Wie der Taucher auf dem berühmten Fresko im süditalienischen Paestum, das einen Mann zeigt, der kopfüber von einer Säule springt, hat Claude Lanzmann sich in jedes Abenteuer gestürzt. Alle wichtigen Entscheidungen seines Lebens, so schreibt er, waren wie Kopfsprünge ins Ungewisse. Lanzmann wurde berühmt als Regisseur des epochemachenden Films «Shoah». Zugleich hat er zeitlebens als Publizist gearbeitet. Dieses Buch versammelt Reportagen, Erzählungen, Porträts und kämpferische Artikel, die er seit 1947 unter anderem für die von Jean-Paul Sartre gegründete Zeitschrift «Le Temps Modernes» geschrieben hat. Mal kritisiert er harsch, mal ist er voller Begeisterung; polemische Texte und politische Interventionen stehen neben einfühlsamen Nahaufnahmen und gesellschaftlichen Tiefenbohrungen. Immer sind die Texte unkonventionell, eigensinnig und frei. Lanzmann porträtiert Serge Gainsbourg, Richard Burton und Jean-Paul Belmondo, schreibt über den Dalai-Lama und Israel, über «Schindlers Liste» und Rainer Werner Fassbinder. Lanzmann gehört zu den wichtigsten europäischen Intellektuellen der Gegenwart. Einmal mehr erweist er sich nun als unverzichtbarer und mutiger Chronist des zwanzigsten Jahrhunderts.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Verena Lueken hat noch einmal Claude Lanzmanns berühmte Attacke auf Steven Spielberg Film "Schindlers Liste" gelesen, und angesichts einer immer schamloseren Fiktionalisierung des Holocausts hat dieser Essay für sie nicht an Gültigkeit verloren. Aber auch andere Texte aus dem journalistischen Frühwerk des späteren Filmemachers hat die Rezensentin mit großem Interesse gelesen. Die Porträts von Jean-Paul Belmondo oder Charles Aznavour, ein Gespräch mit Marcel Marceau oder den Wutausbruch zum Prozess gegen jenen Priester von Uruffe, der seine schwangere Geliebte barbarisch ermordete und anschließend dem ebenfalls massakrierten Fötus die Sakramente gab. Tatsächlich gefallen Lueken mehr als die politischen Kommentare Lanzmanns Texte über das Showbiz und die Celebrity-Kultur. Und Lanzmanns Eitelkeit kann zwar durchaus gockelhafte Ausmaße annehmen, beschränkt sich aber, wie Lueken versichert, auf die Einleitung.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.12.2015Wie man das Schweigen bricht
Der französische Filmemacher Claude Lanzmann zeigt uns sein journalistisches Frühwerk, das voller Überraschungen steckt. Sogar den Pantomimen Marcel Marceau brachte er zum Reden.
Kann ein Artikel über Steven Spielberg ätzender beginnen als mit dem Satz: "Ich schätze Steven Spielberg. Ich habe ,Indiana Jones' gesehen, ich habe ,Jäger des verlorenen Schatzes' und ,E.T. - Der Außerirdische' gesehen, ich glaube, ich habe auch seinen Film ,Der weiße Hai' gesehen, und ich mag seine Filme sehr." "Ich glaube, ich habe auch den ,Weißen Hai' gesehen": "Ich glaube" - das ist ein starkes Stück Beleidigung, und vermutlich war es genauso gemeint. Denn im Folgenden geht es darum, wie Spielbergs Film "Schindlers Liste" die historische Wahrheit über den Holocaust verzerrt.
Lanzmanns Polemik gegen Spielbergs Film gilt bis heute. Angesichts der anschwellenden Zahl von Fiktionen und Dokufiktionen über die Judenvernichtung in Büchern, im Kino und Fernsehen, die mit immer weiterem historischen Abstand immer schamloser mit Bildern aus den Lagern und Phantasien über das Innere der Tötungsmaschinerie umgehen, kann ein Wiederlesen nicht schaden.
Claude Lanzmann, den die meisten Menschen als Filmemacher und Regisseur von "Shoah" kennen, hat nicht nur zu Gelegenheiten wie dem Kinostart von "Schindlers Liste" geschrieben. Vielmehr hat er, bevor er begann, Filme zu drehen, zwanzig Jahre lang (von 1950 bis 1970) als Journalist, als "Schreiber", wie er es nennt, sein Geld verdient. Er veröffentlichte seine Stücke in Zeitschriften verschiedener Art, etwa in der von Jean-Paul Sartre gegründeten "Les Temps Modernes" (deren Herausgeber Lanzmann heute immer noch ist), aber auch (fast immer Auftragswerke) im Magazin "Elle" und manchmal in Tageszeitungen. Er publizierte unter eigenem Namen oder unter dem Pseudonym "Jean-Jacques Delacroix", wenn ihm der Gegenstand eines Artikels - Filmschauspieler, Chansoniers - des eigenen Namens nicht würdig erschienen.
Um diese Artikel sowie um seine politischen und polemischen Interviews und Einwürfe, zum Beispiel eben zu Spielbergs "Schindlers Liste" oder zu Fassbinders "Schatten der Engel", zu Israel und zum Kosovo-Krieg, geht es hier. Im Vorwort erzählt Lanzmann ganz unbefangen von dem großen Vergnügen, das ihm das Wiederlesen seiner eigenen Texte bereitet habe, weshalb er sie an verstreuten Orten aufgesammelt hat, um sie in diesem dicken Buch vereint der Öffentlichkeit zu präsentieren. Überschätzt er sich?
Lanzmann hatte, als vor fünf Jahren sein großes Erinnerungsbuch ("Der patagonische Hase") auf Deutsch erschien, bereits angekündigt, seine alten Artikel gesammelt herauszubringen, und ein bisschen angegeben damit, dass in keinen Schubladen irgendwo unveröffentlichte Texte von ihm herumlägen. Was aus seiner Feder floss, hatte schon immer den Weg zum Leser gefunden. Das ist, was die meisten der hier versammelten Stücke angeht, sehr lange her. Ist also auch unser Vergnügen an ihnen groß? Fast ausnahmslos: ja und unbedingt.
Wobei sich die Einschränkung auf einige allzu eitle Passagen bezieht, die ihm etwa in seinem brillant beobachteten Porträt des Pantomimen Marcel Marceau unterlaufen. Hatte Lanzmann je von Nehru, von Buñuel gehört?, fragt Marceau. "Rascher als er; ohne den Kopf zu heben oder meinen Stift wegzulegen, warf ich ein: ,Ein andalusischer Hund, Robinson Crusoe, Die Vergessenen, Viridiana'. Er sagte, ganz aus der Fassung gebracht: ,Ach, Sie wissen Bescheid.' Ich nutzte diesen Durchbruch, baute ihn aus und schlug eine Brücke; so kam es schließlich zu einem Dialog."
