»Unsere Lebensläufe sind die Häuser, aus deren Fenstern wir Menschen die Welt deuten: ein Gefäß der Erfahrung für das literarisch Erzählbare.« Alexander Kluge Mit diesem Fünften Buch gelangt Alexander Kluges großes Erzählprojekt zu seinem Abschluß. In vier voraufgegangenen Bänden, der zweibändigen »Chronik der Gefühle« und den einbändigen Geschichtensammlungen »Die Lücke, die der Teufel läßt« sowie »Tür an Tür mit einem anderen Leben«, wurden seit dem Jahr 2000 die über sechs Jahrzehnte hinweg entstandenen Geschichten des Autors in großformatigen Bänden versammelt. Alle Geschichten, die darin nicht enthalten waren, werden diesem Eckband seines Lebenswerks nun auf neue Weise eingeschrieben: konzentriert und endgültig. Darüber hinaus aber führt »«Das fünfte Buch mit einer großen Gruppe »Neuer Lebensläufe« auf den Beginn von Kluges Laufbahn als Erzähler zurück. Seine »Lebensläufe« erschienen 1962, vor genau 50 Jahren. Und wieder nutzt dieser Erzähler sein bewährtes Gefäß: den »Lebenslauf« als das Gefäß aller Erfahrung – für Abgründe der Vernunft, für Brückenköpfe zu offenen Horizonten, für die realistisch-antirealistische Doppelnatur des Menschen und den inneren Partisanen in jedem von uns.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2012Die Purzelbäume des Zufalls
Herzenskälte ist die unerträglichste aller Eigenschaften: In einer Wundertüte von einem Buch bündelt Alexander Kluge neue und alte Geschichten, Anekdoten sowie Lebens- und Liebensansichten.
Die ehrwürdige Gattung des Lebenslaufs ist in der neoliberalistischen Kultur nicht mehr gefragt. Einer Umfrage zufolge bevorzugen Personalchefs zur schnellen Information eine elektronische Auflistung, die mit der aktuellen Tätigkeit beginnt. Das Kapital interessiert sich für zu erwartenden Gewinn, nicht für die Schrift des Vergangenen. Noch wichtiger sind daher die Zukunftsvorstellungen der Bewerber: Wo sehen Sie sich im Jahre X?
Für Alexander Kluge aber ist der Lebenslauf mehr denn je das Gefäß aller Erfahrung der Welt. Der Mensch ist kein System, Verstehen formt sich nicht in Tabellen und Zahlen, sondern wie eh und je in Geschichten. Die moderne Welt mag unerzählerisch geworden sein, dennoch kommt alles, was der Fall ist, in Geschichten vor. "Für Menschen sind Lebensläufe die Behausung, wenn draußen Krise herrscht. Alle Lebensläufe gemeinsam bilden eine unsichtbare Schrift. Nie leben sie allein. Sie existieren in Gruppen, Generationen, Staaten, Netzen. Sie lieben Umwege und Auswege."
Vor fünfzig Jahren hat Alexander Kluge mit "Lebensläufe" sein Debüt als Erzähler gegeben. Der Kritiker dieser Zeitung Friedrich Sieburg bezeichnete das Buch als "erschreckend großartig". Trotz des erstaunlichen Erfolgs kündigte Kluge an, keine weiteren Lebensläufe verfassen zu wollen, obwohl "man das noch dutzendweise weiterführen könnte". So ist das mit Lebensläufen, sie sind realistisch und fiktional zugleich, die Erinnerung ist "rebellischer Vogel"; wenn man ihn zu fest hält, erstickt er, zu locker, fliegt er davon. Absichten aber sind Spottdrosseln, die ihren Halter von oben her auslachen.
Für das fünfte große Geschichtenbuch nach den beiden Bänden der "Chronik der Gefühle", Basisgeschichten, Lebensläufe (2000), "Die Lücke, die der Teufel lässt" (2003) und "Tür an Tür mit einem anderen Leben" (2006) hat der Erzähler noch einmal ganz tief in seine Schatzkiste gegriffen und dabei - nach der Devise: es wird nichts weggeschmissen - auch allerlei vergilbte Blättchen zutage gefördert, die der geneigte Leser schon kennt. Das macht aber nichts, Wiederholung sorgt für sozialen Zusammenhang. Alles, was dazu gehört, ist in dem Band abgedeckt: Klatsch und üble Nachrede, Gerüchte und Verschwörungstheorien, Lebensweisheiten und auch ein bisschen Angeberei, was einer alles so weiß über die Größen der Gesellschaft. Ein paar auserlesene Geschmacklosigkeiten etwa zum Liebesleiden Theodor W. Adornos fehlen auch nicht. Manchmal kommt der Erzähler dem Leser vor wie die Quasselstrippe von nebenan, die zu jedem Thema ein Anekdötchen aus der Familiengeschichte parat hat.
Bezaubernd aber ist die unverbrüchliche Solidarität, die Kluge mit dem eigensinnigen Kind in sich und anderen hegt, und die eloquente Empörung darüber, mit welcher Härte es im kürzesten Märchen der Brüder Grimm bestraft wird, obwohl der Eigensinn doch in Deutschland gar keine ausgeprägte Eigenschaft ist. Es ein Lebensthema Kluges, wie sich die lebendige Arbeitskraft über Trennungen herstellt. Schon die Volksmärchen erzählen davon, dass ohne gelungene Trennungen niemand ein tüchtiger Erwachsener wird. Für jedes menschliche Arbeitsvermögen gibt es eine Episode in den Märchen der Völker. Trennungsenergien resultieren einerseits aus dem Mangel und der Verlusterfahrung, womit die meisten Märchen ja beginnen, und andererseits aus der Fähigkeit, darauf angemessen zu antworten. Ohne Trennungen entstehen unrealistische Wesen mit "dem kalten Blick der Vielgeliebten", ähnlich dem "verwöhnten Helden Siegfried" oder "Menschmaschinen". Herzenskälte ist für Kluge die unerträglichste menschliche Eigenschaft, die für einen großen Teil der Schrecklichkeiten des zwanzigsten Jahrhunderts verantwortlich ist.
