Ostberlin, Mitte der 1990er: Endlich ist Christina angekommen in der Stadt ihrer Träume. Berlin nach dem Mauerfall, das ist für die junge Amerikanerin die Verheißung, der Ort der unbegrenzten Möglichkeiten. Sie kann es kaum erwarten, die Geheimnisse dieser so lange verborgenen Stadt und ihrer Bewohner zu ergründen, und sie will dabei die abgelegenen Pfade betreten. Sie zieht in eine Hausgemeinschaft in einem ehemals besetzten Haus, wo die Lebenskünstlerin Meta einen Salon betreibt. Abend für Abend sitzen dort die früheren Hausbesetzer zusammen und diskutieren über die neugewonnene Freiheit, über die Abgründe des Kapitalismus und den untergehenden Sozialismus: die ehemalige Schauspielerin und Kadersozialistin Karla etwa, oder Wolfgang, der ehemalige Grenzsoldat, in den sich Christina verliebt. Für sie ist die junge Hausgemeinschaft die Verwirklichung einer sozialistischen Utopie, und sie saugt die Gespräche begierig auf. Doch als die rätselhafte, unnahbare Malerin Vera Grünberg in den obersten Stock einzieht, gerät die Utopie ins Wanken. Denn in Vera vermuten die anderen die mögliche Besitzerin des Hauses, geradezu obsessiv spürt Meta dem Gerücht nach, vor dem Krieg habe im Gartenhaus ein Wunderrabbi namens Grynberg gelebt. Und dann kommt es tatsächlich zu einem Wunder… "Isabel Fargo Cole pflegt einen elegischen, versonnenen Stil, der Seltenheitswert hat." Katrin Hillgruber, Deutschlandfunk Büchermarkt
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2019Grenzopfer zweiten Grades
Im Wunderwasserglas: Isabel Fargo Cole lässt eine Amerikanerin in Berlin die Zeit nach der Wende erkunden und ein System finden, das noch längst nicht tot ist.
Von Fridtjof Küchemann
Hätten sie nicht einfach sitzen bleiben können, wie in dieser Sommernacht irgendwann Mitte der Neunziger in diesem heruntergekommenen Gartenhaus irgendwo im Berliner Scheunenviertel? Hätten sie nicht einfach immer weiterreden können, wie Christina sie ein paar Tage zuvor ein erstes Mal hatte reden hören am Lagerfeuer in Polen - Meta über das Leben als Punkerin in der DDR, Thorsten vom Schwarzhandel mit Westplatten, Eva und Bruno übers Trampen durch Sibirien zu Sowjetzeiten? Die Gruppe, die Isabel Fargo Cole in ihrem zweiten Roman, "Das Gift der Biene", im Ost-Berlin der Nachwendejahre versammelt hat, bringt genug Spannung mit und genug Entspanntheit, genug Überzeugungen und ausreichend Unentschlossenheit, um sich aufs Schönste die Köpfe heiß zu reden: Wolfgang, der Bibliothekar, der es in Ostzeiten auf Westbücher und nun, in Westzeiten, auf Ostbücher abgesehen hat, Dora mit dem kleinen Modeladen, die arbeitslosen Russischlehrer und all die anderen.
Es hätte genügen können, was an jenem Abend schließlich auch genügt hatte, als Wolfgang Christina all den anderen vorgestellt hatte: zu sagen, woher seine neue Freundin kommt - "aus Amiland". "Elend" hatten sie bereits genannt, was Christina stets für Freiheit gehalten hatte, oder kühler "das System". Mit ihrer Erzählerin hat Isabel Fargo Cole, selbst in Illinois geboren und in den Neunzigern zum Studieren nach Berlin gekommen, einer pittoresken Schar eher orientierungsarmer Idealisten eine Verkörperung des Kapitalismus wider Willen ausgesetzt, diskussionswütigen Leuten, die zwar "damals" allesamt den Sozialismus abgelehnt hatten, inzwischen aber annahmen, er sei, weil zu gut für diese Welt, nur schlicht gescheitert.
Der Ansatz der Autorin passt in unsere Zeit: Dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer scheinen wir in unseren Erinnerungen und Bestandsaufnahmen so mit uns selbst beschäftigt, als wären wir damals allein gewesen. Als wäre, was damals wieder ineinander zu wachsen begann, nicht unter den Augen der Welt ineinandergewachsen oder aus der Nähe begleitet worden von teilnehmenden Beobachterinnen wie der amerikanischen Erzählerin in "Das Gift der Biene".