Einem Dialog mit dem Mann, der seit 1946 auf der Bühne kein Wort mehr gesprochen hatte und von dem Lanzmann schreibt, das Reden sei nicht seine Sprache, deshalb "wählte er das Schweigen" - um sogleich seiner Besorgnis Ausdruck zu geben, da dieser Mann auch ohne Fragen jenseits der Bühne sofort zu "schwadronieren" anfange und "so sehr von sich erfüllt" sei, zweifele er, Lanzmann, "schon daran, ob ich auch selber noch ein Wort an ihn richten können würde". Das ist eine der Szenen, bei der man sich wünschte, dabei gewesen zu sein. Zwei Gockel im Wettbewerb der Gockelei.
Tatsächlich sind solche Eitelkeiten in den Texten jenseits des Vorworts aber selten. Hier wirkt nichts nachgereicht, auch wenn Lanzmann uns über die Umstände, die zu einigen der Arbeiten führten, bereits im "Patagonischen Hasen" informiert hat - wie bei dem vierzigseitigen Essay über den "Priester von Uruffe" und seinen grausigen Mord an seiner schwangeren Geliebten, der er den Säugling aus dem Bauch schnitt, ihm die Augen ausstach und die Sakramente gab. Mit kreisenden Denkbewegungen geht Lanzmann in diesem in "Les Temps Modernes" erschienenen Essay der Frage nach, wie es sein konnte, dass dieser Mann der Guillotine entkam; wie er ein Mann der Kirche bleiben konnte; was das bürgerliche Recht dazu zu sagen hatte und warum es nur zum Kompromissurteil der lebenslangen Haft imstande war. Es ist ein früher Höhepunkt in diesem Buch.
Lanzmann konnte in seinen journalistischen Arbeiten (wie später in seinen Filmen) weit ausholen. Seine Porträts etwa von Jean-Paul Belmondo oder Charles Aznavour umfassen nahezu zehn Druckseiten; er hatte tage- oder auch wochenlang Zeit, sich seinen Figuren zu nähern, in ihrer Gegenwart, wenn auch manchmal nur aus der Distanz wie bei Soraya auf Capri etwa, herumzulungern, zu beobachten, was sonst noch geschah, und seinen Gedanken nachzuhängen.
Wir befinden uns bei der Lektüre also nicht nur in Gesellschaft eines großartigen Journalisten und Erzählers. Sondern auch in den gloriosen Zeiten der gedruckten Presse, als dort Platz und Geld war für längere Recherchen wie für große Textmassen. Wenn Lanzmann einmal weniger Zeit, weniger exklusiven Zugang hatte, etwa zu Richard Burton, der mit seiner Frau Liz Taylor gerade "für 750 Millionen Francs eine phantastische Albernheit" drehte (". . . die alles begehren" / The Sandpiper von Vincente Minnelli), behält er seine Verachtung nicht für sich. Angesichts der ebenfalls phantastischen Albernheiten der Pressebetreuung bekommt sein Schreiben hier einen übermütigen ironischen Drall, der über die Jahrzehnte kein bisschen verschimmelt ist. Die Geschichte erschien in "Elle" im November 1964.
Natürlich mochte Lanzmann Tati lieber. Oder Serge Gainsbourg, wenn er Jazzlieder schrieb. So sind das Überraschende an diesem Buch nicht die politischen Kommentare, sondern diese Stücke über Figuren des Unterhaltungsgeschäfts und der frühen Celebrity-Kultur, die von dem, was Lanzmanns Lebenswerk werden wird, noch nichts wissen, die aber schon zeigen, er wird einer von ihnen werden. Mit einem Werk allerdings aus einer anderen als ihrer Welt.
VERENA LUEKEN
Claude Lanzmann:
"Das Grab des göttlichen Tauchers". Ausgewählte Texte.
Aus dem Französischen von Erich Wolfgang Skwara. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2015. 544 S., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der französische Filmemacher Claude Lanzmann zeigt uns sein journalistisches Frühwerk, das voller Überraschungen steckt. Sogar den Pantomimen Marcel Marceau brachte er zum Reden.
Kann ein Artikel über Steven Spielberg ätzender beginnen als mit dem Satz: "Ich schätze Steven Spielberg. Ich habe ,Indiana Jones' gesehen, ich habe ,Jäger des verlorenen Schatzes' und ,E.T. - Der Außerirdische' gesehen, ich glaube, ich habe auch seinen Film ,Der weiße Hai' gesehen, und ich mag seine Filme sehr." "Ich glaube, ich habe auch den ,Weißen Hai' gesehen": "Ich glaube" - das ist ein starkes Stück Beleidigung, und vermutlich war es genauso gemeint. Denn im Folgenden geht es darum, wie Spielbergs Film "Schindlers Liste" die historische Wahrheit über den Holocaust verzerrt.
Lanzmanns Polemik gegen Spielbergs Film gilt bis heute. Angesichts der anschwellenden Zahl von Fiktionen und Dokufiktionen über die Judenvernichtung in Büchern, im Kino und Fernsehen, die mit immer weiterem historischen Abstand immer schamloser mit Bildern aus den Lagern und Phantasien über das Innere der Tötungsmaschinerie umgehen, kann ein Wiederlesen nicht schaden.
Claude Lanzmann, den die meisten Menschen als Filmemacher und Regisseur von "Shoah" kennen, hat nicht nur zu Gelegenheiten wie dem Kinostart von "Schindlers Liste" geschrieben. Vielmehr hat er, bevor er begann, Filme zu drehen, zwanzig Jahre lang (von 1950 bis 1970) als Journalist, als "Schreiber", wie er es nennt, sein Geld verdient. Er veröffentlichte seine Stücke in Zeitschriften verschiedener Art, etwa in der von Jean-Paul Sartre gegründeten "Les Temps Modernes" (deren Herausgeber Lanzmann heute immer noch ist), aber auch (fast immer Auftragswerke) im Magazin "Elle" und manchmal in Tageszeitungen. Er publizierte unter eigenem Namen oder unter dem Pseudonym "Jean-Jacques Delacroix", wenn ihm der Gegenstand eines Artikels - Filmschauspieler, Chansoniers - des eigenen Namens nicht würdig erschienen.
Um diese Artikel sowie um seine politischen und polemischen Interviews und Einwürfe, zum Beispiel eben zu Spielbergs "Schindlers Liste" oder zu Fassbinders "Schatten der Engel", zu Israel und zum Kosovo-Krieg, geht es hier. Im Vorwort erzählt Lanzmann ganz unbefangen von dem großen Vergnügen, das ihm das Wiederlesen seiner eigenen Texte bereitet habe, weshalb er sie an verstreuten Orten aufgesammelt hat, um sie in diesem dicken Buch vereint der Öffentlichkeit zu präsentieren. Überschätzt er sich?