Kluge ist mehr denn je gewitzter Muntermacher, der die Möglichkeiten des Dazulernens so optimistisch und warmherzig darlegt wie kein anderer. Erzählen ist bei ihm immer auch "Küche des Glücks", Wiederverwertung der Reste, Umschreiben des Alten zu einem besseren Ende. Unermüdlich sucht er dabei nach praktikablen Gleichgewichtsmodellen, die er notfalls mit selbsterfundener Statistik beglaubigt. Obwohl bekanntlich in Gefahr der Mittelweg der Tod ist, hegt er eine Vorliebe für die Relation fünfzig zu fünfzig. Denn wer neunzig Prozent seiner Energien für das bloße Funktionieren aufwendet und nur zehn für die lebendige Produktion, der wird sich früher oder später umbringen.
Vielleicht war das auch bei Heinrich von Kleists Kampf um seine "Berliner Abendblätter" so. Mit dem Plan, "den sicheren Weg des Glücks" auf der mittleren Höhe der Landschaft des Lebens zu finden, scheiterte er trotz seiner wunderbaren erzählerischen Fähigkeiten und seiner Vorliebe für die lebenspraktische Anekdote. "Der Versuch der linearen Konzentration zerriss ihn." Er konnte schließlich kein Gleichgewicht finden zwischen dem, was das Individuum der Gesellschaft und der Tradition verdankt und schuldet und was sich selbst.
Das Prinzip der Linearität des Erzählens durchbricht Alexander Kluge auf vielfältige Weise. Das Wiederfinden der Produktionsverhältnisse auf der subjektiven Seite verlangt nach einer Methode, die den Eigensinn und die Widersprüche hervortreibt, um von dort aus zu einer "robusten und brauchbaren Praxis" zu gelangen. Diese Erzählweise nennt Kluge konstellativ, sie ist auf die Glättung von Widersprüchen nicht verpflichtet. Dazu gehören auch die Bilder mit ihren schlaglichtartigen Legenden.
In der Reflexion seiner Geschichten führt Kluge Erkenntnisse aus Philosophie, Soziologie und Psychologie auf ihre Ursprünge in der Lehre vom richtigen Leben zurück. In der poetischen Aufklärung der "Prinzessin von Clèves" findet er den kategorischen Imperativ der Beziehungsarbeit: "Du sollst Achtung haben vor der Wildheit, dem Eigensinn, der Genauigkeit deiner Empfindungen." Aus der Selbstachtung muss die Zuverlässigkeit gebildet werden, sie beruht wiederum auf einer klaren Trennung, soll aber gleichwohl in zwei Welten gleichermaßen gelten. In gesellschaftlichen Vertragsverhältnissen und Regulierungen wie in einer Welt, die jedem selbst gehört. "Du darfst aber in keiner der Welten unehrlich sein, Abstriche oder Kompromisse machen." Und doch sollen die Kinder für Lügen nicht bestraft werden, sie gehören selbst zum Lernprozess, der freilich tödlich enden kann, wenn die Einsicht zu spät kommt, wie bei Lady Di. Dann greifen die seelischen Kräfte nach den ältesten Bildern, die sie durch jedes Kostüm wiedererkennen: "wie eine Kerze im Wind".
Was Sieburg an Kluges Debüt schrecklich großartig fand, war auch die juristische Härte des Stils vergleichbar dem so genannten Kanzleistil von Kleists Erzählungen und Anekdoten, der sich im Munde wunderbarer Frauenfiguren plötzlich und doch wie organisch in die herzrührende Schreibart verwandeln konnte. Etwas Juristisches ist in Kluges Behandlung von Lebensfällen immer noch vorhanden, aber nun warm eingepackt in die Sprache der Liebe. Dieser "Eckband" von Alexander Kluges Lebenswerk ist eine große Wundertüte für ehemalige eigensinnige Kinder, deren Träume von einer besseren Welt nicht in Erfüllung gegangen sind. Und das müssten doch, nicht nur statistisch betrachtet, ziemlich viele sein.
FRIEDMAR APEL
Alexander Kluge: "Das fünfte Buch". Neue Lebensläufe.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 576 S., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Herzenskälte ist die unerträglichste aller Eigenschaften: In einer Wundertüte von einem Buch bündelt Alexander Kluge neue und alte Geschichten, Anekdoten sowie Lebens- und Liebensansichten.
Die ehrwürdige Gattung des Lebenslaufs ist in der neoliberalistischen Kultur nicht mehr gefragt. Einer Umfrage zufolge bevorzugen Personalchefs zur schnellen Information eine elektronische Auflistung, die mit der aktuellen Tätigkeit beginnt. Das Kapital interessiert sich für zu erwartenden Gewinn, nicht für die Schrift des Vergangenen. Noch wichtiger sind daher die Zukunftsvorstellungen der Bewerber: Wo sehen Sie sich im Jahre X?
Für Alexander Kluge aber ist der Lebenslauf mehr denn je das Gefäß aller Erfahrung der Welt. Der Mensch ist kein System, Verstehen formt sich nicht in Tabellen und Zahlen, sondern wie eh und je in Geschichten. Die moderne Welt mag unerzählerisch geworden sein, dennoch kommt alles, was der Fall ist, in Geschichten vor. "Für Menschen sind Lebensläufe die Behausung, wenn draußen Krise herrscht. Alle Lebensläufe gemeinsam bilden eine unsichtbare Schrift. Nie leben sie allein. Sie existieren in Gruppen, Generationen, Staaten, Netzen. Sie lieben Umwege und Auswege."