Doch die Autorin belässt es nicht dabei, ihre Figuren einander "ans Messer zu liefern", wie Christina selbst es nennt. Sie lässt ihre Leute reisen, einen malerischen Neuzugang das immer noch verfallene Gartenhaus unter den Blicken der Leute, die bis auf Meta in leidlichen Zuständen im renovierten Vorder- und Seitenhaus wohnen, auf den Kopf stellen. Isabel Fargo Cole kommt mit ausgeklügelten Leidensgeschichten und lässt ihre Leute gar in einem esoterischen Exkurs annehmen, ein Wunderrabbi habe einst in jenem Gartenhaus gelebt, und sein Wirken wirke nach. Kein Wunder, dass hier Gesichte sieht, wer nur tief genug ins Glas schaut. Freilich in ein Glas des leicht modrig riechenden Wassers, das nach Umbauarbeiten auf einmal aus der Außenwand zu tropfen beginnt.
Meta war in der DDR in die Geschlossene gekommen, in der schon die eigene Mutter Jahrzehnte zuvor ebenfalls als "asoziales Element" gesessen hatte. Die Mutter der neu zugezogenen Vera, in der Christina folgerichtig ein "Grenzopfer zweiten Grades" sieht, ist ein Republikflüchtling. Wolfgang hatte damals im Harz, an der grünen Grenze, den Befehl, auf Volksverräter wie sie zu schießen. Im Schlaf spricht er darüber bruchstückhaft, träumt davon, alle Tiere, die über die Grenze wechseln, abschießen zu müssen, "wenn ein dummes Reh es hinüberschafft, dann schafft es jeder, wo kämen wir da hin?" Wach dagegen geht er lieber, wenn es an ihm wäre zu erzählen, und bleibt jede Antwort schuldig. Einmal, im Winter, wandert er mit Christina am alten Grenzfluss, der Warmen Bode, entlang. Später ist sie es, die sich an nichts erinnern kann.
Immer wieder fallen Fargo Coles Schlaglichter auf das Thema Flucht, beharrlich stellt die Autorin heraus, auf welche Weise Flucht Teil der deutschen Geschichte und Teil so vieler deutscher Geschichten ist, lange vor der Flüchtlingskrise der vergangenen fünf Jahre. Ihre Kommilitonin Meta hat Christina in einem Seminar zur jüdischen Geistesgeschichte Berlins kennengelernt, später fährt die Freundin nach Israel, um Gespräche mit Holocaust-Überlebenden zu filmen, und kommt mit der Erkenntnis zurück, die Leute, die sie dort getroffen hat, sollten eigentlich ihre Nachbarn sein, alte Leutchen, wie man sie eher beim Bäcker und auf den Straßen Berlins trifft statt in Tel Aviv. Und noch etwas bringt Meta von ihrer Reise mit, während derer die Malerin Vera, Leipziger Schule, bei ihr unters Dach gezogen ist: den Entschluss, Kunst zu machen.
Das Bienengift aus dem Buchtitel bezieht sich nicht nur auf einen Notfall am Ende des Romans, der einen Todesfall überlagert, sondern auch auf mehr als zweihundert Jahre alte Zeilen des englischen Dichters und Malers William Blake: "The Poison of the Honey Bee / Is the Artist's Jealousy." Ein Künstlerroman also? Tatsächlich lässt Fargo Cole mit den ungleichen Künstlerinnen, der strengen, empfindlichen, zurückgezogenen Malerin Vera und der robusten Meta, die mit Hilfe des ganzen Hauses als erstes Werk eine sargähnliche Installation aus Bienenwachs schafft, auch noch zwei künstlerische Konzepte aufeinanderprallen, die sich in den sprechenden Namen ihrer Protagonistinnen spiegeln. Ausgetragen wird dieser Gegensatz freilich nicht.
"Damals bei uns machte das Suchenwollen wahnsinnig, weil es nur nach innen gehen konnte", sagt Meta einmal. In "Das Gift der Biene" suchen sie eher außen, in den anderen, im Wunderwasserglas. Isabel Fargo Coles Erzählerin bleibt auf Distanz, sie stellt sich nur einmal, weil sie sich stellen muss, bei ihrer Initiation, als Verkörperung des "Systems". Ihr spezieller Gegensatz, ihre Suche nach innen in diesem Außen, bleibt blass. Wie überhaupt einige Gegensätze in diesem Roman, darunter ein paar Prachtexemplare, eher gegeneinander gelehnt werden statt aneinander gerieben. So funkeln sie, doch sie schlagen keine Funken.
