Vieles, wenn nicht alles, hing vom Kaiser ab. Würde und konnte er seiner Verantwortung gerecht werden? Konnte er die divergierenden Interessen zwischen den Kabinetten, der Heeres- und Marineführung sowie dem Reichskanzler bündeln? Und: Konnte er überhaupt führen?
Die Studie von Gerhard P. Groß geht weit über eine Organisationsgeschichte hinaus. Sie ist zugleich ein institutionelles Psychogramm, das die Lebensrealität im GrHQ abbildet und untersucht, welche Einflüsse der Alltag auf Führungsentscheidungen hatte - kurz: wie das GrHQ funktionierte.
Gerhard P. Groß, Oberstleutnant i.G., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Potsdam.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Ausritte mussten sein: Gerhard P. Groß macht mit dem Großen Hauptquartier Kaiser Wilhelms II. bekannt.
Es geht in diesem Buch um einen Moloch. Hinter den drei Buchstaben GHQ, mit dem gemeinhin das "Große Hauptquartier seiner Majestät des Kaisers und Königs" abgekürzt wird, umfasste nicht weniger als viertausend Menschen - vom obersten General bis zur Küchenhilfe, wozu noch eine unbekannte Anzahl von jeweiligen "Ortskräften" kam. Und allein die Tatsache, dass es gelang, diese ungeheure Menge, inklusive Seiner Majestät Gemahlin und Kinder, von Koblenz nach Luxemburg, Charleville-Mézières beziehungsweise Pleß (für das Ostheer), Kreuznach und schließlich Spa zu befördern, war eine logistische Meisterleistung, von der allerdings bislang noch niemand gesprochen hat.
Gerhard P. Groß, den Weltkriegshistorikern gut bekannt als Spezialist für Schlieffen und seinen Aufmarschplan sowie die Geschichte des operativen militärstrategischen Denkens, hat mit diesem Buch eine Arbeit geleistet, die auf vielen archivalischen Quellen und Memoiren beteiligter Akteure beruht. Und natürlich hat er auch die Forschungsliteratur, etwa Holger Afflerbachs Falkenhayn-Biographie und John Roehls Biographie des Kaisers, herangezogen.
Das GHQ als zentrale militärische Behörde war verantwortlich für die gesamte Kriegsplanung und die Organisation aller militärischen Einheiten, hier fanden sich also die Stäbe des Heeres und der Marine zusammen. Es war aber auch, so der Verfasser in einer pointierten Formulierung, die zentrale Leitinstanz für alle politischen und militärischen Angelegenheiten des Kaiserreichs.
Seine Beschreibung dieser Instanz zeichnet aber das Bild eines Ensembles verschiedenster Autoritäten, deren Rangfolge stets aufs Neue ausgehandelt werden musste - nicht zuletzt über den Weg eines täglichen geübten allumfassenden Intrigantentums. Es knirschte in allen institutionellen und persönlichen Beziehungen. So konnte etwa der Chef des Marinekabinetts, Georg Alexander von Müller - dessen Memoiren eine immer schon stark beachtete Quelle sind - sich nur halten, weil der Kaiser letztlich doch die Hand über ihn hielt.
Während die im GHQ mitfahrenden Militärbevollmächtigten der Einzelstaaten offensichtlich auch in den Kriegsjahren nicht verstanden, dass es ein gesamtdeutsches Heer gab, und permanent versuchten, die Interessen, etwa der bayerischen und sächsischen Armee oder des württembergischen Kontingents, durchzusetzen.
Das Organigramm des GQH nach dem Stand von 1917/18 vermittelt einen Eindruck von der Vielgestaltigkeit dieser Institution: Formell Hauptperson war der deutsche Kaiser Wilhelm II. "Oberster Kriegsherr". Ihm unterstanden - und mit ihm reisten - der Chef des Generalstabs des Feldheeres oder besser: die Oberste Heeresleitung (OHL), zunächst Moltke der Jüngere, dann Falkenhayn und schließlich Hindenburg. Dazu kamen noch der Chef des Admiralstabs, der Stab des preußischen Kriegsministers (das Reich hatte keinen eigenen Kriegsminister), der Vertreter des Reichskanzlers bei der OHL, die bereits genannten Militärbevollmächtigten der Einzelstaaten sowie diejenigen der verbündeten Staaten Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei. Damit nicht genug, gab es auch den Oberhofmarschall mit seinem Amt und die sogenannten General- und Flügeladjutanten des Kaisers, deren Verhältnis zu den Chefs der Kabinette seiner Majestät - Militärkabinett, Marinekabinett und Geheimes Zivilkabinett - sehr gespannt war. Und es kamen noch eine Reihe weiterer Mitspieler hinzu.