Lanzmann hatte, als vor fünf Jahren sein großes Erinnerungsbuch ("Der patagonische Hase") auf Deutsch erschien, bereits angekündigt, seine alten Artikel gesammelt herauszubringen, und ein bisschen angegeben damit, dass in keinen Schubladen irgendwo unveröffentlichte Texte von ihm herumlägen. Was aus seiner Feder floss, hatte schon immer den Weg zum Leser gefunden. Das ist, was die meisten der hier versammelten Stücke angeht, sehr lange her. Ist also auch unser Vergnügen an ihnen groß? Fast ausnahmslos: ja und unbedingt.
Wobei sich die Einschränkung auf einige allzu eitle Passagen bezieht, die ihm etwa in seinem brillant beobachteten Porträt des Pantomimen Marcel Marceau unterlaufen. Hatte Lanzmann je von Nehru, von Buñuel gehört?, fragt Marceau. "Rascher als er; ohne den Kopf zu heben oder meinen Stift wegzulegen, warf ich ein: ,Ein andalusischer Hund, Robinson Crusoe, Die Vergessenen, Viridiana'. Er sagte, ganz aus der Fassung gebracht: ,Ach, Sie wissen Bescheid.' Ich nutzte diesen Durchbruch, baute ihn aus und schlug eine Brücke; so kam es schließlich zu einem Dialog."
Einem Dialog mit dem Mann, der seit 1946 auf der Bühne kein Wort mehr gesprochen hatte und von dem Lanzmann schreibt, das Reden sei nicht seine Sprache, deshalb "wählte er das Schweigen" - um sogleich seiner Besorgnis Ausdruck zu geben, da dieser Mann auch ohne Fragen jenseits der Bühne sofort zu "schwadronieren" anfange und "so sehr von sich erfüllt" sei, zweifele er, Lanzmann, "schon daran, ob ich auch selber noch ein Wort an ihn richten können würde". Das ist eine der Szenen, bei der man sich wünschte, dabei gewesen zu sein. Zwei Gockel im Wettbewerb der Gockelei.
Tatsächlich sind solche Eitelkeiten in den Texten jenseits des Vorworts aber selten. Hier wirkt nichts nachgereicht, auch wenn Lanzmann uns über die Umstände, die zu einigen der Arbeiten führten, bereits im "Patagonischen Hasen" informiert hat - wie bei dem vierzigseitigen Essay über den "Priester von Uruffe" und seinen grausigen Mord an seiner schwangeren Geliebten, der er den Säugling aus dem Bauch schnitt, ihm die Augen ausstach und die Sakramente gab. Mit kreisenden Denkbewegungen geht Lanzmann in diesem in "Les Temps Modernes" erschienenen Essay der Frage nach, wie es sein konnte, dass dieser Mann der Guillotine entkam; wie er ein Mann der Kirche bleiben konnte; was das bürgerliche Recht dazu zu sagen hatte und warum es nur zum Kompromissurteil der lebenslangen Haft imstande war. Es ist ein früher Höhepunkt in diesem Buch.
Lanzmann konnte in seinen journalistischen Arbeiten (wie später in seinen Filmen) weit ausholen. Seine Porträts etwa von Jean-Paul Belmondo oder Charles Aznavour umfassen nahezu zehn Druckseiten; er hatte tage- oder auch wochenlang Zeit, sich seinen Figuren zu nähern, in ihrer Gegenwart, wenn auch manchmal nur aus der Distanz wie bei Soraya auf Capri etwa, herumzulungern, zu beobachten, was sonst noch geschah, und seinen Gedanken nachzuhängen.
Wir befinden uns bei der Lektüre also nicht nur in Gesellschaft eines großartigen Journalisten und Erzählers. Sondern auch in den gloriosen Zeiten der gedruckten Presse, als dort Platz und Geld war für längere Recherchen wie für große Textmassen. Wenn Lanzmann einmal weniger Zeit, weniger exklusiven Zugang hatte, etwa zu Richard Burton, der mit seiner Frau Liz Taylor gerade "für 750 Millionen Francs eine phantastische Albernheit" drehte (". . . die alles begehren" / The Sandpiper von Vincente Minnelli), behält er seine Verachtung nicht für sich. Angesichts der ebenfalls phantastischen Albernheiten der Pressebetreuung bekommt sein Schreiben hier einen übermütigen ironischen Drall, der über die Jahrzehnte kein bisschen verschimmelt ist. Die Geschichte erschien in "Elle" im November 1964.
Natürlich mochte Lanzmann Tati lieber. Oder Serge Gainsbourg, wenn er Jazzlieder schrieb. So sind das Überraschende an diesem Buch nicht die politischen Kommentare, sondern diese Stücke über Figuren des Unterhaltungsgeschäfts und der frühen Celebrity-Kultur, die von dem, was Lanzmanns Lebenswerk werden wird, noch nichts wissen, die aber schon zeigen, er wird einer von ihnen werden. Mit einem Werk allerdings aus einer anderen als ihrer Welt.
VERENA LUEKEN
Claude Lanzmann:
"Das Grab des göttlichen Tauchers". Ausgewählte Texte.
Aus dem Französischen von Erich Wolfgang Skwara. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2015. 544 S., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sturzflüge ins Leere
Claude Lanzmann war immer auch Journalist – Eine Auswahl vereint Reportagen, Erzählungen, Porträts, Polemiken
Nie wieder Agadir, sagt die Frau, am langen Tisch eines Speisesaals zusammengesunken, sie sagt es immer wieder, mechanisch, nie wieder Agadir, „wir gehen fort, wir machen Schluss mit Marokko. Es ist vorbei!“ Sie sagt es, fährt es Claude Lanzmann, der diese Szene beschreibt, durch den Sinn, „genau so wie wir einst gerufen hatten: ,Nie wieder Oradour‘“. Lanzmann war in Agadir, damals im Februar 1960, nachdem die Stadt durch ein furchtbares Erdbeben zerstört worden war.
