»Allem Zauber wohnt ein Anfang inne«: So formulierte es sein Berliner Lehrmeister Schlosseck gern - und die Anfänge des Zauberers Pahroc reichen zurück in die Jahre vor dem ersten Weltkrieg. Schon bald kann Pahroc durch die Lüfte spazieren, später lernt er durch Wände zu gehen und für Sekunden aus Stahl zu sein, was ihm dabei hilft, auch den nächsten Krieg zu überleben. Als es ihm gelingt, Geld herbeizuzaubern, kann er endlich auch seine wachsende Familie ernähren. Pahroc gehört bald zu den Großen seines heimlichen Fachs, getarnt hinter Berufen wie Radiotechniker, Erfinder und Psychotherapeut. Im Alter von über 106 Jahren gilt seine größte Sorge der Weitergabe seiner Kunst an seine Enkelin Mathilda - und so schreibt er sein Leben für sie auf. Es ist die lebenskluge, unerhörte Geschichte eines Mannes und seiner sehr eigenen Art des Widerstands gegen die Entzauberung der Welt.
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buecher-magazin.deEin selten schöner Panoramablick auf das 20. Jahrhundert. Und mit Otto Mellies ein Hauptsprecher, der seine Hörer umgarnt. Durch seine warm-knisternde Stimme, der man augenblicklich vertraut, durch sein Geschick, sowohl den ernsten als auch den verschmitzten Ton des Nadolny-Romans aufleuchten zu lassen. Pahroc ist ein Zauberer, der im hohen Alter Briefe an seine Enkelin schreibt. An sie gibt er seine Kunst weiter. Wie man durch Wände geht, wie man ganz leicht wird oder fliegen kann. Gleichzeitig ist es das Vermächtnis seines Lebens. Der Bogen reicht vom 1. Weltkrieg bis zur totalen Digitalisierung des Lebens Anfang des 21. Jahrhunderts. Pahroc ist mittendrin, als Soldat im Krieg, als gelernter Elektriker, als Erfinder. Es mangelt weder an Spannung noch an tief-schönen Gedanken. Wie jenem über das Glück, das einen immer wieder verlassen wird, weil es sich an ein und demselben Ort langweilt. Und die Zauberei? Man kann sie als metaphorischen Appell verstehen, sich nie das Spielerische als Grundlage eines gelingenden Lebens rauben zu lassen. Man nimmt es gerne an, auch dank der liebevollen Autorität, die Otto Mellies ausstrahlt.
© BÜCHERmagazin, Martin Maria Schwarz (mms)
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»Eine wunderbare Geschichte über Zauberei, deutsche Geschichte und das Glück, seine Familie vor selbst dem größten Unglück zu bewahren.« killmonotony.de 20180409
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2017Harry Potter und der Halbindianer
Gegen die deutsche Geschichte hilft nicht einmal Magie: In "Das Glück des Zauberers" schickt Sten Nadolny einen Beobachter durch das letzte Jahrhundert.
Von Florian Balke
Wenn Lily und James Potter das gewusst hätten: Es gibt einen Zauber, der Feinde daran hindert, in böser Absicht ins Haus zu gelangen. Den hätten die Eltern des kleinen Harry an dem Tag brauchen können, als Voldemort bei ihnen eindringt, um das Kind zu ermorden, von dem er annimmt, es sei auf die Welt gekommen, um ihn zu töten. Aber Zauberer leben in vielen Welten, und der Abwehrzauber existiert nur in der, die Sten Nadolny für seinen Roman "Das Glück des Zauberers" erschaffen hat.
Sie ist deutscher ausgefallen als die der Britin, merkwürdigerweise aber lockerer organisiert. Keine dem Blick der Normalsterblichen durch Tricks entzogene Zauberschule ragt an einem Gebirgshang der bayerischen Alpen empor, kein Zaubereiministerium verfügt in den Bonner Rheinauen oder am Berliner Tiergarten über einen Seiteneingang in Form einer alten gelben Bundespost-Telefonzelle. Nicht einmal vor dem Zweiten Weltkrieg finden Nadolnys deutsche Zauberer sich zu festen Strukturen des Widerstands zusammen, auch wenn ihre Kontakte bis zu Kollegen in Schottland und Frankreich reichen.