Vor fünfzig Jahren hat Alexander Kluge mit "Lebensläufe" sein Debüt als Erzähler gegeben. Der Kritiker dieser Zeitung Friedrich Sieburg bezeichnete das Buch als "erschreckend großartig". Trotz des erstaunlichen Erfolgs kündigte Kluge an, keine weiteren Lebensläufe verfassen zu wollen, obwohl "man das noch dutzendweise weiterführen könnte". So ist das mit Lebensläufen, sie sind realistisch und fiktional zugleich, die Erinnerung ist "rebellischer Vogel"; wenn man ihn zu fest hält, erstickt er, zu locker, fliegt er davon. Absichten aber sind Spottdrosseln, die ihren Halter von oben her auslachen.
Für das fünfte große Geschichtenbuch nach den beiden Bänden der "Chronik der Gefühle", Basisgeschichten, Lebensläufe (2000), "Die Lücke, die der Teufel lässt" (2003) und "Tür an Tür mit einem anderen Leben" (2006) hat der Erzähler noch einmal ganz tief in seine Schatzkiste gegriffen und dabei - nach der Devise: es wird nichts weggeschmissen - auch allerlei vergilbte Blättchen zutage gefördert, die der geneigte Leser schon kennt. Das macht aber nichts, Wiederholung sorgt für sozialen Zusammenhang. Alles, was dazu gehört, ist in dem Band abgedeckt: Klatsch und üble Nachrede, Gerüchte und Verschwörungstheorien, Lebensweisheiten und auch ein bisschen Angeberei, was einer alles so weiß über die Größen der Gesellschaft. Ein paar auserlesene Geschmacklosigkeiten etwa zum Liebesleiden Theodor W. Adornos fehlen auch nicht. Manchmal kommt der Erzähler dem Leser vor wie die Quasselstrippe von nebenan, die zu jedem Thema ein Anekdötchen aus der Familiengeschichte parat hat.
Bezaubernd aber ist die unverbrüchliche Solidarität, die Kluge mit dem eigensinnigen Kind in sich und anderen hegt, und die eloquente Empörung darüber, mit welcher Härte es im kürzesten Märchen der Brüder Grimm bestraft wird, obwohl der Eigensinn doch in Deutschland gar keine ausgeprägte Eigenschaft ist. Es ein Lebensthema Kluges, wie sich die lebendige Arbeitskraft über Trennungen herstellt. Schon die Volksmärchen erzählen davon, dass ohne gelungene Trennungen niemand ein tüchtiger Erwachsener wird. Für jedes menschliche Arbeitsvermögen gibt es eine Episode in den Märchen der Völker. Trennungsenergien resultieren einerseits aus dem Mangel und der Verlusterfahrung, womit die meisten Märchen ja beginnen, und andererseits aus der Fähigkeit, darauf angemessen zu antworten. Ohne Trennungen entstehen unrealistische Wesen mit "dem kalten Blick der Vielgeliebten", ähnlich dem "verwöhnten Helden Siegfried" oder "Menschmaschinen". Herzenskälte ist für Kluge die unerträglichste menschliche Eigenschaft, die für einen großen Teil der Schrecklichkeiten des zwanzigsten Jahrhunderts verantwortlich ist.
Kluge ist mehr denn je gewitzter Muntermacher, der die Möglichkeiten des Dazulernens so optimistisch und warmherzig darlegt wie kein anderer. Erzählen ist bei ihm immer auch "Küche des Glücks", Wiederverwertung der Reste, Umschreiben des Alten zu einem besseren Ende. Unermüdlich sucht er dabei nach praktikablen Gleichgewichtsmodellen, die er notfalls mit selbsterfundener Statistik beglaubigt. Obwohl bekanntlich in Gefahr der Mittelweg der Tod ist, hegt er eine Vorliebe für die Relation fünfzig zu fünfzig. Denn wer neunzig Prozent seiner Energien für das bloße Funktionieren aufwendet und nur zehn für die lebendige Produktion, der wird sich früher oder später umbringen.
Vielleicht war das auch bei Heinrich von Kleists Kampf um seine "Berliner Abendblätter" so. Mit dem Plan, "den sicheren Weg des Glücks" auf der mittleren Höhe der Landschaft des Lebens zu finden, scheiterte er trotz seiner wunderbaren erzählerischen Fähigkeiten und seiner Vorliebe für die lebenspraktische Anekdote. "Der Versuch der linearen Konzentration zerriss ihn." Er konnte schließlich kein Gleichgewicht finden zwischen dem, was das Individuum der Gesellschaft und der Tradition verdankt und schuldet und was sich selbst.
Das Prinzip der Linearität des Erzählens durchbricht Alexander Kluge auf vielfältige Weise. Das Wiederfinden der Produktionsverhältnisse auf der subjektiven Seite verlangt nach einer Methode, die den Eigensinn und die Widersprüche hervortreibt, um von dort aus zu einer "robusten und brauchbaren Praxis" zu gelangen. Diese Erzählweise nennt Kluge konstellativ, sie ist auf die Glättung von Widersprüchen nicht verpflichtet. Dazu gehören auch die Bilder mit ihren schlaglichtartigen Legenden.
