, trägt es in Christliebs Augen Rosenblätter. Einig sind sich die Geschwister aber darin, dass das fremde Wesen ihnen mit großer Vertrautheit wie alten Freunden begegnet.
Als Teil der "Serapionsbrüder" gewinnt der Text dadurch eine Dimension hinzu. Denn das poetische Programm, das Hoffmann - und so auch die Erzähler der Romaneinlagen - postuliert, verlangt von Hörern wie Zuhörern den größten Respekt für die individuelle Perspektive und für die Phantasie, die sie nährt. Wenn also der verhasste Lehrer in den Augen der Kinder nicht nur exzentrisches Verhalten an den Tag legt, sondern auch vollends zur ekligen Fliege wird, dann gibt es keinen Anlass, diese Erzählung rundweg abzulehnen - erstaunlicherweise ist die Bereitschaft der Eltern, den entsprechenden Bericht der Kinder ernst zu nehmen, recht hoch, besonders was den Vater angeht.
Nun ist eine Ausgabe des Märchens bei Secession erschienen, illustriert von Katina Peeva, die besonders für die dunklen Seiten des Textes eindrucksvolle Bilder gefunden hat. Die Fliegenhaftigkeit des Lehrers Tinte leuchtet sofort ein, wenn man die spitze Nase, die dünnen Gliedmaßen und den halslosen Kopf auf den flächigen Bildern betrachtet, während die Kinder selbst entschieden einen Stich ins Liebliche haben.
Dabei belässt es der Verlag aber nicht, der seinen Kunden "ein multidimensionales Erleben des Gesamtkunstwerks ermöglichen" möchte, bestehend aus Text, Bildern und Klang: Wer mit dem Smartphone einen QR-Code im Buch scannt, gelange "in den Genuss der Musik", die als "Klangumgebung" für die Lektüre fungiert. Mit dem Genuss ist das so eine Sache. Grundlage für die auf diversen Plattformen abrufbaren Klänge ist Hoffmanns Harfenquintett in c-Moll (nicht: "in D-Moll", wie der Verlag schreibt), und warum man nicht das Original statt ein bis in den schieren Kitsch hinein waberndes Ergebnis dieser Verfremdung beigegeben hat, erschließt sich nicht. Ganz abgesehen von der Frage, ob ein derart abgründiger Text wie dieser nicht besser ohne "Klangumhüllung" rezipiert werden kann.
Denn umso wacher wird man dann die Sätze wahrnehmen, die das infrage stellen, was man als gesichert angenommen hatte: den nüchternen Blick der Erwachsenen als Gegenpol zur kindlichen Phantasie. Während die Mutter beklagt, dass sich die Kinder "nichts ausreden lassen", bedrängt der Vater sie geradezu, das Gesehene ernst zu nehmen. Am Ende erfahren die Geschwister, dass er selbst einst vertrauten Umgang mit dem fremden Kind, dieser Inkarnation phantastischen Erlebens, hatte - und er beschwört Felix und Christlieb, daran festzuhalten, aller künftigen Entwicklung zum Trotz.
"Sag' mein Junge, kann wohl ein Herr Magister eine Fliege sein?", fragt er Felix. Welche Antwort er sich gegen die langweilige Realität erhofft, schimmert durch. Und auch, welche Bürde es bedeutet, im Alltag immer "Nein" antworten zu müssen. TILMAN SPRECKELSEN
E. T. A. Hoffmann: "Das fremde Kind".
Mit Bildern von Katina Peeva. Secession Verlag, Berlin 2022. 95 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main