Wer bei Nadolny als Zauberer geboren wird, wächst einsamer auf als bei Rowling. Pahroc heißt der Magier, der wie viele seinesgleichen auf das Führen eines Vornamens verzichtet und dessen Leben der Schriftsteller mehr als hundert Jahre lang verfolgt, von der Kindheit im wilhelminischen Kaiserreich bis zum Tod des alten Mannes im Mai dieses Jahres. Geboren wird er 1905 als Sohn eines Indianers, der mit den Wildwestshows von Buffalo Bill nach Europa gekommen ist und im Lande Karl Mays hängenbleibt. Der Indianer heiratet eine Berlinerin und stirbt 1916 als deutscher Soldat vor Fort Douaumont. Dabei hatte er die Tugend, die seine neuen Landsleute in die Katastrophe stürzen wird, doch schon genau erkannt - fast immer ist sein Blick auf die Wahlheimat bewundernd oder belustigt, nur wenn die Deutschen von "Konsequenzen" sprechen, wird ihm mulmig.
Richtig schlimm trifft es erst seinen Sohn, der sich nach dem Ende der Weimarer Republik durch den Nationalsozialismus schlagen muss. Beruflich führt ihn die Alltagsfreude an technischen Entwicklungen zu Telefunken, dem Zurechtkommen mit seiner Geheimbegabung widmet er sich privat. Bei ihm und seiner Frau Emma zeigt sie sich wie bei allen anderen Zauberern schon früh in Fähigkeiten wie der, Blüten aus Blumentöpfen zu zupfen, obwohl sie für das Kleinkind von der Wiege aus noch gar nicht erreichbar sind. "Die lange Hand" nennen Zauberer das, und der altgewordene Pahroc ist glücklich darüber, die Begabung auch bei seiner kleinen Enkelin Mathilda zu beobachten, deren erste Lebensjahre er noch miterlebt. Ihr schreibt er nach und nach zwölf lange Briefe voller Erinnerungen und Lebenstipps, aus denen das Buch besteht. Mathilda soll sie um das Jahr 2030 erhalten, wenn sie volljährig ist.
Kinder, Zauberer und Erwachsene: Ist die Infantilisierung des Buchmarkts schon so weit fortgeschritten, dass die literarischen Entdeckungen, die Joanne K. Rowling beim Schreiben für junge Leser gelangen, jetzt auch Romane für Belletristikkäufer in den besten Jahren stützen müssen? Es wäre nicht das Schlechteste. Aber die Unterschiede sind offensichtlich. Während Rowling mit ungeheurem Erfindungsreichtum eine detailliert ausgemalte Welt und eine immer verschlungenere Handlung entwirft, leben Nadolnys Zauberer fast so wie seine Leser, denen er sie in meist eher kurzen, dahingeplauderten Szenen vor Augen stellt: Die gesamten achtziger Jahre huschen auf Seite 278 gerafft vorüber. Auch von dem, was Rowlings Erfolg mit ausmachte, dem Zaubern als Allegorie für Anderssein und Eigenartigkeit jedes einzelnen Menschen, lebt Nadolnys Roman auf eigene Weise. Wie die Leser es vom Autor der "Entdeckung der Langsamkeit" gewohnt sind, führt er sie durch mit Erfundenem angereicherte Geschichte, in diesem Fall das zwanzigste Jahrhundert, anhand dessen er zeigt, dass sogar Zauberer sich von der deutschen Geschichte nicht freihexen können.
Messen lassen muss "Das Glück des Zauberers", auf dessen letzten Seiten Nadolny die vielfältigen Verbindungen zwischen der Kindheit, dem Traum und der Zauberei noch einmal explizit ausspinnt, sich mit Rowlings Welt aber durchaus. Sie ist schließlich auch von Erwachsenen zur Kenntnis genommen worden. Nadolny schneidet dabei nicht schlecht ab. Durch Wände wie auf dem Bahnsteig 93/4 können Zauberer auch bei ihm gehen - manche zumindest. Das Schweben und Fliegen gelingt ihnen durch Verringerung des Körpergewichts, Aufstieg in die Luft und Konzentration auf das angestrebte Ziel sogar ohne Besen. Drei Stunden dauert der Flug von Berlin nach München. Einen Magier mit einem Zauberspruch töten aber können sie nicht. Kein "Avada Kedavra" hilft Pahroc in äußerster Not.