In der Reflexion seiner Geschichten führt Kluge Erkenntnisse aus Philosophie, Soziologie und Psychologie auf ihre Ursprünge in der Lehre vom richtigen Leben zurück. In der poetischen Aufklärung der "Prinzessin von Clèves" findet er den kategorischen Imperativ der Beziehungsarbeit: "Du sollst Achtung haben vor der Wildheit, dem Eigensinn, der Genauigkeit deiner Empfindungen." Aus der Selbstachtung muss die Zuverlässigkeit gebildet werden, sie beruht wiederum auf einer klaren Trennung, soll aber gleichwohl in zwei Welten gleichermaßen gelten. In gesellschaftlichen Vertragsverhältnissen und Regulierungen wie in einer Welt, die jedem selbst gehört. "Du darfst aber in keiner der Welten unehrlich sein, Abstriche oder Kompromisse machen." Und doch sollen die Kinder für Lügen nicht bestraft werden, sie gehören selbst zum Lernprozess, der freilich tödlich enden kann, wenn die Einsicht zu spät kommt, wie bei Lady Di. Dann greifen die seelischen Kräfte nach den ältesten Bildern, die sie durch jedes Kostüm wiedererkennen: "wie eine Kerze im Wind".
Was Sieburg an Kluges Debüt schrecklich großartig fand, war auch die juristische Härte des Stils vergleichbar dem so genannten Kanzleistil von Kleists Erzählungen und Anekdoten, der sich im Munde wunderbarer Frauenfiguren plötzlich und doch wie organisch in die herzrührende Schreibart verwandeln konnte. Etwas Juristisches ist in Kluges Behandlung von Lebensfällen immer noch vorhanden, aber nun warm eingepackt in die Sprache der Liebe. Dieser "Eckband" von Alexander Kluges Lebenswerk ist eine große Wundertüte für ehemalige eigensinnige Kinder, deren Träume von einer besseren Welt nicht in Erfüllung gegangen sind. Und das müssten doch, nicht nur statistisch betrachtet, ziemlich viele sein.
FRIEDMAR APEL
Alexander Kluge: "Das fünfte Buch". Neue Lebensläufe.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 576 S., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.02.2012Die Wirklichkeit ergänzen
Es gilt das Gesetz des Vermischten: In „Das fünfte Buch“ erkundet Alexander Kluge Wendepunkte in Lebensbahnen
Eine nur siebzehn Zeilen umfassende Geschichte in Alexander Kluges „Fünftem Buch“ trägt den Titel „Wie ich Thomas Manns Villa umschlich“. Sie handelt davon, wie der Autor in den frühen 1950er Jahren als junger Mann mit seiner Schwester per Anhalter in die Schweiz fährt, in Zürich das Haus Thomas Manns aufsucht und betrachtet, während seine Schwester an der Straßenecke wartet „wie die Gefährtin eines Verbrechers, die Wache hält“. Weil der junge Mann weiß, wie sorgfältig der große Autor seine Tages- und Lebenszeit verwaltet, erwartet er nicht, dass er mit einem Unbekannten auch nur einige Minuten teilen würde. Er wagt nicht, an der Haustür zu klingeln. So steht im Mittelpunkt der kleinen Geschichte eine nicht gehaltene kurze Vorstellungsrede: „Ich bin mit Erfolg geprüfter Rechtskandidat, bereite mich auf den Referendardienst in der Justizverwaltung des Landes Hessen vor, möchte Dichter werden und erbitte Ihre Ratschläge. Ihre Werke und die von Thornton Wilder habe ich in der Bibliothek des Amerikahauses in Marburg/Lahn vollständig gelesen. Gern würde ich wie Sie schreiben. Versuche haben ergeben, daß mir das nicht gelingt. Meist werden die Texte kürzer.“
Inzwischen ist Alexander Kluge selber ein großer Autor geworden, hat viele Bücher und Filme gemacht, große und kleine, und es ist hinlänglich klar geworden, was der Satz „Meist werden die Texte kürzer“ meinte: Ich schreibe keine Romane. Auch was er stattdessen schreibt, ist hinlänglich klar: Er schreibt Geschichten. Eine der Geschichten, sie erschien in dem Band „Lernprozesse mit tödlichem Ausgang“ (1973), hieß „Massensterben in Venedig“, war im drückenden Sommer 1969 angesiedelt, handelte von einer Hungerkrise mit anschließender gewaltsamer Rebellion im Altersheim San Lorenzo und benötigte für die weit über hundert Toten, die sie produzierte, nur wenig mehr als drei Druckseiten. Das musste auch deshalb auffallen, weil ihr Titel so demonstrativ den der sehr viel längeren Novelle „Tod in Venedig“ von Thomas Mann zitierte, in der trotz epidemischen Wütens der Cholera der Tod im Singular, der Tod eines großen Künstlers im Mittelpunkt stand.
Der Berichterstatterton mit eingearbeitetem Zeitungsinterview tat ein Übriges, um jeden, der das mit sich machen ließ, glauben zu machen, hier werde der Aufstand des Dokumentarischen gegen die Fiktionen geprobt und das Zeitalter des bürgerlichen Individualismus polemisch verabschiedet. „Was ist ein epischer Roman gegen die Entwicklung des Ruhrgebiets im Verlauf vieler Generationen, gegenüber dem Aufstieg und Untergang ganzer Industrien, gegenüber den Geschicken der Stadt Bitterfeld?“ So fragte Kluge selbst Ende November 1993 in seiner Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis, die jetzt in dem schmalen, reichhaltigen Wagenbach-Bändchen „Personen und Reden“ nachzulesen ist, das zu seinem achtzigsten Geburtstag erschienen ist und von der Rede zum Lessing-Preis über die Schiller-, Ricarda-Huch- und Adorno-Reden bis zu den Trauerreden auf Heiner Müller, Günter Gaus, Rudolf Augstein sowie dem Bericht über die Beerdigung von Christoph Schlingensief lauter Porträts versammelt, die zugleich Selbstauskünfte sind. Aufstieg und Untergang ganzer Industrien, das Schicksal der Stadt Bitterfeld in DDR und Wendezeit – wer ist dafür zuständig, seitdem der Roman des 19. Jahrhunderts abgedankt hat? Die Zeitgeschichte.