Der knappe Text, den er im März dann veröffentlichte im France-Observateur, klingt immer noch verstörend aktuell – die Katastrophen heute sind aus dem gleichen Material, Schrecken und Sinnlosigkeit, das Zusammenfallen von politischer und natürlicher Katastrophe, die Dialektik von Kolonialismus und Zivilisation, ein Land, das um seine Unabhängigkeit kämpft, muss von den verhassten französischen Soldaten sich helfen lassen. Ein bitterer Tanz um Freiheit. „Die Aufgabe war einfach: Die Stangen mussten mit Metallschneidern zertrennt werden, um den Körper zu befreien, ihn in ein Leichentuch zu legen und im Laufschritt davonzutragen. Ein Matrose mit Mundschutz trat näher und schnitt in den Stahl, wobei er einen seltsamen Tanzschritt vollführte, um auf Distanz zu bleiben. Ein anderer löste ihn ab. Das Ganze ging zwei Stunden.“ Oradour steht für eine der grausamen Schreckenstaten der Nazis in Frankreich, Ort der Hinrichtung von Hunderten von Männern, Frauen und Kindern durch eine SS-Division am 10. Juni 1944. Die kurze Reportage aus Agadir stellt Lanzmann, wenn er sie nun in seinem Band „Das Grab des göttlichen Tauchers“ wieder abdruckt, in die Abteilung „Erzählungen“.
Man kennt Claude Lanzmann, der am vorigen Freitag neunzig Jahre alt wurde, vor allem als Filmemacher, als Schöpfer des großen Films „Shoah“, in dem er Überlebende der Konzentrationslager vor die Kamera holte und ihre Erinnerungen reaktivierte, mit unerbittlicher Hartnäckigkeit. In diesem Band nun lernt man den anderen Lanzmann kennen, den „populären“ – auch wenn in einer Abteilung seine Texte zu „Shoah“ – auch seine Kritik an Spielbergs KZ-Film „Schindlers Liste“ – und Texte zum Staat Israel versammelt sind, zu dessen Ideologie und dessen Kriegen, zu Israels Überlebenswillen und dem Hass, den es dafür erfährt. Politiker aller Couleur tauchen in diesen Texten natürlich auf, aber auch der dubiose Barbie-Anwalt Vergès und der Philosoph Gilles Deleuze, weil der an dem antisemitischen Film „Schatten der Engel“ nach Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“ die Schönheit rühmte.
Lanzmann ist unnachsichtig und engagiert, bezieht knallhart politisch Stellung, so wie er es bei den Temps modernes lernte und praktizierte, der von Sartre gegründeten Zeitschrift. Neben dieser Arbeit hat Lanzmann zwischen 1950 und 1970 aber auch durchaus seinen „Brotjournalismus“ erledigt, hat vor allem für die Frauenzeitschrift Elle, Monat für Monat, Texte geliefert, unter dem Pseudonym Jean-Jacques Delacroix (Jean-Jacques Schreiber, Eugène Delacroix, Johannes vom Kreuz!). Auch in diesen Texten zeigt sich Lanzmann voll engagiert, süchtig nach dem Leben in seinen merkwürdigsten Formen, das er lustvoll in prägnanten Miniaturen einfängt. Die ganze Hartnäckigkeit ist schon da, die man aus seinen Filmen kennt, die gleiche Offenheit, aber auch schon die Fähigkeit, wenn es sein muss auf Distanz zu bleiben.
Lanzmann porträtiert französische Akteure wie François Périer, Sami Frey, Jean-Paul Belmondo, Edwige Feuillère, aber auch internationale Jet-Set-Stars wie Richard Burton oder Soraya, frustriert und fasziniert zugleich von den Spielregeln, nach denen deren Leben sich gestaltet und die Möglichkeiten, an sie eine Annäherung zustande zu bringen. Leichter ist dagegen der Besuch bei Jacques Tati, beim Dreh seines modernen Monsterfilms „Playtime“ – besonders gern lauscht er Madame Tatis Lobrede auf den filmbesessenen Gatten, dem sie tapfer die Treue hält: „Schließlich gefällt mir diese Art Leben viel besser als eine Greisenexistenz mit einem Beamten.“ Kummer bereitet ihr nur, dass Tati sich so abrackert. „Seit vier Jahren hat er keinen Tag Urlaub gemacht, stellen Sie sich das einmal vor! Ich übrigens auch nicht. Und dabei macht er dauernd Filme über Feste und Ferien!“
Lanzmann, der über ganz andere Themen Filme machen wird, mag was Einsatz und Unermüdlichkeit angeht in Tati durchaus schon mal ein Alter Ego gesehen haben – ganze zwölf Jahre hat er an „Shoah“ gearbeitet, auch für die Finanzierung selber gesorgt, schließlich das gewaltige Material in einen Neun-Stunden-Film gebracht.
Das ist vielleicht die beste Art, dieses Buch zu lesen – es immer im Kontext lesen zu Lanzmanns Leben und Schaffen, zu dem, was man in seinem Memoirenbuch „Der patagonische Hase“ erzählt bekam. Es gibt jede Menge Absurdes und Doppelsinniges, zum Beispiel trifft er Richard Burton bei den Dreharbeiten zu einer „phantastischen Albernheit“, dem „Sandpiper“, den dieser mit seiner Frau Liz Taylor für die MGM dreht. Sie ist eine Malerin am Big Sur, er ist ein verheirateter Pastor, der sich in sie verliebt. Sie ist Verkörperung der Freiheit – ganz wie bei Simone de Beauvoir, bemüht sich die Pressedame dem wartenden Lanzmann zu verdeutlichen. Aus dem „Patagonischen Hasen“ wissen wir, welch verquere Beziehung Lanzmann mit Beauvoir und Sartre hatte, amourös und intellektuell.
Gleichwohl hat Lanzmann dann energisch den alten Sartre verteidigt, ausgerechnet in Elle, als der nach seinem autobiografischen Buch „Die Wörter“ als Verräter an der engagierten, linken, revolutionären Sache geschmäht wurde: „Sie schneiden in das lebendige Fleisch eines ergreifenden und heiteren Buches, in dem jedes Wort – eine Selbstoffenbarung der Literatur – sich selber anficht, sodass am Ende nichts als ein Skelett übrigbleibt: Sie nehmen ,Die Wörter‘ beim Wort und halten jedes Wort für die Sache an sich . . . Der Philosoph von ,Das Sein und das Nichts‘ hat kein Anrecht auf ein wenig Nichts.“
Seines Anrechts auf ein wenig Nichts, auf den schönen Schein der modernen Welt war sich der Autor Claude Lanzmann immer gewiss. Man soll ihn, um die berühmten Kategorien von Roland Barthes zu benutzen, immer als echten Schriftsteller lesen, dem es nicht um die aktuelle Sache geht, sondern auch um die Sprache, an der er mit jedem Text arbeitet. Dem Taucher, als dessen Apostel er sich mit diesem Band sieht, ist Lanzmann im italienischen Paestum begegnet, auf dem berühmten, 1968 entdeckten Grabdeckel.
