Illusorische Paradiese
Tropische Inseln gelten als Elysium. Die Autorin beschreibt in ihrem Roman über das französische Mayotte im Komoren-Archipel eine andere Realität.
Das Leben des durch seine zweifarbigen Augen „verfluchten“ Moïse verläuft die ersten Jahre in gradlinigen glücklichen
Bahnen. Für seine weiße Mutter Marie ist er ein Wunsch- kind. Für seine biologische Mutter jedoch war das…mehrIllusorische Paradiese
Tropische Inseln gelten als Elysium. Die Autorin beschreibt in ihrem Roman über das französische Mayotte im Komoren-Archipel eine andere Realität.
Das Leben des durch seine zweifarbigen Augen „verfluchten“ Moïse verläuft die ersten Jahre in gradlinigen glücklichen Bahnen. Für seine weiße Mutter Marie ist er ein Wunsch- kind. Für seine biologische Mutter jedoch war das Baby mit einem schwarzen und einem grünen Auge eine Inkarnation des Dschinn. Und so drückte sie ihn der nächstbesten weißen Frau, Marie, in die Arme, nachdem ihr die Flucht nach „Frankreich“ gelungen war.
Doch das Schicksal will es anders und Moïses privilegiertes Leben findet ein jähes Ende. Marie hatte endlich den Mut gefunden, ihm die Wahrheit über ihn und über sich selbst zu erzählen. Er verändert sich, macht ihr Vorwürfe, dass sie ihn gehindert hätte, sein wahres, Leben zu leben. Und Maries andauernde Kopfschmerzen enden in ihrem plötzlichen Tod. Das Leben zieht Moïse in einen Strudel von Gewalt. Er wird konfrontiert mit seinem wahren Leben, das er von Marie gefordert hatte: im Gaza genannten Ghetto mit seinen Jugendbanden, die stehlen, rauchen, trinken, sich mit „der Chemischen“ voll dröhnen. Er hat kein Zuhause mehr, nur seinen Rucksack, der ihm nun als Kopfkissen dient.
Er ist ein Außenseiter in diesem Elendsviertel, diesem gewalttätigen Niemandsland. Ein Ort ohne Hoffnung. Aber niemand kümmert es, was dort geschieht. Niemand kümmert sich um die illegalen Flüchtlinge, die wie eine zerstörerische Woge in kleinen Booten übers Meer kommen. Alle wollen sie ins Paradies. Die Besuche von Politikern, die Kampagnen und die Reportagen ändern nichts an diesem Urzustand.
Es gibt Zeiten, da ist Moïse fast glücklich, er raucht, singt und tanzt zum Tamtam, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Aber er erkennt tief in seinem Inneren die Destruktivität von Ghettos.
Wie kann in so einem Milieu ein Mensch ein guter Mensch bleiben? Wie kann dort Hoffnung gedeihen? Der Wille zur Veränderung?
Da helfen auch die gutmenschlichen NGO’ler nicht, die für ein paar Monate nach Mayotte kommen, erfolglos Projekte anschieben. Sie kamen und sie gingen blind zurück in die Wohlbehütetheit. Die Strukturen der jugendlichen Überlebenswelt haben sie nicht erforscht.
Bruce ist Moïses jugendlicher Gegenspieler, gewaltbereit, herrschsüchtig, unbesiegbar, der Chef, dem alle blind gehorchen. Genau diese Hörigkeit führt in die Katastrophe, die Moïse als Opfer zurücklässt, die ihn zum Mörder werden lässt.
Moïse kann seinem Schicksal, von machetenschwingenden Jungs gelyncht zu werden, entfliehen. „Ich heiße Moïse, ich bin fünfzehn und ich lebe. Ich habe keine Angst mehr vor der Meute, ich laufe zum Ende der Pier und tauche ein in den Ozean. Ich tauche nicht wieder auf.“
Ist es ein Happy End? Ist es sein prophezeites verfluchtes Schicksal? Offene Interpretationsmöglichkeiten.
Eindeutig aber ist, dass Nathacha Appanah ein wunderbares Buch geschrieben hat, ein Buch, das trotz aller Tristesse, trotz aller Gewalt mit wunderschönen poetischen Momenten beglückt, so dass man als Lesender für ein paar Augenblicke (mit dem schwarzen oder dem grünen Auge?) fast an das Paradies glauben kann.
Unbedingt empfehlenswerte Lektüre, die viele Fragen beleuchtet: Rassismus, Lost Paradises, Flüchtlinge, ungleiche Chancen, Gewalt, Gutmenschen. Eine nachhaltige Lektüre.