Nicht erst, seit Kluge aus Bildern, Dokumenten und Zeugenaussagen in seinem großen Text „Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945“ (1977) die Zerstörung seiner Heimatstadt rekonstruiert hat, teilen die Geschichten, die er erzählt, ihre Stoffe mit der Zeitgeschichte. Aber er ist ihr großer Rivale, nicht ihr Lehrling. Er muss früh begriffen haben, was er in der Böll-Rede en passant formulierte: dass die Zeitgeschichte seit dem 20. Jahrhundert „die Instanz ist, die die Fiktionen herstellt“. Die Zeitgeschichte hat Anteil am großen Singular, der alle Geschichten und alle Quellen in die Geschichte einmünden lässt. Kluges Geschichten kennen nur den Plural, sie treten im Schwarm auf, fallen einander ins Wort, überkreuzen sich und bestehen ebenso sehr im Auflösen wie im Herstellen von Zusammenhängen, gehen aus der Tagesarbeit wie aus der Nachtarbeit Penelopes hervor. Wenn man den großen Singular der modernen Geschichtsschreibung auflöst, kehren die Chroniken, Anekdoten und Kalender wieder, mit Wind und Wetter, Markttagen, Sonnenauf- und Sonnenuntergang.
„Was macht ein literarischer Autor? Er hat in der Kinderzeit Geschichten gehört.“ Was wird er als erstes gehört haben? Geschichten aus der Verwandtschaft, von Nachbarn, Durchgereisten. Und er behält sie, unabhängig davon, ob er sie verstanden hat. Was er nicht verstanden hat, dem geht er nach. So ist es bis heute geblieben, wenn nun „Das fünfte Buch“ den Untertitel trägt: „Neue Lebensläufe. 402 Geschichten.“ Das Nachverfolgen von Lebensläufen ist nicht nur in diesem Buch das wichtigste Format des Geschichtenerzählers Kluge. Er überführt sie nicht in zu Ende erzählte Biographien, sondern in ein Mosaik punktueller Beobachtungen von Wendpunkten, an denen ein Leben entgleist, wieder auf die Bahn gerät oder sich im Ungefähren verliert.
„Nachrichten und Zeitgeschichte sind nicht nur sachlich“, heißt es in der Böll-Rede, lapidar im „Fünften Buch“: „Die Geschichten sind teils erfunden, teils nicht erfunden.“ Was das heißt, erfährt man zum Beispiel in der nicht sehr dokumentarischen Geschichte: „Nahe Begegnung zwischen Karl May und Lord Curzon“. Darin begegnet Karl May, der sich in sein Studierzimmer in Radebeul zurücksehnt, im Jahre 1899 in einem Hotelpalast im Süden Persiens dem berühmten Lord, der später ein Grenzzieher im Nahen Osten und in Osteuropa werden wird, und überreicht ihm eine Visitenkarte, auf die er unter den Namen Dr. h.c. Karl May in Handschrift den Titel „Hammurabiforscher“ gesetzt hat. In Klammern fügt Kluge hinzu: „ein Stück Hochstapelei steckte diesem Mann von seiner Herkunft aus dem Eulengebirge her im Blute.“ Das gilt, mit Verlaub, nicht nur für Karl May. Es gilt auch für Kluge selbst, wenn Hochstapeln heißt: die Wirklichkeit ergänzen. So kommt es im „Fünften Buch“ zu einem Abendessen zwischen Niklas Luhmann, der gerade in Frankfurt am Main sein Seminar über „Liebe als Passion“ gibt, und dem liebeskranken Theodor W. Adorno, den er in diesem Wintersemester 1968/69 vertritt, und zu einem denkwürdigen Auftritt einer in London ansässigen deutschen Ausgewanderten bei einem dortigen Auftritt des Buchautors Thilo Sarrazin.
In keinem anderen Buch Alexander Kluges treten in dem weitläufigen Gewebe der Lebensläufe die Momentaufnahmen aus der eigenen Biographie und der näheren und ferneren Familiengeschichte so sehr als roter Faden hervor wie in diesem „Fünften Buch“. In der Geschichte „Entschluß eines aufgeregten Junitages“ verschafft nicht die Macht des Schicksals, sondern des Zufalls dem Gerichtsreferendar Kluge zwischen 14 Uhr und Dienstschluss die Möglichkeit, zum Autor zu werden. Vom Porträt der Nachhilfelehrerin, die den Jungen in Latein unterweist, über die Scheidungsgeschichte der Eltern bis weit hinab in die Napoleonische Ära, wo eine Vorfahrin in die unmittelbare Nachbarschaft der Flüchtlingsgeschichten aus Goethes „Hermann und Dorothea“ gerät. Ihre Linie wird sich später mit den Vorfahren aus dem Eulengebirge und denen aus dem Südharz vereinigen, ehe dann die Zuflüsse aus Mittelengland und der Mark Brandenburg hinzustoßen. Je länger man Lebensläufe verfolgt, und je neugieriger man ihren Verzweigungen nachgeht, desto unvermeidlicher verlässt man die Regionen der Zeitgeschichte und landet im Alten Reich, im Alten Europa. Der „Fluß der Gene“ der Familiengeschichte Kluges führt vom alten Europa in die Jetztzeit. Die „Lebensläufe“ sind nicht zuletzt ein Akt der Wiederaneignung der von den Nationalsozialisten instrumentalisierten Ahnenforschung. Sie machen sie zum Medium der Aufklärung. Der Aufklärung eines Mannes mit Vorfahren im Eulengebirge.