Isabel Fargo Cole: "Das Gift der Biene". Roman.
Edition Nautilus, Hamburg 2019. 224 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Wunderwasserglas: Isabel Fargo Cole lässt eine Amerikanerin in Berlin die Zeit nach der Wende erkunden und ein System finden, das noch längst nicht tot ist.
Von Fridtjof Küchemann
Hätten sie nicht einfach sitzen bleiben können, wie in dieser Sommernacht irgendwann Mitte der Neunziger in diesem heruntergekommenen Gartenhaus irgendwo im Berliner Scheunenviertel? Hätten sie nicht einfach immer weiterreden können, wie Christina sie ein paar Tage zuvor ein erstes Mal hatte reden hören am Lagerfeuer in Polen - Meta über das Leben als Punkerin in der DDR, Thorsten vom Schwarzhandel mit Westplatten, Eva und Bruno übers Trampen durch Sibirien zu Sowjetzeiten? Die Gruppe, die Isabel Fargo Cole in ihrem zweiten Roman, "Das Gift der Biene", im Ost-Berlin der Nachwendejahre versammelt hat, bringt genug Spannung mit und genug Entspanntheit, genug Überzeugungen und ausreichend Unentschlossenheit, um sich aufs Schönste die Köpfe heiß zu reden: Wolfgang, der Bibliothekar, der es in Ostzeiten auf Westbücher und nun, in Westzeiten, auf Ostbücher abgesehen hat, Dora mit dem kleinen Modeladen, die arbeitslosen Russischlehrer und all die anderen.
Es hätte genügen können, was an jenem Abend schließlich auch genügt hatte, als Wolfgang Christina all den anderen vorgestellt hatte: zu sagen, woher seine neue Freundin kommt - "aus Amiland". "Elend" hatten sie bereits genannt, was Christina stets für Freiheit gehalten hatte, oder kühler "das System". Mit ihrer Erzählerin hat Isabel Fargo Cole, selbst in Illinois geboren und in den Neunzigern zum Studieren nach Berlin gekommen, einer pittoresken Schar eher orientierungsarmer Idealisten eine Verkörperung des Kapitalismus wider Willen ausgesetzt, diskussionswütigen Leuten, die zwar "damals" allesamt den Sozialismus abgelehnt hatten, inzwischen aber annahmen, er sei, weil zu gut für diese Welt, nur schlicht gescheitert.
Der Ansatz der Autorin passt in unsere Zeit: Dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer scheinen wir in unseren Erinnerungen und Bestandsaufnahmen so mit uns selbst beschäftigt, als wären wir damals allein gewesen. Als wäre, was damals wieder ineinander zu wachsen begann, nicht unter den Augen der Welt ineinandergewachsen oder aus der Nähe begleitet worden von teilnehmenden Beobachterinnen wie der amerikanischen Erzählerin in "Das Gift der Biene".
Doch die Autorin belässt es nicht dabei, ihre Figuren einander "ans Messer zu liefern", wie Christina selbst es nennt. Sie lässt ihre Leute reisen, einen malerischen Neuzugang das immer noch verfallene Gartenhaus unter den Blicken der Leute, die bis auf Meta in leidlichen Zuständen im renovierten Vorder- und Seitenhaus wohnen, auf den Kopf stellen. Isabel Fargo Cole kommt mit ausgeklügelten Leidensgeschichten und lässt ihre Leute gar in einem esoterischen Exkurs annehmen, ein Wunderrabbi habe einst in jenem Gartenhaus gelebt, und sein Wirken wirke nach. Kein Wunder, dass hier Gesichte sieht, wer nur tief genug ins Glas schaut. Freilich in ein Glas des leicht modrig riechenden Wassers, das nach Umbauarbeiten auf einmal aus der Außenwand zu tropfen beginnt.
