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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wie man lernt, einen Unbekannten zu bewundern: Richard Middletons Sammlung "Das Geisterschiff"
Beim Wandern am Rande der Kreidefelsen begegnet ein Mann einem Schäfer. Der fragt ihn, ob der Fremde nicht seinen Sohn gesehen habe, was der Wanderer bedauernd verneint. "Ein bisschen Leid ist kein Beinbruch", antwortet der Schäfer. Der Wanderer zieht weiter, und im nächsten Dorf, wo er übernachten will, erzählt ihm sein Wirt, dass der Schäfer jeden, dem er begegnet, nach seinem Sohn fragt. Dabei sei dieser Sohn schon vor Jahren gestorben, beim Versuch nämlich, die Schafherde vor dem Absturz vom Kreidefelsen zu bewahren. Ein bisschen sei das auch die Schuld des Vaters gewesen. Allerdings gebe es manche in der Umgebung, die den Sohn auch weiterhin bei den Schafen gesehen hätten, als gespenstischen, aber treuen Helfer seines Vaters.
So weit, so unheimlich, aber auch so mäßig inspiriert im Genre der Spukgeschichten. Doch die letzten Worte des Wirts wie des Textes überhaupt schlagen einen besonderen Ton an: "Ich habe selbst zwei Jungs, und ich finde, so ein Junge, der nichts isst, keinen Unsinn treibt und seine Arbeit macht, wäre unheimlich praktisch."
Richard Middleton, der Autor von "Der Sohn des Schäfers", ist jenseits des angelsächsischen Literaturraums fast unbekannt, sieht man von einer Spukgeschichte ab, die auch in Deutschland viel in den entsprechenden Anthologien publiziert worden ist, allen voran in Hanna Bautzes 1971 erstmals erschienenem Band "Das Wassergespenst von Harrowby Hall", einem Meilenstein des Genres. Jene Geschichte, "Auf der Landstraße von Brighton", erzählt von der Begegnung zweier Obdachloser, einem Mann und einem Knaben. Am Ende stellt sich heraus, dass der Knabe bereits mehrfach gestorben ist und trotzdem jeden Morgen aufs Neue aufsteht, um rastlos weiterzuwandern, ein Schicksal, dem auch sein Zufallsbekannter entgegensieht, der, so liest man zwischen den Zeilen, ebenfalls schon einmal unter den harten Bedingungen des Vagabundenlebens gestorben ist, ohne das zu bemerken.
Dass man nun diese bekannte Geschichte mit vielen bislang unbekannten in Beziehung setzen kann, ist das Verdienst der neuen Buchreihe "Steidl Nocturnes" und ihres Herausgebers Andreas Nohl, der den Eröffnungsband, Richard Middletons "Das Geisterschiff", auch übersetzt hat. Der Autor, geboren 1882 in Staines, einem kleinen Ort an der Themse in der Nähe von Heathrow, besuchte zwar Privatschulen, konnte aber nicht studieren und arbeitete bei einer Versicherung, bis er kündigte und als freier Schriftsteller lebte. "Die Armut mit all ihren Demütigungen wurde seine stete Begleiterin", schreibt der Herausgeber Nohl, "das Angewiesensein auf Zuwendungen von Freunden, erzwungene Wohnungswechsel, Hunger." Middleton publizierte in Zeitungen, schrieb Erzählungen, Gedichte und Essays, die erst nach seinem frühen Tod - er nahm sich 1911 mit 29 Jahren in Brüssel das Leben - gesammelt erschienen sind.
Prekäre Verhältnisse bilden den Hintergrund auch für viele Geschichten des vorliegenden Bandes. Geschildert werden sie aber oft aus der Perspektive von Kindern, am eindrucksvollsten wohl in "Der Vogel im Garten". Sie beginnt mit den Worten: "Der Raum, den die Burchell-Familie in der Love Street, im Südosten von London, bewohnte, lag im Keller und bekam Licht und Luft nur durch einen Gitterrost, der oben in den Gehsteig eingelassen war."
Damit ist die Bühne eröffnet, auf der sich die komplette Geschichte abspielen wird, einschließlich des ironischen Hinweises auf die "Love Street", deren Name auf den ersten Blick rein gar nichts mit der Familie Burchell zu tun hat, auf den zweiten dann aber schon. Dass jedenfalls eine Gruppe von Menschen, deren Zusammensetzung sich selbst für das dort lebende Kind Toby nicht vollständig erschließt, in dieser Enge, in diesem Mangel an Luft und Licht irgendwann einmal der latenten Aggressivität untereinander nicht mehr Herr wird, überrascht kaum. Ungewöhnlich ist aber Tobys Perspektive, die andere Akzente setzt, als dies der Autor einer Sozialreportage täte. Der Junge hält sich an den gutmütigen Onkel John, der einen winzigen Garten im Lichtschacht anlegt, er hält sich an das Baby, das von seinen Eltern wohl nicht weiter beachtet wird, und an die "neue junge Frau", die eines Tages in den Keller kommt, um nun auch dort zu wohnen, "keine finstere Person, sondern jemand, den man sehen und mit dem man reden konnte" - das Entsetzliche in dieser Beschreibung ist der Schluss, den man mit Blick auf die übrigen Kellerbewohner ziehen muss.
Erwünscht sind Kinder in Middletons Geschichten nicht oft, nicht der Junge in "Auf der Landstraße nach Brighton", nicht Toby und nicht die beiden Söhne des Wirts, die kindgerechten Unsinn treiben und gern satt werden möchten. Umgekehrt gibt der Autor ihrer Weltsicht eine Stimme, nicht zuletzt durch ein autobiographisch grundiertes Projekt, an dem Middleton bis zu seinem Tod arbeitete und das sich der Darstellung von Kindheit widmete - Teile davon erscheinen jetzt in "Das Geisterschiff" auf Deutsch.
Die Reihengestaltung von "Steidl Nocturnes" ist sorgfältig und schön, ohne damit die Bitternis der nüchtern erzählten Geschichten abzumildern. Die Anmerkungen erschließen den Text, ohne sich mit Materialfülle aufzudrängen, und das knappe Nachwort stellt sich in den Dienst der Sache.
Ermöglicht wird so die Begegnung mit einem ganz erstaunlichen Autor, der seinen Weg mit großer Entschiedenheit einschlug und dessen schmalem, stilbewusstem Werk man sofort abliest, dass von ihm noch einiges zu erwarten war, als er sich entschloss, sich von seiner "steten Begleiterin" zu trennen.
TILMAN SPRECKELSEN
Richard Middleton: "Das Geisterschiff". Dreizehn Stories.
Aus dem Englischen von Andreas Nohl. Steidl Verlag, Göttingen 2020. 128 S., geb., 18,- [Euro].
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