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Blicke im Rückspiegel: In David Grossmans neuen Novellen hält die Eifersucht Leib und Seele zusammen
Es muß auch mit der Sprache zu tun haben. David Grossman schreibt auf hebräisch, er ist einer der wichtigsten und international erfolgreichen Schriftsteller der israelischen Gegenwartsliteratur. Regelmäßig veröffentlicht er politische Kommentare. Grossman gehört zu den Intellektuellen Israels, die sich für die Aussöhnung in Nahost engagieren. Der Text der "Genfer Initiative", die Israelis wie Palästinenser mit den Argumenten der Vernunft in Zugzwang zu bringen versucht, wurde in Israel mit einem Vorwort von David Grossman verteilt - in einer Auflage von zwei Millionen. Um die besetzten Gebiete geht es in einigen seiner belletristischen Werke. Sein Land hat er einmal "ein Haus mit ungewissen Mauern" genannt. In einem Essay beschrieb er den schleichenden Niedergang der Sprache, die nicht die Wirklichkeit darstelle, sondern vielmehr darauf aus sei, diese zu kaschieren.
In seinem neuen Roman "Das Gedächtnis der Haut" gibt es keinerlei Zweifel an der Macht der Sprache. Es geht um Liebe und Eifersucht. Mit der schöpferischen Vielfalt seiner dichterischen Melodie zieht Grossman den Leser von den ersten Sätzen an in seinen Bann. Möglicherweise sind im Hebräischen andere Bilder, Beziehungen und Metaphern vorhanden. Jedenfalls beschreibt Grossman die Körperlichkeit und die Sinnlichkeit, das Begehren wie die Fremdheit in Sätzen, die den an deutsche oder französische Literatur gewöhnten Leser überraschen. Sein kraftvoller Stil ist so überraschend wie erfrischend. Die "Zunge wedelt in der Mundhöhle". Es herrscht "Hochwasser im Herzen". Im Bett sind die beiden Hauptfiguren "zwei fauchende, heulende Wölfe, die darum kämpfen, wer von beiden einen größeren Brocken vom Vergnügen abbekommt".
Der Roman, in dem David Grossman seiner Sprache der Liebe freien Lauf läßt, spielt in einem Auto. Es ist ein Volvo. Er fährt durch die Nacht. Am Steuer sitzt Esti. Im Fond liegt, verletzt und von Schmerzen gepeinigt, Schaul. Eigentlich sollte Micha, sein Bruder, Schaul fahren. Esti mußte einspringen - äußerst widerwillig. Sie und ihr Schwager können sich nicht ausstehen; seit Jahren gehen sie sich aus dem Weg. Vor zwei Tagen hat Esti Schaul, der ein anerkannter Professor ist, im Fernsehen gesehen. Er wurde als Experte zur Kürzung der finanziellen Mittel für die naturwissenschaftlichen Fächer in den Schulen befragt. Jetzt sind sie stundenlang in einem Auto miteinander eingeschlossen. Über ihren feindlichen Blickkontakt im Rückspiegel kommt die Geschichte in Gang. Schaul erzählt Esti, die über den "Instinkt eines Samenfadens" verfügt, auf dieser Fahrt nach und nach sein Leben - und von seiner Liebe.
Schaul ist seit einem Vierteljahrhundert mit Elischeva verheiratet. Sie liebt ihn, aber sie liebt auch noch einen anderen, den sie regelmäßig trifft. Daß Elischeva einen Geliebten hat, weiß Schaul, er kennt ihn; sie jedoch darf nicht wissen, daß er es weiß. In langen, fiebrig phantasierenden Monologen malt er sich ihre Zusammenkünfte aus. Die Konturen seiner Persönlichkeit sind so ungewiß wie die Grenzen Israels. Sein Nebenbuhler gleicht ihm immer mehr - und umgekehrt. Parallel zu seiner Auflösung während der Fahrt durch die Nacht, in der Schauls Leiden und Leidenschaft wie ein Film im Rückwärtsgang abgespult werden, lösen sich Raum und Zeit auf: "Und er fuhr mit der gleichen sonderbaren Stimme fort, abwechselnd angespannt und kraftlos, als treibe er auf einem endlosen inneren Strom, und Esti fuhr langsamer, und es schien ihr, daß der Volvo sich kaum von der Stelle rührte, daß sich nur die Hügel um sie herum träge zerdehnten, in der Dunkelheit vergingen und Ebenen wichen, die langsam in den Hintergrund gewalzt und von neuen Ebenen verschlungen wurden, und sie war sich nicht mehr sicher, ob Schaul nur die über Jahre in ihn hineingepreßte und von ihm gefangene Trauer bei ihr ablud oder ob hier etwas vollkommen anderes ablief, in verschlungenen Frequenzen, die ihr Gehirn nicht empfangen konnte, die jedoch ihr Gehirn bis zur Schmerzgrenze in Vibration versetzten."