Meta war in der DDR in die Geschlossene gekommen, in der schon die eigene Mutter Jahrzehnte zuvor ebenfalls als "asoziales Element" gesessen hatte. Die Mutter der neu zugezogenen Vera, in der Christina folgerichtig ein "Grenzopfer zweiten Grades" sieht, ist ein Republikflüchtling. Wolfgang hatte damals im Harz, an der grünen Grenze, den Befehl, auf Volksverräter wie sie zu schießen. Im Schlaf spricht er darüber bruchstückhaft, träumt davon, alle Tiere, die über die Grenze wechseln, abschießen zu müssen, "wenn ein dummes Reh es hinüberschafft, dann schafft es jeder, wo kämen wir da hin?" Wach dagegen geht er lieber, wenn es an ihm wäre zu erzählen, und bleibt jede Antwort schuldig. Einmal, im Winter, wandert er mit Christina am alten Grenzfluss, der Warmen Bode, entlang. Später ist sie es, die sich an nichts erinnern kann.
Immer wieder fallen Fargo Coles Schlaglichter auf das Thema Flucht, beharrlich stellt die Autorin heraus, auf welche Weise Flucht Teil der deutschen Geschichte und Teil so vieler deutscher Geschichten ist, lange vor der Flüchtlingskrise der vergangenen fünf Jahre. Ihre Kommilitonin Meta hat Christina in einem Seminar zur jüdischen Geistesgeschichte Berlins kennengelernt, später fährt die Freundin nach Israel, um Gespräche mit Holocaust-Überlebenden zu filmen, und kommt mit der Erkenntnis zurück, die Leute, die sie dort getroffen hat, sollten eigentlich ihre Nachbarn sein, alte Leutchen, wie man sie eher beim Bäcker und auf den Straßen Berlins trifft statt in Tel Aviv. Und noch etwas bringt Meta von ihrer Reise mit, während derer die Malerin Vera, Leipziger Schule, bei ihr unters Dach gezogen ist: den Entschluss, Kunst zu machen.
Das Bienengift aus dem Buchtitel bezieht sich nicht nur auf einen Notfall am Ende des Romans, der einen Todesfall überlagert, sondern auch auf mehr als zweihundert Jahre alte Zeilen des englischen Dichters und Malers William Blake: "The Poison of the Honey Bee / Is the Artist's Jealousy." Ein Künstlerroman also? Tatsächlich lässt Fargo Cole mit den ungleichen Künstlerinnen, der strengen, empfindlichen, zurückgezogenen Malerin Vera und der robusten Meta, die mit Hilfe des ganzen Hauses als erstes Werk eine sargähnliche Installation aus Bienenwachs schafft, auch noch zwei künstlerische Konzepte aufeinanderprallen, die sich in den sprechenden Namen ihrer Protagonistinnen spiegeln. Ausgetragen wird dieser Gegensatz freilich nicht.
"Damals bei uns machte das Suchenwollen wahnsinnig, weil es nur nach innen gehen konnte", sagt Meta einmal. In "Das Gift der Biene" suchen sie eher außen, in den anderen, im Wunderwasserglas. Isabel Fargo Coles Erzählerin bleibt auf Distanz, sie stellt sich nur einmal, weil sie sich stellen muss, bei ihrer Initiation, als Verkörperung des "Systems". Ihr spezieller Gegensatz, ihre Suche nach innen in diesem Außen, bleibt blass. Wie überhaupt einige Gegensätze in diesem Roman, darunter ein paar Prachtexemplare, eher gegeneinander gelehnt werden statt aneinander gerieben. So funkeln sie, doch sie schlagen keine Funken.
Isabel Fargo Cole: "Das Gift der Biene". Roman.
Edition Nautilus, Hamburg 2019. 224 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2019Rosenthaler Bohème
Die Amerikanerin Isabel Fargo Cole setzt ihre Geschichte der DDR in die Nachwendezeit fort
Hinter der Rosenthaler Straße im Berliner Osten war kurz nach der Wende alles möglich. Es gab Stadtbrachen, besetzte Häuser, alte Keller, in denen improvisierte Kneipen öffneten oder halb legale Bars, wo jemand Platten auflegte. In einem derartigen Vakuum, das unberührt von den historischen Umwälzungen eine Weile lang vor sich hin wabern konnte, siedelt Isabel Fargo Cole ihren zweiten Roman „Das Gift der Biene“ an.
