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Wege der Übertragung: Adam Kucharski zeigt, dass ein Verständnis epidemiologischer Zusammenhänge universell einsetzbar ist.
Von Sibylle Anderl
Auch wenn das Jahr noch nicht vorbei ist, kann man jetzt schon sagen: Es war nicht alles schlecht an 2020. Wann beispielsweise ist es sonst schon einmal vorgekommen, dass sich die Öffentlichkeit so gewissenhaft in ein wissenschaftliches Gebiet eingearbeitet hätte, das zuvor ein Schattendasein führte? Das Pandemiejahr hat auch dem letzten Mathematikverweigerer zumindest die Existenz numerischer Konstrukte wie der Reproduktionszahl, der 7-Tage-Inzidenz oder der Verdopplungszeit nahegebracht. Selten zuvor wurde derart emotional über die Eigenarten exponentiellen Wachstums diskutiert. Die Subtilitäten im Umgang mit Daten und Modellen sind plötzlich gesellschaftlich relevant geworden. Doch was wird aus all diesem epidemiologischen Wissen, wenn hoffentlich in naher Zukunft die Pandemie nicht mehr unseren Alltag bestimmen wird?
Der Mathematiker und Epidemiologe Adam Kucharski liefert auf diese Frage in seinem Buch "Das Gesetz der Ansteckung" eine aufbauende Antwort, indem er zeigt, wie universell einsetzbar ein Verständnis epidemiologischer Zusammenhänge ist. Wer die Verbreitung von Seuchen versteht, versteht demnach auch einiges von Finanzkrisen, Innovations- und Sozialdynamiken, von Informationsverbreitung in den sozialen Medien genauso wie von Computerviren. Das alles galt schon vor Corona, und auch wenn das Buch auf den ersten Blick wirkt, als gehörte es zur Klasse der pandemieverursachten Schnellproduktionen im Sachbuchsektor, wird beim Lesen rasch deutlich, dass es vor dem Aufkommen von Sars-CoV-2 geschrieben wurde - und darunter in keiner Weise leidet. Im Gegenteil ist es ein Vorteil, dass man an vielen Stellen das eigene, in den vergangenen Monaten erworbene Wissen über die aktuelle Pandemie als intellektuelle Übung passend ergänzen kann, ohne dass die Parallelen zwischen den Folgen des neuartigen Coronavirus und anderen Ansteckungsphänomenen explizit ausgeführt werden.
Woher die epidemiologischen Zusammenhänge ihre Universalität erlangen, zeigt Kucharski zu Beginn seines Buches unter Rückgriff auf den englischen Mediziner und Nobelpreisträger Ronald Ross, der Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Übertragung von Malaria erforschte und eine entscheidende Rolle für die Einführung mathematischer Methoden in die Seuchenforschung spielte. Ross hatte erkannt, dass die von ihm mit entwickelte mathematische Modellbildung eine Allgemeinheit besitzt, die es erlaubt, sie nicht nur auf Ansteckungen zu beziehen, sondern als Grundlage einer Ereignistheorie zu verstehen. Aus dieser Perspektive kann man nach Ross zwischen zwei verschiedenen Klassen von Ereignissen unterscheiden: zum einen diejenigen, die sich auf verschiedene Menschen unabhängig voneinander auswirken - beispielsweise das Eintreten einer nicht übertragbaren Krankheit -, und zum anderen diejenigen, deren Auftreten davon abhängt, wie viele andere Menschen gleichzeitig betroffen sind. Die Entwicklung von Infektionszahlen in einer ungebremsten Epidemie gehört offensichtlich zur zweiten Klasse, ist damit aber nur ein spezieller Fall eines allgemeinen Phänomens.
Seine Zusammenschau weiterer Beispiele dieses Ereignistyps beginnt Kucharski in der Finanzbranche, wo epidemiologische Konzepte unter anderem zur Analyse von Finanzblasen genutzt werden können. Deren Entwicklung zeigt ähnliche Phasen wie die eines Seuchenausbruchs: Auf einen Auslöser folgt eine massive Wachstumsphase, bis die Blase dann ihr Maximum erreicht und platzt. Kucharsky zeigt, dass man darüber hinaus die Vernetzung von Banken betrachten muss, um zu verstehen, wie sich Krisen über das gesamte Finanzsystem ausbreiten können. Eine Analyse der Krise von 2008 würde demnach ergeben, dass das damalige Bankennetzwerk ein massives Potential für Superspreading aufwies: Wenige anfällige Banken dominierten das Netzwerk. Die vorherrschende Diversifizierung von Investments und die daraus folgende Verwobenheit von Banken schuf gleichzeitig vielfache "Übertragungswege" der Krise.
Die Beschreibungen sozialer Ansteckungsmechanismen, die beispielsweise die Verbreitung von Fettleibigkeit, politischen Einstellungen oder Gewaltverbrechen steuern, lenken daraufhin den Fokus auf das Potential und die Grenzen von Modellen und die Generierung und Interpretation empirischer Daten - immer verschränkt mit historischen Beispielen der Seuchenforschung, aus denen Anregungen für den Versuch der Ausbruchskontrolle abgeleitet werden können. Die Aktualität der epidemiologischen Perspektive bringen aber insbesondere die Schlusskapitel zum Ausdruck. Am Beispiel der Ausbreitung irreführender Informationen in den sozialen Medien und schließlich der Anfälligkeit vernetzter elektronischer Geräte für Hackerangriffe wird deutlich, dass Ansteckungsphänomene auch jenseits von Pandemien maßgebliche Herausforderungen für unsere Gesellschaft darstellen werden. Die abschließende Überlegung, dass die umfassende Verfügbarkeit von Daten einerseits Lösungen für viele Probleme eröffnet, andererseits aber auch immer die Gefahr von Missbrauch beinhaltet, deckt sich dabei mit unseren aktuellen Erfahrungen im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie.
Kucharski behandelt all dies methodisch differenziert unter Rückgriff auf zahlreiche aktuelle wissenschaftliche Studien in lebendiger Mischung mit anekdotischen Schilderungen. Zuweilen verschleiern die damit einhergehenden Themensprünge etwas den argumentativen roten Faden. Die Vielfalt der eingenommenen Perspektiven und dargestellten Beispiele tröstet aber darüber hinweg. Es bleibt die beruhigende Erkenntnis, dass uns unser 2020 erworbenes Wissen auch zukünftig gute Dienste leisten wird, wenn es darum geht, Phänomene unserer vernetzten Welt zu verstehen.
Adam Kucharski: "Das Gesetz der Ansteckung". Was Pandemien, Börsencrashs und Fake News gemeinsam haben.
Aus dem Englischen von Karsten Petersen. Hirzel Verlag, Stuttgart 2020. 320 S., Abb., geb., 26,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
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