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Herzenskälte ist die unerträglichste aller Eigenschaften: In einer Wundertüte von einem Buch bündelt Alexander Kluge neue und alte Geschichten, Anekdoten sowie Lebens- und Liebensansichten.
Die ehrwürdige Gattung des Lebenslaufs ist in der neoliberalistischen Kultur nicht mehr gefragt. Einer Umfrage zufolge bevorzugen Personalchefs zur schnellen Information eine elektronische Auflistung, die mit der aktuellen Tätigkeit beginnt. Das Kapital interessiert sich für zu erwartenden Gewinn, nicht für die Schrift des Vergangenen. Noch wichtiger sind daher die Zukunftsvorstellungen der Bewerber: Wo sehen Sie sich im Jahre X?
Für Alexander Kluge aber ist der Lebenslauf mehr denn je das Gefäß aller Erfahrung der Welt. Der Mensch ist kein System, Verstehen formt sich nicht in Tabellen und Zahlen, sondern wie eh und je in Geschichten. Die moderne Welt mag unerzählerisch geworden sein, dennoch kommt alles, was der Fall ist, in Geschichten vor. "Für Menschen sind Lebensläufe die Behausung, wenn draußen Krise herrscht. Alle Lebensläufe gemeinsam bilden eine unsichtbare Schrift. Nie leben sie allein. Sie existieren in Gruppen, Generationen, Staaten, Netzen. Sie lieben Umwege und Auswege."
Vor fünfzig Jahren hat Alexander Kluge mit "Lebensläufe" sein Debüt als Erzähler gegeben. Der Kritiker dieser Zeitung Friedrich Sieburg bezeichnete das Buch als "erschreckend großartig". Trotz des erstaunlichen Erfolgs kündigte Kluge an, keine weiteren Lebensläufe verfassen zu wollen, obwohl "man das noch dutzendweise weiterführen könnte". So ist das mit Lebensläufen, sie sind realistisch und fiktional zugleich, die Erinnerung ist "rebellischer Vogel"; wenn man ihn zu fest hält, erstickt er, zu locker, fliegt er davon. Absichten aber sind Spottdrosseln, die ihren Halter von oben her auslachen.
Für das fünfte große Geschichtenbuch nach den beiden Bänden der "Chronik der Gefühle", Basisgeschichten, Lebensläufe (2000), "Die Lücke, die der Teufel lässt" (2003) und "Tür an Tür mit einem anderen Leben" (2006) hat der Erzähler noch einmal ganz tief in seine Schatzkiste gegriffen und dabei - nach der Devise: es wird nichts weggeschmissen - auch allerlei vergilbte Blättchen zutage gefördert, die der geneigte Leser schon kennt. Das macht aber nichts, Wiederholung sorgt für sozialen Zusammenhang. Alles, was dazu gehört, ist in dem Band abgedeckt: Klatsch und üble Nachrede, Gerüchte und Verschwörungstheorien, Lebensweisheiten und auch ein bisschen Angeberei, was einer alles so weiß über die Größen der Gesellschaft. Ein paar auserlesene Geschmacklosigkeiten etwa zum Liebesleiden Theodor W. Adornos fehlen auch nicht. Manchmal kommt der Erzähler dem Leser vor wie die Quasselstrippe von nebenan, die zu jedem Thema ein Anekdötchen aus der Familiengeschichte parat hat.
Bezaubernd aber ist die unverbrüchliche Solidarität, die Kluge mit dem eigensinnigen Kind in sich und anderen hegt, und die eloquente Empörung darüber, mit welcher Härte es im kürzesten Märchen der Brüder Grimm bestraft wird, obwohl der Eigensinn doch in Deutschland gar keine ausgeprägte Eigenschaft ist. Es ein Lebensthema Kluges, wie sich die lebendige Arbeitskraft über Trennungen herstellt. Schon die Volksmärchen erzählen davon, dass ohne gelungene Trennungen niemand ein tüchtiger Erwachsener wird. Für jedes menschliche Arbeitsvermögen gibt es eine Episode in den Märchen der Völker. Trennungsenergien resultieren einerseits aus dem Mangel und der Verlusterfahrung, womit die meisten Märchen ja beginnen, und andererseits aus der Fähigkeit, darauf angemessen zu antworten. Ohne Trennungen entstehen unrealistische Wesen mit "dem kalten Blick der Vielgeliebten", ähnlich dem "verwöhnten Helden Siegfried" oder "Menschmaschinen". Herzenskälte ist für Kluge die unerträglichste menschliche Eigenschaft, die für einen großen Teil der Schrecklichkeiten des zwanzigsten Jahrhunderts verantwortlich ist.