Die Ich-Erzählerin, Amerikanerin wie die Autorin, kommt als Fulbright-Stipendiatin einige Jahre nach dem Mauerfall nach Berlin, das sie schon 1987 bei einem Schüleraustausch kennengelernt hatte. Mit Bildern aus dem Orson-Welles-Film „Der dritte Mann“ im Kopf fühlt sich die 23-jährige Christina von der unverdauten Vergangenheit im Osten der Stadt angezogen und nistet sich dort in der alternativen Szene ein. Sie zieht mit dem manischen Büchersammler Wolfgang zusammen, der an seinen Erfahrungen als Soldat an der deutsch-deutschen Grenze laboriert, und schließt Freundschaft mit der schillernden Meta, einer Studentin der Judaistik mit einer Schwäche für die Kabbala. Meta betreibt im baufälligen Hinterhaus einen Salon, der zu einer Mischung aus Nachbarschaftstreff, Kunstprojekt und Dancefloor wird.
Es ist ein bizarres Bohème-Leben, das einem hier entgegentritt. Etliche der Protagonisten haben etwas Verlorenes, scheinen gestrandet zu sein am Rand der Geschichte. Sie waren schon in der DDR Außenseiter und begegnen dem neuen System mit Skepsis. Die Dynamik des Romans entwickelt sich aus den Reibungen in der Gruppe. Vor allem die geheimnisvolle Malerin Vera Grünberg, die eines Tages in die Gartenhausruine einzieht, facht die Fantasien an. Als Meta von einem Aufenthalt in Israel zurückkehrt, bedrängt sie die neue Mitbewohnerin. Ist Vera, Vertreterin der Leipziger Schule, Tochter eines Schriftstellers und elternlos aufgewachsen, vielleicht mit einem Rabbi namens Grynberg verwandt? Warum verbrennt sie nächtelang Papiere in ihrem Ofen und kann sich dann an nichts erinnern?
Irgendwann verfällt die Gruppe in die Angewohnheit, abends in Wassergläser zu starren und mystische Erfahrungen zu machen. Es sei ein kollektiver Wahn, den man sich leisten können müsse, stellt Metas israelischer Freund kurze Zeit später trocken fest.
Wer Isabel Fargo Coles eindrucksvolles Romandebüt „Die grüne Grenze“, das 2018 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert worden war, gelesen hat, kommt einer geschickten Verzahnung auf die Spur. Die Autorin, die seit 1995 in Berlin lebt und sich als Übersetzerin von Franz Fühmann und Wolfgang Hilbig einen Namen gemacht hat, bedient sich für den Nachfolgeband vielleicht auch aus eigenen Erfahrungen. Vor allem aber spinnt sie die Geschehnisse fort und greift die Figuren wieder auf. Vera ist nämlich die erste Tochter des Haupthelden aus dem vorangegangen Buch, eines Schriftstellers namens Thomas, der eines Tages im Harz an der Grenze verschwunden war. Auch seine Frau Editha, von Vera abgelehnt, hat einen Auftritt. Die Handlungsführung von „Das Gift der Biene“ nimmt ein paar gewagte Kurven und wirkt weniger ausgereift als in „Die grüne Grenze“. Aber die Schilderungen vermitteln tatsächlich etwas von der speziellen Berliner Atmosphäre jener Zeit, als man von einer Mischung aus Underground, trotzigen Beharrungskräften, ernst zu nehmenden Kunstprojekten und Goldgräbertum umgeben war.
Vor allem für Figuren hat Isabel Fargo Cole eine Begabung: Neben dem kauzigen Wolfgang und der spontanistischen Meta, die für eine Kunstaktion ein klaustrophobisches Zimmer aus Bienenwachs baut, gewinnt vor allem Vera mit ihren Nöten Konturen. Dass eine Amerikanerin die ethnografischen Eigenarten besser einfängt als viele popmagazinmäßig daherkommende Berlin-Romane, ist schon an und für sich eine Pointe.
MAIKE ALBATH
Zwischen Beharrungskräften
und Goldgräbertum, eine
spezielle Berliner Atmosphäre
Isabel Fargo Cole: Das Gift der Biene. Roman. Edition Nautilus Hamburg 2019, 224 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Amerikanerin Isabel Fargo Cole setzt ihre Geschichte der DDR in die Nachwendezeit fort
Hinter der Rosenthaler Straße im Berliner Osten war kurz nach der Wende alles möglich. Es gab Stadtbrachen, besetzte Häuser, alte Keller, in denen improvisierte Kneipen öffneten oder halb legale Bars, wo jemand Platten auflegte. In einem derartigen Vakuum, das unberührt von den historischen Umwälzungen eine Weile lang vor sich hin wabern konnte, siedelt Isabel Fargo Cole ihren zweiten Roman „Das Gift der Biene“ an.