Potter-Leser wissen, wie es kommt. Neben guten Zauberern gibt es böse. Schneidebein heißt der Schulkamerad, von dem schon früh berichtet wird, er sei später einer alleinregierenden Partei beigetreten: "Das tun Leute gern, die gefährlich sein wollen." Ihm begegnet Pahroc 1942 in einer nationalsozialistischen Behörde, die Szene weitet sich bald zur apokalyptischen Ansicht der letzten Kriegsjahre. Pahrocs düsterste Flüge führen ihn aus dem Kessel von Stalingrad in die Gaskammer eines Vernichtungslagers, zu einem Todesmarsch an der Ostseeküste und auf ein Schiff mit deutschen Flüchtlingen. Im Süden brennen die Städte. Geschehenes lässt sich nicht mit einem Trick zum Verschwinden bringen. Trotzdem macht Nadolny im Epilog noch ein ganz besonderes Kunststück. Dann wird es dunkel.
Sten Nadolny: "Das Glück des Zauberers". Roman.
Piper Verlag, München 2017. 320 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gegen die deutsche Geschichte hilft nicht einmal Magie: In "Das Glück des Zauberers" schickt Sten Nadolny einen Beobachter durch das letzte Jahrhundert.
Von Florian Balke
Wenn Lily und James Potter das gewusst hätten: Es gibt einen Zauber, der Feinde daran hindert, in böser Absicht ins Haus zu gelangen. Den hätten die Eltern des kleinen Harry an dem Tag brauchen können, als Voldemort bei ihnen eindringt, um das Kind zu ermorden, von dem er annimmt, es sei auf die Welt gekommen, um ihn zu töten. Aber Zauberer leben in vielen Welten, und der Abwehrzauber existiert nur in der, die Sten Nadolny für seinen Roman "Das Glück des Zauberers" erschaffen hat.
Sie ist deutscher ausgefallen als die der Britin, merkwürdigerweise aber lockerer organisiert. Keine dem Blick der Normalsterblichen durch Tricks entzogene Zauberschule ragt an einem Gebirgshang der bayerischen Alpen empor, kein Zaubereiministerium verfügt in den Bonner Rheinauen oder am Berliner Tiergarten über einen Seiteneingang in Form einer alten gelben Bundespost-Telefonzelle. Nicht einmal vor dem Zweiten Weltkrieg finden Nadolnys deutsche Zauberer sich zu festen Strukturen des Widerstands zusammen, auch wenn ihre Kontakte bis zu Kollegen in Schottland und Frankreich reichen.
Wer bei Nadolny als Zauberer geboren wird, wächst einsamer auf als bei Rowling. Pahroc heißt der Magier, der wie viele seinesgleichen auf das Führen eines Vornamens verzichtet und dessen Leben der Schriftsteller mehr als hundert Jahre lang verfolgt, von der Kindheit im wilhelminischen Kaiserreich bis zum Tod des alten Mannes im Mai dieses Jahres. Geboren wird er 1905 als Sohn eines Indianers, der mit den Wildwestshows von Buffalo Bill nach Europa gekommen ist und im Lande Karl Mays hängenbleibt. Der Indianer heiratet eine Berlinerin und stirbt 1916 als deutscher Soldat vor Fort Douaumont. Dabei hatte er die Tugend, die seine neuen Landsleute in die Katastrophe stürzen wird, doch schon genau erkannt - fast immer ist sein Blick auf die Wahlheimat bewundernd oder belustigt, nur wenn die Deutschen von "Konsequenzen" sprechen, wird ihm mulmig.