Kluge ist mehr denn je gewitzter Muntermacher, der die Möglichkeiten des Dazulernens so optimistisch und warmherzig darlegt wie kein anderer. Erzählen ist bei ihm immer auch "Küche des Glücks", Wiederverwertung der Reste, Umschreiben des Alten zu einem besseren Ende. Unermüdlich sucht er dabei nach praktikablen Gleichgewichtsmodellen, die er notfalls mit selbsterfundener Statistik beglaubigt. Obwohl bekanntlich in Gefahr der Mittelweg der Tod ist, hegt er eine Vorliebe für die Relation fünfzig zu fünfzig. Denn wer neunzig Prozent seiner Energien für das bloße Funktionieren aufwendet und nur zehn für die lebendige Produktion, der wird sich früher oder später umbringen.
Vielleicht war das auch bei Heinrich von Kleists Kampf um seine "Berliner Abendblätter" so. Mit dem Plan, "den sicheren Weg des Glücks" auf der mittleren Höhe der Landschaft des Lebens zu finden, scheiterte er trotz seiner wunderbaren erzählerischen Fähigkeiten und seiner Vorliebe für die lebenspraktische Anekdote. "Der Versuch der linearen Konzentration zerriss ihn." Er konnte schließlich kein Gleichgewicht finden zwischen dem, was das Individuum der Gesellschaft und der Tradition verdankt und schuldet und was sich selbst.
Das Prinzip der Linearität des Erzählens durchbricht Alexander Kluge auf vielfältige Weise. Das Wiederfinden der Produktionsverhältnisse auf der subjektiven Seite verlangt nach einer Methode, die den Eigensinn und die Widersprüche hervortreibt, um von dort aus zu einer "robusten und brauchbaren Praxis" zu gelangen. Diese Erzählweise nennt Kluge konstellativ, sie ist auf die Glättung von Widersprüchen nicht verpflichtet. Dazu gehören auch die Bilder mit ihren schlaglichtartigen Legenden.
In der Reflexion seiner Geschichten führt Kluge Erkenntnisse aus Philosophie, Soziologie und Psychologie auf ihre Ursprünge in der Lehre vom richtigen Leben zurück. In der poetischen Aufklärung der "Prinzessin von Clèves" findet er den kategorischen Imperativ der Beziehungsarbeit: "Du sollst Achtung haben vor der Wildheit, dem Eigensinn, der Genauigkeit deiner Empfindungen." Aus der Selbstachtung muss die Zuverlässigkeit gebildet werden, sie beruht wiederum auf einer klaren Trennung, soll aber gleichwohl in zwei Welten gleichermaßen gelten. In gesellschaftlichen Vertragsverhältnissen und Regulierungen wie in einer Welt, die jedem selbst gehört. "Du darfst aber in keiner der Welten unehrlich sein, Abstriche oder Kompromisse machen." Und doch sollen die Kinder für Lügen nicht bestraft werden, sie gehören selbst zum Lernprozess, der freilich tödlich enden kann, wenn die Einsicht zu spät kommt, wie bei Lady Di. Dann greifen die seelischen Kräfte nach den ältesten Bildern, die sie durch jedes Kostüm wiedererkennen: "wie eine Kerze im Wind".
Was Sieburg an Kluges Debüt schrecklich großartig fand, war auch die juristische Härte des Stils vergleichbar dem so genannten Kanzleistil von Kleists Erzählungen und Anekdoten, der sich im Munde wunderbarer Frauenfiguren plötzlich und doch wie organisch in die herzrührende Schreibart verwandeln konnte. Etwas Juristisches ist in Kluges Behandlung von Lebensfällen immer noch vorhanden, aber nun warm eingepackt in die Sprache der Liebe. Dieser "Eckband" von Alexander Kluges Lebenswerk ist eine große Wundertüte für ehemalige eigensinnige Kinder, deren Träume von einer besseren Welt nicht in Erfüllung gegangen sind. Und das müssten doch, nicht nur statistisch betrachtet, ziemlich viele sein.
FRIEDMAR APEL
Alexander Kluge: "Das fünfte Buch". Neue Lebensläufe.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 576 S., geb., 39,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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