In dem sorgfältig aus Originaltexten und Kommentaren komponierten „Text und Kritik“-Band, der nun das ältere Alexander-Kluge-Heft ergänzt, deutet Gunther Martens im Blick auf die Neigung zu Zahlen, zur Montage von Wissenspartikeln und zum Wuchern der Verweise die Chroniken und Lebensläufe Kluges als eigenwillige Wiedergänger der enzyklopädischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Daher komme es, dass sich Kluges Bücher wie Lexika und Wörterbücher „eher fürs Blättern als für die kontemplative Lektüre eignen“. Es gibt aber noch ein anderes, dem Durchblättern zugewandtes Medium, dem Kluges Bücher ähneln: die Zeitung. So begegnet der Leser in diesem „Fünften Buch“ allenthalben Wiedergängern seiner Zeitungslektüre: dem toten Osama bin Laden auf einem Bild, das man nicht sieht, Dominique Strauss-Kahn, wie er unrasiert abgeführt wird, türkischen Diplomaten, die gegen die Nato-Operationen in Libyen opponieren, und Unterhändlern, die über die Rettung des verschuldeten Griechenland verhandeln, den Bankrotteuren von Lehman Brothers und chinesischen Ingenieuren, die in Bremen die Vulkanwerft abbauen.
Aber auch für sie gilt das Gesetz des „Vermischten“ in Kluges Zeitung: aktuell ist die Berührung der jüngsten Nachricht mit den ältesten Quellen, das Nebeneinander aktueller Erdbeben- und Katastrophenforschung und antiker Mythologie. Und das, was vom Interesse des Redakteurs berührt und dadurch elektrisch aufgeladen wird: So ist der Abschnitt „Menschenfeindliche Kälte“ ein Epitaph für Adorno, der Abschnitt „Die Küche des Glücks“, der vom „Tausendfüßler Liebe“ handelt, ein Epitaph für Niklas Luhmann. Wie gesagt, dies ist ein Buch zum Blättern: eine Weltzeitung, aus der sich ein Selbstporträt ihres Herausgebers und einzigen Autors herausschnippeln lässt.
LOTHAR MÜLLER
ALEXANDER KLUGE: Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe. 402 Geschichten. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 564 Seiten, 34,95 Euro.
ALEXANDER KLUGE: Personen und Reden. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012. 144 Seiten, 15,90 Euro.
HEINZ LUDWIG ARNOLD (Hrsg.): Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. Heft 85/86: Alexander Kluge. Neufassung. München 2011. 156 S., 26 Euro.
„Die Geschichten sind
teils erfunden,
teils nicht erfunden“
Allenthalben begegnet
der Leser Wiedergängern seiner
Zeitungslektüre
Bilder aus dem „Fünften Buch“: Ur-Szene eines Großkinos – der Globe Tower in Coney Island (links), Alexander Kluge (oben) acht Tage nach einem Sturz in Princeton; darunter das Sternbild des Nilpferds. Unten: Vermehrfachung der Augen; das von Daedalus für Königin Pasiphaë gebaute Gestell in Gestalt einer Kuh und ein Elefant, aufgestellt unter einem Mastodon. Abb. aus dem besprochenen Band
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Es gilt das Gesetz des Vermischten: In „Das fünfte Buch“ erkundet Alexander Kluge Wendepunkte in Lebensbahnen
Eine nur siebzehn Zeilen umfassende Geschichte in Alexander Kluges „Fünftem Buch“ trägt den Titel „Wie ich Thomas Manns Villa umschlich“. Sie handelt davon, wie der Autor in den frühen 1950er Jahren als junger Mann mit seiner Schwester per Anhalter in die Schweiz fährt, in Zürich das Haus Thomas Manns aufsucht und betrachtet, während seine Schwester an der Straßenecke wartet „wie die Gefährtin eines Verbrechers, die Wache hält“. Weil der junge Mann weiß, wie sorgfältig der große Autor seine Tages- und Lebenszeit verwaltet, erwartet er nicht, dass er mit einem Unbekannten auch nur einige Minuten teilen würde. Er wagt nicht, an der Haustür zu klingeln. So steht im Mittelpunkt der kleinen Geschichte eine nicht gehaltene kurze Vorstellungsrede: „Ich bin mit Erfolg geprüfter Rechtskandidat, bereite mich auf den Referendardienst in der Justizverwaltung des Landes Hessen vor, möchte Dichter werden und erbitte Ihre Ratschläge. Ihre Werke und die von Thornton Wilder habe ich in der Bibliothek des Amerikahauses in Marburg/Lahn vollständig gelesen. Gern würde ich wie Sie schreiben. Versuche haben ergeben, daß mir das nicht gelingt. Meist werden die Texte kürzer.“
Inzwischen ist Alexander Kluge selber ein großer Autor geworden, hat viele Bücher und Filme gemacht, große und kleine, und es ist hinlänglich klar geworden, was der Satz „Meist werden die Texte kürzer“ meinte: Ich schreibe keine Romane. Auch was er stattdessen schreibt, ist hinlänglich klar: Er schreibt Geschichten. Eine der Geschichten, sie erschien in dem Band „Lernprozesse mit tödlichem Ausgang“ (1973), hieß „Massensterben in Venedig“, war im drückenden Sommer 1969 angesiedelt, handelte von einer Hungerkrise mit anschließender gewaltsamer Rebellion im Altersheim San Lorenzo und benötigte für die weit über hundert Toten, die sie produzierte, nur wenig mehr als drei Druckseiten. Das musste auch deshalb auffallen, weil ihr Titel so demonstrativ den der sehr viel längeren Novelle „Tod in Venedig“ von Thomas Mann zitierte, in der trotz epidemischen Wütens der Cholera der Tod im Singular, der Tod eines großen Künstlers im Mittelpunkt stand.