Es versteht sich, dass ein solches Ensemble, dessen Struktur nur zum kleinen Teil verfassungs- beziehungsweise staatsrechtlich fundiert war, durch persönlichen Kontakte und Intrigen funktionierte oder eben nicht funktionierte. Wichtig ist, dass die Kabinettchefs und Flügeladjutanten alle Hände voll zu tun hatten, dem auf Dauer immer deutlicher nachlassenden Respekt vor Wilhelm II. zu begegnen.
Mit einer Vielzahl von Beispielen zeigt Groß, wie pompös der Lebensstil des Kaisers und seines Gefolges während des gesamten Krieges war und blieb. Die hemmungslose Schlemmerei zu einer Zeit, in der Teile der Bevölkerung hungerten, zeigen vielleicht am eindringlichsten, wie sehr dieses Kaisertum aus der Zeit gefallen war.
Spaziergänge als Institution der Kommunikation sind dem Autor zu Recht einen eigenen Abschnitt wert, genauso wie das Ausreiten. Allein zum Ausreiten der hohen Herren gab es noch im Jahr 1918 mehr als achthundert Pferde im GHQ. Das Problem dabei war allerdings, dass die zumeist älteren hohen Offiziere davon Rückenschmerzen und andere Beschwerden bekamen, denen ein ganzer Abschnitt gewidmet ist.
Groß bleibt also sehr nah am täglichen Geschehen. Er lädt den Leser zu Beginn ausdrücklich ein, mit ihm in "den Hofzug einzusteigen, um mit Wilhelm II. ins Feld zu ziehen". Das ist gelungen, aber das Verfahren hat auch Kosten: Man erfährt zwar genau, was der Kaiser gespeist hat, aber nicht, was er überhaupt von der militärischen Planung wusste.
Wir erfahren überhaupt nicht, was man im GHQ über die Frontverhältnisse wusste und wie die hohen Verluste etwa vor Verdun oder an der Somme aufgenommen und kommentiert wurden. Im Unterschied zu Clemenceau und anderen politischen Führern Frankreichs hat sich der Kaiser niemals an der Front blicken lassen.
Aber auf all das geht Groß kaum ein, als könne er sich selber nicht aus der gespenstischen Intrigenwelt einer Hofgesellschaft lösen. Nur im Epilog vermerkt er lakonisch die Diskrepanz zwischen diesem Leben der hohen Herren und der Frontwirklichkeit: "Viele höhere Offiziere, die mit ihren Befehlen täglich Tausende Soldaten meist ohne mit der Wimper zu zucken in den Tod schickten, standen wie alle Väter große Ängste um das Wohlbefinden ihrer an der Front oder zu See dienenden Söhne aus."
Groß hat eine beeindruckende Geschichte der Institution GQH vorgelegt, für die ihm Anerkennung gebührt. Aber irgendwie bleiben die wichtigsten Fragen zur Führung eines Heeres von insgesamt wohl dreizehn Millionen Soldaten, zur Planung der Bewegung der Riesenheere und der Schlachten außen vor. Dafür braucht es wohl noch ein weiteres Buch. GERD KRUMEICH
Gerhard P. Groß: "Das Große Hauptquartier im Ersten Weltkrieg".
De Gruyter Verlag, Berlin/Boston 2022. 306 S., Abb., geb., 41,95 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
und das methodische Instrumentarium der modernen Militärgeschichtsschreibung souverän
anwendendes Buch geschrieben, das eine lange bestehende Forschungslücke in der
Weltkriegsforschung schließt. Dass auch die sprachlich-stilistische Präsentation des Themas
sehr gelungen ist, rundet das durchweg positive Bild ab." Wolfgang Mährle in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 2023