Die Ich-Erzählerin, Amerikanerin wie die Autorin, kommt als Fulbright-Stipendiatin einige Jahre nach dem Mauerfall nach Berlin, das sie schon 1987 bei einem Schüleraustausch kennengelernt hatte. Mit Bildern aus dem Orson-Welles-Film „Der dritte Mann“ im Kopf fühlt sich die 23-jährige Christina von der unverdauten Vergangenheit im Osten der Stadt angezogen und nistet sich dort in der alternativen Szene ein. Sie zieht mit dem manischen Büchersammler Wolfgang zusammen, der an seinen Erfahrungen als Soldat an der deutsch-deutschen Grenze laboriert, und schließt Freundschaft mit der schillernden Meta, einer Studentin der Judaistik mit einer Schwäche für die Kabbala. Meta betreibt im baufälligen Hinterhaus einen Salon, der zu einer Mischung aus Nachbarschaftstreff, Kunstprojekt und Dancefloor wird.
Es ist ein bizarres Bohème-Leben, das einem hier entgegentritt. Etliche der Protagonisten haben etwas Verlorenes, scheinen gestrandet zu sein am Rand der Geschichte. Sie waren schon in der DDR Außenseiter und begegnen dem neuen System mit Skepsis. Die Dynamik des Romans entwickelt sich aus den Reibungen in der Gruppe. Vor allem die geheimnisvolle Malerin Vera Grünberg, die eines Tages in die Gartenhausruine einzieht, facht die Fantasien an. Als Meta von einem Aufenthalt in Israel zurückkehrt, bedrängt sie die neue Mitbewohnerin. Ist Vera, Vertreterin der Leipziger Schule, Tochter eines Schriftstellers und elternlos aufgewachsen, vielleicht mit einem Rabbi namens Grynberg verwandt? Warum verbrennt sie nächtelang Papiere in ihrem Ofen und kann sich dann an nichts erinnern?
Irgendwann verfällt die Gruppe in die Angewohnheit, abends in Wassergläser zu starren und mystische Erfahrungen zu machen. Es sei ein kollektiver Wahn, den man sich leisten können müsse, stellt Metas israelischer Freund kurze Zeit später trocken fest.
Wer Isabel Fargo Coles eindrucksvolles Romandebüt „Die grüne Grenze“, das 2018 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert worden war, gelesen hat, kommt einer geschickten Verzahnung auf die Spur. Die Autorin, die seit 1995 in Berlin lebt und sich als Übersetzerin von Franz Fühmann und Wolfgang Hilbig einen Namen gemacht hat, bedient sich für den Nachfolgeband vielleicht auch aus eigenen Erfahrungen. Vor allem aber spinnt sie die Geschehnisse fort und greift die Figuren wieder auf. Vera ist nämlich die erste Tochter des Haupthelden aus dem vorangegangen Buch, eines Schriftstellers namens Thomas, der eines Tages im Harz an der Grenze verschwunden war. Auch seine Frau Editha, von Vera abgelehnt, hat einen Auftritt. Die Handlungsführung von „Das Gift der Biene“ nimmt ein paar gewagte Kurven und wirkt weniger ausgereift als in „Die grüne Grenze“. Aber die Schilderungen vermitteln tatsächlich etwas von der speziellen Berliner Atmosphäre jener Zeit, als man von einer Mischung aus Underground, trotzigen Beharrungskräften, ernst zu nehmenden Kunstprojekten und Goldgräbertum umgeben war.
Vor allem für Figuren hat Isabel Fargo Cole eine Begabung: Neben dem kauzigen Wolfgang und der spontanistischen Meta, die für eine Kunstaktion ein klaustrophobisches Zimmer aus Bienenwachs baut, gewinnt vor allem Vera mit ihren Nöten Konturen. Dass eine Amerikanerin die ethnografischen Eigenarten besser einfängt als viele popmagazinmäßig daherkommende Berlin-Romane, ist schon an und für sich eine Pointe.
MAIKE ALBATH
Zwischen Beharrungskräften
und Goldgräbertum, eine
spezielle Berliner Atmosphäre
Isabel Fargo Cole: Das Gift der Biene. Roman. Edition Nautilus Hamburg 2019, 224 Seiten, 20 Euro.
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