Zu dieser Figur, die Turmspringer und Taucher zugleich ist, Eleganz und Tiefgründigkeit vereint, ist Lanzmann immer wieder zurückgekehrt: „Ich wage nicht zu glauben, dass jemand, wenn es so weit sein wird, auf die Idee verfallen könnte, meinen Körper oder der Erinnerung an mich das Adjektiv ,göttlich‘ beizufügen, aber ich fordere den Rang des Tauchers für mich ein. Mein ganzes Leben habe ich nach der Wahrheit getaucht, und nicht nur im Meer. Alle wichtigen Entscheidungen, die ich zu treffen hatte, waren wie Kopfsprünge, Sturzflüge ins Leere, sämtlicher Sicherheiten ledig und ich war genötigt, erfolgreich oder zumindest bereit zu sein, jene schwerwiegenden Folgen auf mich zu nehmen, die ein Misslingen bedeutet hätte.“
FRITZ GÖTTLER
Zwischen 1950 und 1970
schrieb er Monat für Monat
für die Frauenzeitschrift Elle
Claude Lanzmann: Das Grab des göttlichen Tauchers. Ausgewählte Texte. Aus dem Französischen von Erich Wolfgang Skwara. Rowohlt Verlag, Reinbek 2015. 543 Seiten, 26,95 Euro. E-Book 23,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Claude Lanzmann war immer auch Journalist – Eine Auswahl vereint Reportagen, Erzählungen, Porträts, Polemiken
Nie wieder Agadir, sagt die Frau, am langen Tisch eines Speisesaals zusammengesunken, sie sagt es immer wieder, mechanisch, nie wieder Agadir, „wir gehen fort, wir machen Schluss mit Marokko. Es ist vorbei!“ Sie sagt es, fährt es Claude Lanzmann, der diese Szene beschreibt, durch den Sinn, „genau so wie wir einst gerufen hatten: ,Nie wieder Oradour‘“. Lanzmann war in Agadir, damals im Februar 1960, nachdem die Stadt durch ein furchtbares Erdbeben zerstört worden war.
Der knappe Text, den er im März dann veröffentlichte im France-Observateur, klingt immer noch verstörend aktuell – die Katastrophen heute sind aus dem gleichen Material, Schrecken und Sinnlosigkeit, das Zusammenfallen von politischer und natürlicher Katastrophe, die Dialektik von Kolonialismus und Zivilisation, ein Land, das um seine Unabhängigkeit kämpft, muss von den verhassten französischen Soldaten sich helfen lassen. Ein bitterer Tanz um Freiheit. „Die Aufgabe war einfach: Die Stangen mussten mit Metallschneidern zertrennt werden, um den Körper zu befreien, ihn in ein Leichentuch zu legen und im Laufschritt davonzutragen. Ein Matrose mit Mundschutz trat näher und schnitt in den Stahl, wobei er einen seltsamen Tanzschritt vollführte, um auf Distanz zu bleiben. Ein anderer löste ihn ab. Das Ganze ging zwei Stunden.“ Oradour steht für eine der grausamen Schreckenstaten der Nazis in Frankreich, Ort der Hinrichtung von Hunderten von Männern, Frauen und Kindern durch eine SS-Division am 10. Juni 1944. Die kurze Reportage aus Agadir stellt Lanzmann, wenn er sie nun in seinem Band „Das Grab des göttlichen Tauchers“ wieder abdruckt, in die Abteilung „Erzählungen“.
Man kennt Claude Lanzmann, der am vorigen Freitag neunzig Jahre alt wurde, vor allem als Filmemacher, als Schöpfer des großen Films „Shoah“, in dem er Überlebende der Konzentrationslager vor die Kamera holte und ihre Erinnerungen reaktivierte, mit unerbittlicher Hartnäckigkeit. In diesem Band nun lernt man den anderen Lanzmann kennen, den „populären“ – auch wenn in einer Abteilung seine Texte zu „Shoah“ – auch seine Kritik an Spielbergs KZ-Film „Schindlers Liste“ – und Texte zum Staat Israel versammelt sind, zu dessen Ideologie und dessen Kriegen, zu Israels Überlebenswillen und dem Hass, den es dafür erfährt. Politiker aller Couleur tauchen in diesen Texten natürlich auf, aber auch der dubiose Barbie-Anwalt Vergès und der Philosoph Gilles Deleuze, weil der an dem antisemitischen Film „Schatten der Engel“ nach Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“ die Schönheit rühmte.
Lanzmann ist unnachsichtig und engagiert, bezieht knallhart politisch Stellung, so wie er es bei den Temps modernes lernte und praktizierte, der von Sartre gegründeten Zeitschrift. Neben dieser Arbeit hat Lanzmann zwischen 1950 und 1970 aber auch durchaus seinen „Brotjournalismus“ erledigt, hat vor allem für die Frauenzeitschrift Elle, Monat für Monat, Texte geliefert, unter dem Pseudonym Jean-Jacques Delacroix (Jean-Jacques Schreiber, Eugène Delacroix, Johannes vom Kreuz!). Auch in diesen Texten zeigt sich Lanzmann voll engagiert, süchtig nach dem Leben in seinen merkwürdigsten Formen, das er lustvoll in prägnanten Miniaturen einfängt. Die ganze Hartnäckigkeit ist schon da, die man aus seinen Filmen kennt, die gleiche Offenheit, aber auch schon die Fähigkeit, wenn es sein muss auf Distanz zu bleiben.
Lanzmann porträtiert französische Akteure wie François Périer, Sami Frey, Jean-Paul Belmondo, Edwige Feuillère, aber auch internationale Jet-Set-Stars wie Richard Burton oder Soraya, frustriert und fasziniert zugleich von den Spielregeln, nach denen deren Leben sich gestaltet und die Möglichkeiten, an sie eine Annäherung zustande zu bringen. Leichter ist dagegen der Besuch bei Jacques Tati, beim Dreh seines modernen Monsterfilms „Playtime“ – besonders gern lauscht er Madame Tatis Lobrede auf den filmbesessenen Gatten, dem sie tapfer die Treue hält: „Schließlich gefällt mir diese Art Leben viel besser als eine Greisenexistenz mit einem Beamten.“ Kummer bereitet ihr nur, dass Tati sich so abrackert. „Seit vier Jahren hat er keinen Tag Urlaub gemacht, stellen Sie sich das einmal vor! Ich übrigens auch nicht. Und dabei macht er dauernd Filme über Feste und Ferien!“
Lanzmann, der über ganz andere Themen Filme machen wird, mag was Einsatz und Unermüdlichkeit angeht in Tati durchaus schon mal ein Alter Ego gesehen haben – ganze zwölf Jahre hat er an „Shoah“ gearbeitet, auch für die Finanzierung selber gesorgt, schließlich das gewaltige Material in einen Neun-Stunden-Film gebracht.