Der Berichterstatterton mit eingearbeitetem Zeitungsinterview tat ein Übriges, um jeden, der das mit sich machen ließ, glauben zu machen, hier werde der Aufstand des Dokumentarischen gegen die Fiktionen geprobt und das Zeitalter des bürgerlichen Individualismus polemisch verabschiedet. „Was ist ein epischer Roman gegen die Entwicklung des Ruhrgebiets im Verlauf vieler Generationen, gegenüber dem Aufstieg und Untergang ganzer Industrien, gegenüber den Geschicken der Stadt Bitterfeld?“ So fragte Kluge selbst Ende November 1993 in seiner Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis, die jetzt in dem schmalen, reichhaltigen Wagenbach-Bändchen „Personen und Reden“ nachzulesen ist, das zu seinem achtzigsten Geburtstag erschienen ist und von der Rede zum Lessing-Preis über die Schiller-, Ricarda-Huch- und Adorno-Reden bis zu den Trauerreden auf Heiner Müller, Günter Gaus, Rudolf Augstein sowie dem Bericht über die Beerdigung von Christoph Schlingensief lauter Porträts versammelt, die zugleich Selbstauskünfte sind. Aufstieg und Untergang ganzer Industrien, das Schicksal der Stadt Bitterfeld in DDR und Wendezeit – wer ist dafür zuständig, seitdem der Roman des 19. Jahrhunderts abgedankt hat? Die Zeitgeschichte.
Nicht erst, seit Kluge aus Bildern, Dokumenten und Zeugenaussagen in seinem großen Text „Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945“ (1977) die Zerstörung seiner Heimatstadt rekonstruiert hat, teilen die Geschichten, die er erzählt, ihre Stoffe mit der Zeitgeschichte. Aber er ist ihr großer Rivale, nicht ihr Lehrling. Er muss früh begriffen haben, was er in der Böll-Rede en passant formulierte: dass die Zeitgeschichte seit dem 20. Jahrhundert „die Instanz ist, die die Fiktionen herstellt“. Die Zeitgeschichte hat Anteil am großen Singular, der alle Geschichten und alle Quellen in die Geschichte einmünden lässt. Kluges Geschichten kennen nur den Plural, sie treten im Schwarm auf, fallen einander ins Wort, überkreuzen sich und bestehen ebenso sehr im Auflösen wie im Herstellen von Zusammenhängen, gehen aus der Tagesarbeit wie aus der Nachtarbeit Penelopes hervor. Wenn man den großen Singular der modernen Geschichtsschreibung auflöst, kehren die Chroniken, Anekdoten und Kalender wieder, mit Wind und Wetter, Markttagen, Sonnenauf- und Sonnenuntergang.
„Was macht ein literarischer Autor? Er hat in der Kinderzeit Geschichten gehört.“ Was wird er als erstes gehört haben? Geschichten aus der Verwandtschaft, von Nachbarn, Durchgereisten. Und er behält sie, unabhängig davon, ob er sie verstanden hat. Was er nicht verstanden hat, dem geht er nach. So ist es bis heute geblieben, wenn nun „Das fünfte Buch“ den Untertitel trägt: „Neue Lebensläufe. 402 Geschichten.“ Das Nachverfolgen von Lebensläufen ist nicht nur in diesem Buch das wichtigste Format des Geschichtenerzählers Kluge. Er überführt sie nicht in zu Ende erzählte Biographien, sondern in ein Mosaik punktueller Beobachtungen von Wendpunkten, an denen ein Leben entgleist, wieder auf die Bahn gerät oder sich im Ungefähren verliert.
„Nachrichten und Zeitgeschichte sind nicht nur sachlich“, heißt es in der Böll-Rede, lapidar im „Fünften Buch“: „Die Geschichten sind teils erfunden, teils nicht erfunden.“ Was das heißt, erfährt man zum Beispiel in der nicht sehr dokumentarischen Geschichte: „Nahe Begegnung zwischen Karl May und Lord Curzon“. Darin begegnet Karl May, der sich in sein Studierzimmer in Radebeul zurücksehnt, im Jahre 1899 in einem Hotelpalast im Süden Persiens dem berühmten Lord, der später ein Grenzzieher im Nahen Osten und in Osteuropa werden wird, und überreicht ihm eine Visitenkarte, auf die er unter den Namen Dr. h.c. Karl May in Handschrift den Titel „Hammurabiforscher“ gesetzt hat. In Klammern fügt Kluge hinzu: „ein Stück Hochstapelei steckte diesem Mann von seiner Herkunft aus dem Eulengebirge her im Blute.“ Das gilt, mit Verlaub, nicht nur für Karl May. Es gilt auch für Kluge selbst, wenn Hochstapeln heißt: die Wirklichkeit ergänzen. So kommt es im „Fünften Buch“ zu einem Abendessen zwischen Niklas Luhmann, der gerade in Frankfurt am Main sein Seminar über „Liebe als Passion“ gibt, und dem liebeskranken Theodor W. Adorno, den er in diesem Wintersemester 1968/69 vertritt, und zu einem denkwürdigen Auftritt einer in London ansässigen deutschen Ausgewanderten bei einem dortigen Auftritt des Buchautors Thilo Sarrazin.
In keinem anderen Buch Alexander Kluges treten in dem weitläufigen Gewebe der Lebensläufe die Momentaufnahmen aus der eigenen Biographie und der näheren und ferneren Familiengeschichte so sehr als roter Faden hervor wie in diesem „Fünften Buch“. In der Geschichte „Entschluß eines aufgeregten Junitages“ verschafft nicht die Macht des Schicksals, sondern des Zufalls dem Gerichtsreferendar Kluge zwischen 14 Uhr und Dienstschluss die Möglichkeit, zum Autor zu werden. Vom Porträt der Nachhilfelehrerin, die den Jungen in Latein unterweist, über die Scheidungsgeschichte der Eltern bis weit hinab in die Napoleonische Ära, wo eine Vorfahrin in die unmittelbare Nachbarschaft der Flüchtlingsgeschichten aus Goethes „Hermann und Dorothea“ gerät. Ihre Linie wird sich später mit den Vorfahren aus dem Eulengebirge und denen aus dem Südharz vereinigen, ehe dann die Zuflüsse aus Mittelengland und der Mark Brandenburg hinzustoßen. Je länger man Lebensläufe verfolgt, und je neugieriger man ihren Verzweigungen nachgeht, desto unvermeidlicher verlässt man die Regionen der Zeitgeschichte und landet im Alten Reich, im Alten Europa. Der „Fluß der Gene“ der Familiengeschichte Kluges führt vom alten Europa in die Jetztzeit. Die „Lebensläufe“ sind nicht zuletzt ein Akt der Wiederaneignung der von den Nationalsozialisten instrumentalisierten Ahnenforschung. Sie machen sie zum Medium der Aufklärung. Der Aufklärung eines Mannes mit Vorfahren im Eulengebirge.