Richtig schlimm trifft es erst seinen Sohn, der sich nach dem Ende der Weimarer Republik durch den Nationalsozialismus schlagen muss. Beruflich führt ihn die Alltagsfreude an technischen Entwicklungen zu Telefunken, dem Zurechtkommen mit seiner Geheimbegabung widmet er sich privat. Bei ihm und seiner Frau Emma zeigt sie sich wie bei allen anderen Zauberern schon früh in Fähigkeiten wie der, Blüten aus Blumentöpfen zu zupfen, obwohl sie für das Kleinkind von der Wiege aus noch gar nicht erreichbar sind. "Die lange Hand" nennen Zauberer das, und der altgewordene Pahroc ist glücklich darüber, die Begabung auch bei seiner kleinen Enkelin Mathilda zu beobachten, deren erste Lebensjahre er noch miterlebt. Ihr schreibt er nach und nach zwölf lange Briefe voller Erinnerungen und Lebenstipps, aus denen das Buch besteht. Mathilda soll sie um das Jahr 2030 erhalten, wenn sie volljährig ist.
Kinder, Zauberer und Erwachsene: Ist die Infantilisierung des Buchmarkts schon so weit fortgeschritten, dass die literarischen Entdeckungen, die Joanne K. Rowling beim Schreiben für junge Leser gelangen, jetzt auch Romane für Belletristikkäufer in den besten Jahren stützen müssen? Es wäre nicht das Schlechteste. Aber die Unterschiede sind offensichtlich. Während Rowling mit ungeheurem Erfindungsreichtum eine detailliert ausgemalte Welt und eine immer verschlungenere Handlung entwirft, leben Nadolnys Zauberer fast so wie seine Leser, denen er sie in meist eher kurzen, dahingeplauderten Szenen vor Augen stellt: Die gesamten achtziger Jahre huschen auf Seite 278 gerafft vorüber. Auch von dem, was Rowlings Erfolg mit ausmachte, dem Zaubern als Allegorie für Anderssein und Eigenartigkeit jedes einzelnen Menschen, lebt Nadolnys Roman auf eigene Weise. Wie die Leser es vom Autor der "Entdeckung der Langsamkeit" gewohnt sind, führt er sie durch mit Erfundenem angereicherte Geschichte, in diesem Fall das zwanzigste Jahrhundert, anhand dessen er zeigt, dass sogar Zauberer sich von der deutschen Geschichte nicht freihexen können.
Messen lassen muss "Das Glück des Zauberers", auf dessen letzten Seiten Nadolny die vielfältigen Verbindungen zwischen der Kindheit, dem Traum und der Zauberei noch einmal explizit ausspinnt, sich mit Rowlings Welt aber durchaus. Sie ist schließlich auch von Erwachsenen zur Kenntnis genommen worden. Nadolny schneidet dabei nicht schlecht ab. Durch Wände wie auf dem Bahnsteig 93/4 können Zauberer auch bei ihm gehen - manche zumindest. Das Schweben und Fliegen gelingt ihnen durch Verringerung des Körpergewichts, Aufstieg in die Luft und Konzentration auf das angestrebte Ziel sogar ohne Besen. Drei Stunden dauert der Flug von Berlin nach München. Einen Magier mit einem Zauberspruch töten aber können sie nicht. Kein "Avada Kedavra" hilft Pahroc in äußerster Not.
Potter-Leser wissen, wie es kommt. Neben guten Zauberern gibt es böse. Schneidebein heißt der Schulkamerad, von dem schon früh berichtet wird, er sei später einer alleinregierenden Partei beigetreten: "Das tun Leute gern, die gefährlich sein wollen." Ihm begegnet Pahroc 1942 in einer nationalsozialistischen Behörde, die Szene weitet sich bald zur apokalyptischen Ansicht der letzten Kriegsjahre. Pahrocs düsterste Flüge führen ihn aus dem Kessel von Stalingrad in die Gaskammer eines Vernichtungslagers, zu einem Todesmarsch an der Ostseeküste und auf ein Schiff mit deutschen Flüchtlingen. Im Süden brennen die Städte. Geschehenes lässt sich nicht mit einem Trick zum Verschwinden bringen. Trotzdem macht Nadolny im Epilog noch ein ganz besonderes Kunststück. Dann wird es dunkel.
Sten Nadolny: "Das Glück des Zauberers". Roman.
Piper Verlag, München 2017. 320 S., geb., 22,- [Euro].
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