Der Wagen gerät ins Schleudern, Schaul schreit auf - er hat gerade erzählt, daß sein Rivale aus Liebe zu Elischeva nicht geheiratet hat. Esti bremst, sie hatte sich in den Pedalen verheddert, und startet durch: Es ist nicht das einzige Mal, daß Grossman die Fahrt als Schrittmacher für die Erzählung braucht. Aber er setzt dieses Stilmittel mit streng kontrollierter Zurückhaltung ein. Seine Dramaturgie kennt viele Kunstgriffe. Noch auf Seite 135 weiß man nicht, wohin die Fahrt führen soll und warum Schaul verletzt ist.
Ein weiterer Höhepunkt ist die Pause in einem Restaurant. "Ausgiebig leert sie ihre Blase", doch auch dies bringt keine wirkliche Erleichterung. Von der Bar aus ruft Esti ihren Mann Micha an, der sich nicht meldet. Anschließend wählt sie die Handynummer Schauls, der im Auto geblieben ist und sich umgehend meldet: "Hallo". Esti legt auf - so werden Verbindungen gelöst und neue Beziehungen angedeutet. Auf mehreren Seiten spielt Grossman die Nummer mit dem anonymen Anruf aus nächster Nähe durch. Mit ausgeschalteten Scheinwerfern gelangen sie ans Ziel der Reise und sehen, was sie längst wissen. Am Ende der langen Fahrt hat der Dichter Schauls inneres Schlachtfeld der Eifersucht in jedem Winkel ausgemessen und vor dem Leser ausgebreitet. Schaul und Esti haben sich in ihrem Schlagabtausch der Gefühle verändert. Die Rückfahrt nimmt nur eine knappe Seite in Anspruch. "Sie zog ihn an sich und drückte ihn." Sie schweigen viele Kilometer lang. Dann beginnt ihr Gespräch in der anderen Richtung: "Esti", lautet der letzte Satz der Novelle mit dem Titel "Raserei", "nickte mehrmals langsam und nachdenklich und fragte sich, wo sie beginnen sollte."
In der zweiten der beiden Novellen, die David Grossman in diesem Band zusammengefaßt hat, erzählt er eine ganz andere Geschichte. Sie ist ebenfalls als Gesprächssituation angelegt und spielt am Sterbebett. Rotem, eine Schriftstellerin, liest ihrer Mutter Nilli eine Geschichte vor, die in ein Geheimnis ihres Lebens zielt: Nilli war Yogalehrerin und hatte ein Verhältnis mit einem fünfzehnjährigen Jungen, dem sie all die Liebe gewährte, welche die eigene Tochter nicht bekam. Hier geht es um begründete Eifersucht, während sich Schaul den Liebhaber seiner Frau nur eingebildet hatte. Diese Eifersucht wurde zum stärksten Element und Elixier seiner Existenz: Er hat sie buchstäblich wie eine Sucht gelebt. Von Nilli und Rotem, Mutter und Tochter, zeichnet Grossman ähnlich intuitive und intensive Porträts wie von Esti und Elischeva. Die Beschreibung von Schauls Ehefrau ist außerdem eine Ode auf die sexuelle Attraktivität fünfzigjähriger Frauen.
"Das Gedächtnis der Haut", der Titel der zweiten Erzählung, steht auf dem Buchumschlag - mit dem Zusatz: "Ein Roman". Von "zwei Novellen" ist erst in der Bibliographie die Rede: Sie hätten ebensogut einzeln publiziert werden können und stehen, obwohl sie inhaltlich nichts miteinander zu tun haben, in einem engen thematischen und formalen Zusammenhang. Es handelt sich um brillante Variationen eines ewigen menschlichen Motivs - und um eine Lektüre, die wieder einmal zeigt, daß ein Leben mit Lesen einfach lohnender ist.
David Grossman: "Das Gedächtnis der Haut". Zwei Novellen. Aus dem Hebräischen übersetzt von Verena Loos und Naomi Nir-Bleimling. Hanser Verlag, München 2004. 320 S., geb., 21,50 [Euro].
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"Grossmans Imaginationskraft verschlägt dem Leser die Sprache... Nur wenigen Autoren gelingt es, ihren Figuren mit einer solchen Empathie auf den Leib zu rücken." Elke Nicolini, Hamburger Abendblatt, 20./21.11.04
"Mit der schöpferischen Vielfalt seiner dichterischen Melodie zieht Grossman den Leser von den ersten Sätzen an in seinen Bann... Brillante Variationen eines ewigen menschlichen Motivs... eine Lektüre, die wieder einmal zeigt, daß ein Leben mit Lesen einfach lohnender ist." Jürg Altwegg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.11.04
"...stupende Einsichten in die menschliche Psyche... zeitgemäß fragmentiert und doch fesselnd..." Jörg Plath, Der Tagesspiegel, 24.11.04
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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