Das ist vielleicht die beste Art, dieses Buch zu lesen – es immer im Kontext lesen zu Lanzmanns Leben und Schaffen, zu dem, was man in seinem Memoirenbuch „Der patagonische Hase“ erzählt bekam. Es gibt jede Menge Absurdes und Doppelsinniges, zum Beispiel trifft er Richard Burton bei den Dreharbeiten zu einer „phantastischen Albernheit“, dem „Sandpiper“, den dieser mit seiner Frau Liz Taylor für die MGM dreht. Sie ist eine Malerin am Big Sur, er ist ein verheirateter Pastor, der sich in sie verliebt. Sie ist Verkörperung der Freiheit – ganz wie bei Simone de Beauvoir, bemüht sich die Pressedame dem wartenden Lanzmann zu verdeutlichen. Aus dem „Patagonischen Hasen“ wissen wir, welch verquere Beziehung Lanzmann mit Beauvoir und Sartre hatte, amourös und intellektuell.
Gleichwohl hat Lanzmann dann energisch den alten Sartre verteidigt, ausgerechnet in Elle, als der nach seinem autobiografischen Buch „Die Wörter“ als Verräter an der engagierten, linken, revolutionären Sache geschmäht wurde: „Sie schneiden in das lebendige Fleisch eines ergreifenden und heiteren Buches, in dem jedes Wort – eine Selbstoffenbarung der Literatur – sich selber anficht, sodass am Ende nichts als ein Skelett übrigbleibt: Sie nehmen ,Die Wörter‘ beim Wort und halten jedes Wort für die Sache an sich . . . Der Philosoph von ,Das Sein und das Nichts‘ hat kein Anrecht auf ein wenig Nichts.“
Seines Anrechts auf ein wenig Nichts, auf den schönen Schein der modernen Welt war sich der Autor Claude Lanzmann immer gewiss. Man soll ihn, um die berühmten Kategorien von Roland Barthes zu benutzen, immer als echten Schriftsteller lesen, dem es nicht um die aktuelle Sache geht, sondern auch um die Sprache, an der er mit jedem Text arbeitet. Dem Taucher, als dessen Apostel er sich mit diesem Band sieht, ist Lanzmann im italienischen Paestum begegnet, auf dem berühmten, 1968 entdeckten Grabdeckel.
Zu dieser Figur, die Turmspringer und Taucher zugleich ist, Eleganz und Tiefgründigkeit vereint, ist Lanzmann immer wieder zurückgekehrt: „Ich wage nicht zu glauben, dass jemand, wenn es so weit sein wird, auf die Idee verfallen könnte, meinen Körper oder der Erinnerung an mich das Adjektiv ,göttlich‘ beizufügen, aber ich fordere den Rang des Tauchers für mich ein. Mein ganzes Leben habe ich nach der Wahrheit getaucht, und nicht nur im Meer. Alle wichtigen Entscheidungen, die ich zu treffen hatte, waren wie Kopfsprünge, Sturzflüge ins Leere, sämtlicher Sicherheiten ledig und ich war genötigt, erfolgreich oder zumindest bereit zu sein, jene schwerwiegenden Folgen auf mich zu nehmen, die ein Misslingen bedeutet hätte.“
FRITZ GÖTTLER
Zwischen 1950 und 1970
schrieb er Monat für Monat
für die Frauenzeitschrift Elle
Claude Lanzmann: Das Grab des göttlichen Tauchers. Ausgewählte Texte. Aus dem Französischen von Erich Wolfgang Skwara. Rowohlt Verlag, Reinbek 2015. 543 Seiten, 26,95 Euro. E-Book 23,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wie man das Schweigen bricht
Der französische Filmemacher Claude Lanzmann zeigt uns sein journalistisches Frühwerk, das voller Überraschungen steckt. Sogar den Pantomimen Marcel Marceau brachte er zum Reden.
Kann ein Artikel über Steven Spielberg ätzender beginnen als mit dem Satz: "Ich schätze Steven Spielberg. Ich habe ,Indiana Jones' gesehen, ich habe ,Jäger des verlorenen Schatzes' und ,E.T. - Der Außerirdische' gesehen, ich glaube, ich habe auch seinen Film ,Der weiße Hai' gesehen, und ich mag seine Filme sehr." "Ich glaube, ich habe auch den ,Weißen Hai' gesehen": "Ich glaube" - das ist ein starkes Stück Beleidigung, und vermutlich war es genauso gemeint. Denn im Folgenden geht es darum, wie Spielbergs Film "Schindlers Liste" die historische Wahrheit über den Holocaust verzerrt.
Lanzmanns Polemik gegen Spielbergs Film gilt bis heute. Angesichts der anschwellenden Zahl von Fiktionen und Dokufiktionen über die Judenvernichtung in Büchern, im Kino und Fernsehen, die mit immer weiterem historischen Abstand immer schamloser mit Bildern aus den Lagern und Phantasien über das Innere der Tötungsmaschinerie umgehen, kann ein Wiederlesen nicht schaden.
Claude Lanzmann, den die meisten Menschen als Filmemacher und Regisseur von "Shoah" kennen, hat nicht nur zu Gelegenheiten wie dem Kinostart von "Schindlers Liste" geschrieben. Vielmehr hat er, bevor er begann, Filme zu drehen, zwanzig Jahre lang (von 1950 bis 1970) als Journalist, als "Schreiber", wie er es nennt, sein Geld verdient. Er veröffentlichte seine Stücke in Zeitschriften verschiedener Art, etwa in der von Jean-Paul Sartre gegründeten "Les Temps Modernes" (deren Herausgeber Lanzmann heute immer noch ist), aber auch (fast immer Auftragswerke) im Magazin "Elle" und manchmal in Tageszeitungen. Er publizierte unter eigenem Namen oder unter dem Pseudonym "Jean-Jacques Delacroix", wenn ihm der Gegenstand eines Artikels - Filmschauspieler, Chansoniers - des eigenen Namens nicht würdig erschienen.
Um diese Artikel sowie um seine politischen und polemischen Interviews und Einwürfe, zum Beispiel eben zu Spielbergs "Schindlers Liste" oder zu Fassbinders "Schatten der Engel", zu Israel und zum Kosovo-Krieg, geht es hier. Im Vorwort erzählt Lanzmann ganz unbefangen von dem großen Vergnügen, das ihm das Wiederlesen seiner eigenen Texte bereitet habe, weshalb er sie an verstreuten Orten aufgesammelt hat, um sie in diesem dicken Buch vereint der Öffentlichkeit zu präsentieren. Überschätzt er sich?