In dem sorgfältig aus Originaltexten und Kommentaren komponierten „Text und Kritik“-Band, der nun das ältere Alexander-Kluge-Heft ergänzt, deutet Gunther Martens im Blick auf die Neigung zu Zahlen, zur Montage von Wissenspartikeln und zum Wuchern der Verweise die Chroniken und Lebensläufe Kluges als eigenwillige Wiedergänger der enzyklopädischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Daher komme es, dass sich Kluges Bücher wie Lexika und Wörterbücher „eher fürs Blättern als für die kontemplative Lektüre eignen“. Es gibt aber noch ein anderes, dem Durchblättern zugewandtes Medium, dem Kluges Bücher ähneln: die Zeitung. So begegnet der Leser in diesem „Fünften Buch“ allenthalben Wiedergängern seiner Zeitungslektüre: dem toten Osama bin Laden auf einem Bild, das man nicht sieht, Dominique Strauss-Kahn, wie er unrasiert abgeführt wird, türkischen Diplomaten, die gegen die Nato-Operationen in Libyen opponieren, und Unterhändlern, die über die Rettung des verschuldeten Griechenland verhandeln, den Bankrotteuren von Lehman Brothers und chinesischen Ingenieuren, die in Bremen die Vulkanwerft abbauen.
Aber auch für sie gilt das Gesetz des „Vermischten“ in Kluges Zeitung: aktuell ist die Berührung der jüngsten Nachricht mit den ältesten Quellen, das Nebeneinander aktueller Erdbeben- und Katastrophenforschung und antiker Mythologie. Und das, was vom Interesse des Redakteurs berührt und dadurch elektrisch aufgeladen wird: So ist der Abschnitt „Menschenfeindliche Kälte“ ein Epitaph für Adorno, der Abschnitt „Die Küche des Glücks“, der vom „Tausendfüßler Liebe“ handelt, ein Epitaph für Niklas Luhmann. Wie gesagt, dies ist ein Buch zum Blättern: eine Weltzeitung, aus der sich ein Selbstporträt ihres Herausgebers und einzigen Autors herausschnippeln lässt.
LOTHAR MÜLLER
ALEXANDER KLUGE: Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe. 402 Geschichten. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 564 Seiten, 34,95 Euro.
ALEXANDER KLUGE: Personen und Reden. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012. 144 Seiten, 15,90 Euro.
HEINZ LUDWIG ARNOLD (Hrsg.): Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. Heft 85/86: Alexander Kluge. Neufassung. München 2011. 156 S., 26 Euro.
„Die Geschichten sind
teils erfunden,
teils nicht erfunden“
Allenthalben begegnet
der Leser Wiedergängern seiner
Zeitungslektüre
Bilder aus dem „Fünften Buch“: Ur-Szene eines Großkinos – der Globe Tower in Coney Island (links), Alexander Kluge (oben) acht Tage nach einem Sturz in Princeton; darunter das Sternbild des Nilpferds. Unten: Vermehrfachung der Augen; das von Daedalus für Königin Pasiphaë gebaute Gestell in Gestalt einer Kuh und ein Elefant, aufgestellt unter einem Mastodon. Abb. aus dem besprochenen Band
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Roman Bucheli gratuliert Alexander Kluge, dem "Schamanen des freiheitlichen Denkens" und der "freien Rede" zum 80. Um Kluges Ausnahmestellung innerhalb der deutschen Nachkriegsliteratur zu illustrieren, bedient Bucheli sich eines soeben erschienenen weiteren Bandes aus Kluges "Lebensläufen". In den rund 400 enthaltenen Geschichten erweist sich der Autor für Bucheli einmal mehr als findiger Sammler und Jäger von Daseinsspuren auf der Rückseite der Geschichte. Was er am meisten bewundert kann Bucheli nicht sagen, vielleicht ist es Kluges Fähigkeit, das Gefundene auf knappstem Raum und auf sanfte und empathische Weise zum Sprechen zu bringen und Zeitläufe verstehbar zu machen, die Verbindung herzustellen zwischen dem Jetzt und seiner Vorzeit. Dass Kluge bei seinen Erkundungen zwischen Erstem Weltkrieg und Fukushima weniger deutet als moderiert, scheint Bucheli ein sehr vielversprechender, den Leser beglückender Ansatz zu sein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Immer sind es Zeugnisse von Verletzungen, wie sie entstehen, wenn der einzelne auf die Härte der Verhältnisse trifft. Darin bleibt Kluge seinem bekannten aufklärerischen Gestus treu: Literatur so zu gestalten, dass man aus ihr lernen kann. So altmodisch dieses Programm auch sein mag, es hat nichts von seiner klassischen Wucht eingebüßt.« Edelgard Abenstein Deutschlandfunk Kultur 20120305
»Der Leser erlebt ein beglückendes Gefühl wie beim Öffnen eines verstaubten Koffers mit alten Erinnerungsstücken. Er kann das Buch überall aufschlagen und hier und dort schmökern. Er kann von Geschichte zu Geschichte springen und so versuchen, sich die Welt anzueignen - nachdenklich und unterhaltsam.«