Lanzmann hatte, als vor fünf Jahren sein großes Erinnerungsbuch ("Der patagonische Hase") auf Deutsch erschien, bereits angekündigt, seine alten Artikel gesammelt herauszubringen, und ein bisschen angegeben damit, dass in keinen Schubladen irgendwo unveröffentlichte Texte von ihm herumlägen. Was aus seiner Feder floss, hatte schon immer den Weg zum Leser gefunden. Das ist, was die meisten der hier versammelten Stücke angeht, sehr lange her. Ist also auch unser Vergnügen an ihnen groß? Fast ausnahmslos: ja und unbedingt.
Wobei sich die Einschränkung auf einige allzu eitle Passagen bezieht, die ihm etwa in seinem brillant beobachteten Porträt des Pantomimen Marcel Marceau unterlaufen. Hatte Lanzmann je von Nehru, von Buñuel gehört?, fragt Marceau. "Rascher als er; ohne den Kopf zu heben oder meinen Stift wegzulegen, warf ich ein: ,Ein andalusischer Hund, Robinson Crusoe, Die Vergessenen, Viridiana'. Er sagte, ganz aus der Fassung gebracht: ,Ach, Sie wissen Bescheid.' Ich nutzte diesen Durchbruch, baute ihn aus und schlug eine Brücke; so kam es schließlich zu einem Dialog."
Einem Dialog mit dem Mann, der seit 1946 auf der Bühne kein Wort mehr gesprochen hatte und von dem Lanzmann schreibt, das Reden sei nicht seine Sprache, deshalb "wählte er das Schweigen" - um sogleich seiner Besorgnis Ausdruck zu geben, da dieser Mann auch ohne Fragen jenseits der Bühne sofort zu "schwadronieren" anfange und "so sehr von sich erfüllt" sei, zweifele er, Lanzmann, "schon daran, ob ich auch selber noch ein Wort an ihn richten können würde". Das ist eine der Szenen, bei der man sich wünschte, dabei gewesen zu sein. Zwei Gockel im Wettbewerb der Gockelei.
Tatsächlich sind solche Eitelkeiten in den Texten jenseits des Vorworts aber selten. Hier wirkt nichts nachgereicht, auch wenn Lanzmann uns über die Umstände, die zu einigen der Arbeiten führten, bereits im "Patagonischen Hasen" informiert hat - wie bei dem vierzigseitigen Essay über den "Priester von Uruffe" und seinen grausigen Mord an seiner schwangeren Geliebten, der er den Säugling aus dem Bauch schnitt, ihm die Augen ausstach und die Sakramente gab. Mit kreisenden Denkbewegungen geht Lanzmann in diesem in "Les Temps Modernes" erschienenen Essay der Frage nach, wie es sein konnte, dass dieser Mann der Guillotine entkam; wie er ein Mann der Kirche bleiben konnte; was das bürgerliche Recht dazu zu sagen hatte und warum es nur zum Kompromissurteil der lebenslangen Haft imstande war. Es ist ein früher Höhepunkt in diesem Buch.
Lanzmann konnte in seinen journalistischen Arbeiten (wie später in seinen Filmen) weit ausholen. Seine Porträts etwa von Jean-Paul Belmondo oder Charles Aznavour umfassen nahezu zehn Druckseiten; er hatte tage- oder auch wochenlang Zeit, sich seinen Figuren zu nähern, in ihrer Gegenwart, wenn auch manchmal nur aus der Distanz wie bei Soraya auf Capri etwa, herumzulungern, zu beobachten, was sonst noch geschah, und seinen Gedanken nachzuhängen.
Wir befinden uns bei der Lektüre also nicht nur in Gesellschaft eines großartigen Journalisten und Erzählers. Sondern auch in den gloriosen Zeiten der gedruckten Presse, als dort Platz und Geld war für längere Recherchen wie für große Textmassen. Wenn Lanzmann einmal weniger Zeit, weniger exklusiven Zugang hatte, etwa zu Richard Burton, der mit seiner Frau Liz Taylor gerade "für 750 Millionen Francs eine phantastische Albernheit" drehte (". . . die alles begehren" / The Sandpiper von Vincente Minnelli), behält er seine Verachtung nicht für sich. Angesichts der ebenfalls phantastischen Albernheiten der Pressebetreuung bekommt sein Schreiben hier einen übermütigen ironischen Drall, der über die Jahrzehnte kein bisschen verschimmelt ist. Die Geschichte erschien in "Elle" im November 1964.
Natürlich mochte Lanzmann Tati lieber. Oder Serge Gainsbourg, wenn er Jazzlieder schrieb. So sind das Überraschende an diesem Buch nicht die politischen Kommentare, sondern diese Stücke über Figuren des Unterhaltungsgeschäfts und der frühen Celebrity-Kultur, die von dem, was Lanzmanns Lebenswerk werden wird, noch nichts wissen, die aber schon zeigen, er wird einer von ihnen werden. Mit einem Werk allerdings aus einer anderen als ihrer Welt.
VERENA LUEKEN
Claude Lanzmann:
"Das Grab des göttlichen Tauchers". Ausgewählte Texte.
Aus dem Französischen von Erich Wolfgang Skwara. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2015. 544 S., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der französische Filmemacher Claude Lanzmann zeigt uns sein journalistisches Frühwerk, das voller Überraschungen steckt. Sogar den Pantomimen Marcel Marceau brachte er zum Reden.
Kann ein Artikel über Steven Spielberg ätzender beginnen als mit dem Satz: "Ich schätze Steven Spielberg. Ich habe ,Indiana Jones' gesehen, ich habe ,Jäger des verlorenen Schatzes' und ,E.T. - Der Außerirdische' gesehen, ich glaube, ich habe auch seinen Film ,Der weiße Hai' gesehen, und ich mag seine Filme sehr." "Ich glaube, ich habe auch den ,Weißen Hai' gesehen": "Ich glaube" - das ist ein starkes Stück Beleidigung, und vermutlich war es genauso gemeint. Denn im Folgenden geht es darum, wie Spielbergs Film "Schindlers Liste" die historische Wahrheit über den Holocaust verzerrt.
Lanzmanns Polemik gegen Spielbergs Film gilt bis heute. Angesichts der anschwellenden Zahl von Fiktionen und Dokufiktionen über die Judenvernichtung in Büchern, im Kino und Fernsehen, die mit immer weiterem historischen Abstand immer schamloser mit Bildern aus den Lagern und Phantasien über das Innere der Tötungsmaschinerie umgehen, kann ein Wiederlesen nicht schaden.
Claude Lanzmann, den die meisten Menschen als Filmemacher und Regisseur von "Shoah" kennen, hat nicht nur zu Gelegenheiten wie dem Kinostart von "Schindlers Liste" geschrieben. Vielmehr hat er, bevor er begann, Filme zu drehen, zwanzig Jahre lang (von 1950 bis 1970) als Journalist, als "Schreiber", wie er es nennt, sein Geld verdient. Er veröffentlichte seine Stücke in Zeitschriften verschiedener Art, etwa in der von Jean-Paul Sartre gegründeten "Les Temps Modernes" (deren Herausgeber Lanzmann heute immer noch ist), aber auch (fast immer Auftragswerke) im Magazin "Elle" und manchmal in Tageszeitungen. Er publizierte unter eigenem Namen oder unter dem Pseudonym "Jean-Jacques Delacroix", wenn ihm der Gegenstand eines Artikels - Filmschauspieler, Chansoniers - des eigenen Namens nicht würdig erschienen.
Um diese Artikel sowie um seine politischen und polemischen Interviews und Einwürfe, zum Beispiel eben zu Spielbergs "Schindlers Liste" oder zu Fassbinders "Schatten der Engel", zu Israel und zum Kosovo-Krieg, geht es hier. Im Vorwort erzählt Lanzmann ganz unbefangen von dem großen Vergnügen, das ihm das Wiederlesen seiner eigenen Texte bereitet habe, weshalb er sie an verstreuten Orten aufgesammelt hat, um sie in diesem dicken Buch vereint der Öffentlichkeit zu präsentieren. Überschätzt er sich?
Lanzmann hatte, als vor fünf Jahren sein großes Erinnerungsbuch ("Der patagonische Hase") auf Deutsch erschien, bereits angekündigt, seine alten Artikel gesammelt herauszubringen, und ein bisschen angegeben damit, dass in keinen Schubladen irgendwo unveröffentlichte Texte von ihm herumlägen. Was aus seiner Feder floss, hatte schon immer den Weg zum Leser gefunden. Das ist, was die meisten der hier versammelten Stücke angeht, sehr lange her. Ist also auch unser Vergnügen an ihnen groß? Fast ausnahmslos: ja und unbedingt.
Wobei sich die Einschränkung auf einige allzu eitle Passagen bezieht, die ihm etwa in seinem brillant beobachteten Porträt des Pantomimen Marcel Marceau unterlaufen. Hatte Lanzmann je von Nehru, von Buñuel gehört?, fragt Marceau. "Rascher als er; ohne den Kopf zu heben oder meinen Stift wegzulegen, warf ich ein: ,Ein andalusischer Hund, Robinson Crusoe, Die Vergessenen, Viridiana'. Er sagte, ganz aus der Fassung gebracht: ,Ach, Sie wissen Bescheid.' Ich nutzte diesen Durchbruch, baute ihn aus und schlug eine Brücke; so kam es schließlich zu einem Dialog."
Einem Dialog mit dem Mann, der seit 1946 auf der Bühne kein Wort mehr gesprochen hatte und von dem Lanzmann schreibt, das Reden sei nicht seine Sprache, deshalb "wählte er das Schweigen" - um sogleich seiner Besorgnis Ausdruck zu geben, da dieser Mann auch ohne Fragen jenseits der Bühne sofort zu "schwadronieren" anfange und "so sehr von sich erfüllt" sei, zweifele er, Lanzmann, "schon daran, ob ich auch selber noch ein Wort an ihn richten können würde". Das ist eine der Szenen, bei der man sich wünschte, dabei gewesen zu sein. Zwei Gockel im Wettbewerb der Gockelei.
Tatsächlich sind solche Eitelkeiten in den Texten jenseits des Vorworts aber selten. Hier wirkt nichts nachgereicht, auch wenn Lanzmann uns über die Umstände, die zu einigen der Arbeiten führten, bereits im "Patagonischen Hasen" informiert hat - wie bei dem vierzigseitigen Essay über den "Priester von Uruffe" und seinen grausigen Mord an seiner schwangeren Geliebten, der er den Säugling aus dem Bauch schnitt, ihm die Augen ausstach und die Sakramente gab. Mit kreisenden Denkbewegungen geht Lanzmann in diesem in "Les Temps Modernes" erschienenen Essay der Frage nach, wie es sein konnte, dass dieser Mann der Guillotine entkam; wie er ein Mann der Kirche bleiben konnte; was das bürgerliche Recht dazu zu sagen hatte und warum es nur zum Kompromissurteil der lebenslangen Haft imstande war. Es ist ein früher Höhepunkt in diesem Buch.
Lanzmann konnte in seinen journalistischen Arbeiten (wie später in seinen Filmen) weit ausholen. Seine Porträts etwa von Jean-Paul Belmondo oder Charles Aznavour umfassen nahezu zehn Druckseiten; er hatte tage- oder auch wochenlang Zeit, sich seinen Figuren zu nähern, in ihrer Gegenwart, wenn auch manchmal nur aus der Distanz wie bei Soraya auf Capri etwa, herumzulungern, zu beobachten, was sonst noch geschah, und seinen Gedanken nachzuhängen.
Wir befinden uns bei der Lektüre also nicht nur in Gesellschaft eines großartigen Journalisten und Erzählers. Sondern auch in den gloriosen Zeiten der gedruckten Presse, als dort Platz und Geld war für längere Recherchen wie für große Textmassen. Wenn Lanzmann einmal weniger Zeit, weniger exklusiven Zugang hatte, etwa zu Richard Burton, der mit seiner Frau Liz Taylor gerade "für 750 Millionen Francs eine phantastische Albernheit" drehte (". . . die alles begehren" / The Sandpiper von Vincente Minnelli), behält er seine Verachtung nicht für sich. Angesichts der ebenfalls phantastischen Albernheiten der Pressebetreuung bekommt sein Schreiben hier einen übermütigen ironischen Drall, der über die Jahrzehnte kein bisschen verschimmelt ist. Die Geschichte erschien in "Elle" im November 1964.
Natürlich mochte Lanzmann Tati lieber. Oder Serge Gainsbourg, wenn er Jazzlieder schrieb. So sind das Überraschende an diesem Buch nicht die politischen Kommentare, sondern diese Stücke über Figuren des Unterhaltungsgeschäfts und der frühen Celebrity-Kultur, die von dem, was Lanzmanns Lebenswerk werden wird, noch nichts wissen, die aber schon zeigen, er wird einer von ihnen werden. Mit einem Werk allerdings aus einer anderen als ihrer Welt.
VERENA LUEKEN
Claude Lanzmann:
"Das Grab des göttlichen Tauchers". Ausgewählte Texte.
Aus dem Französischen von Erich Wolfgang Skwara. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2015. 544 S., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main