September 1926. Henry Beston bezieht ein kleines Holzhaus am Meer, das er sich im Jahr zuvor hat bauen lassen, um dort seinen Urlaub zu verbringen. Geplant waren zwei Wochen, doch er bleibt ein ganzes Jahr; ein Jahr, in dem er seine Umwelt auf sich wirken lässt, sie untersucht und auf diese Weise verstehen lernt. Beston hält sämtliche Beobachtungen in Notizbüchern fest, er beschreibt das Gesehene und Erlebte farbig und detailliert: den Zug der Seevögel, den Rhythmus von Ebbe und Flut, die Formen der Dünen und der Wellen, die Geräusche der Brandung und sogar den Wandel der Gerüche im Laufe der Jahreszeiten. Diesen sprachlich geschliffenen und alle Sinne ansprechenden Klassiker des Nature Writing, der vor genau 90 Jahren erschienen ist, gilt es nun erstmals in deutscher Übersetzung zu entdecken.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2018Das Ritual des Lebens
Henry Bestons Bericht über sein Jahr am Strand von Cape Cod ist erstmals auf Deutsch erschienen
Bei der Lektüre packt einen irgendwann das Bedürfnis, sich die imaginäre Gischt aus dem Gesicht zu wischen und den Sand von den Kleidern zu klopfen. Zügellos toben die Elemente zwischen den maritim petrolfarbenen Leinen-Buchdeckeln. Der Atlantik in Henry Bestons Band „Das Haus am Rand der Welt“, er tost nicht nur und brodelt, er zischt und heult, er siedet und schäumt. Seitenlang beschreibt Beston, wie das Wasser aussieht, wie es klingt und riecht und wie sich seine sinnlichen Eindrücke im Laufe der Tages- und im Wechsel der Jahreszeiten verändern. Satz für Satz der wunderbar rhythmisierten erstmaligen deutschen Übersetzung aus dem amerikanischen Original branden die Wellen ans Gestade der Halbinsel Cape Cod.
Hier an der Ostküste der USA, am letzten und entlegensten Stück Festland, das vor Bestons Heimat Massachusetts wie der geflexte Bizeps eines Bodybuilders ins Meer ragt, hat der Unidozent, Kriegsreporter und Kinderbuchautor im September 1926 ein kleines Holzhaus auf einer Düne am Strand bezogen. Er hat es im Jahr davor nach einem eigenen Entwurf zimmern lassen: zwei Zimmer, 30 Quadratmeter Fläche und zehn Fenster mit Ausblick nach allen Seiten, was ihm ermöglicht, die Natur auch dann noch zu beobachten, wenn er die Tür gegen den heftigen Widerstand des Windes von innen zugedrückt hat. Er tauft seine Bleibe Fo’castle, Vorschiff. Hier will er einen zweiwöchigen Urlaub verbringen. Er bleibt ein ganzes Jahr.
Henry Beston lebt allein, aber nicht als Einsiedler. Er freundet sich mit den Männern der Küstenwache an, die auf ihren Patrouillen zum Kaffeetrinken bei ihm vorbeischauen und geht zum Einkaufen in die nächste Ortschaft. Er unternimmt ausgedehnte Spaziergänge am Strand, tagsüber, aber auch stundenlang in der Nacht, er schaut genau hin und macht sich Notizen. Ursprünglich wollte er seine Aufzeichnungen nicht veröffentlichen. Er tat es dann doch, weil ihn seine Verlobte, eine Kinderbuchautorin, dazu mit den Worten zwang: „No book, no marriage.“
Dass dies funktionierte, ist ein Glücksfall. In den USA wird das Buch – im Original heißt es „The Outhermost House: A Year of Life on the Great Beach of Cape Cod“ als Klassiker des Nature Writing rezipiert, so wie Henry David Thoreaus „Walden“. Dessen Ansatz ist der Erkenntnisgewinn aus der exakten Beobachtung der Natur, wie Cord Riechelmann im Nachwort der deutschen Übersetzung ausführt. Doch anders als Thoreau, der seine zwei in einer Waldhütte verbrachten Jahre dazu nutzte, um über den Ausstieg des Individuums aus repressiven gesellschaftlichen Zusammenhängen nachzudenken, stellt Beston den Zusammenhang des einzelnen Lebewesens mit dem Großen und Ganzen heraus. Die Flüge der Strandvögel beispielsweise inspirieren ihn immer wieder zu der Überlegung, dass das Individuum in einem Kollektiv aufgehen kann, ohne dies als Verlust seiner Individualität zu empfinden: Tiere, die in einem Moment noch jedes für sich am Strand nach Futter picken und lediglich auf das eigene Wohl bedacht sind, „verschmelzen unvermittelt zu einem kollektiven Willen und steigen auf, fliegen, gleiten, neigen ihre nach Dutzenden zählenden Körper wie ein Wesen, als das sie auf den neuen Kurs einschwenken, den der gemeinsame Wille der Gruppe vorgegeben hat“.
Beston schreibt nicht von Gott, wohl aber von der Schöpfung als einem Prozess, der sein Ende noch nicht erreicht hat. Die Natur von Cape Cod folgt demnach seit grauer Vorzeit einem Kreislauf, ohne dass der Mensch je eingegriffen oder gestört hätte. „Erde, Ozean und Himmel, die Dreifaltigkeit der Küste, betrieben einzeln und gemeinsam ihr großes Werk, vom Menschen unbeeinflusst wie ein Planet auf seinem Weg um die Sonne.“ Die Chance, diese Abläufe der Natur erleben zu können, das, was Beston „Ritual des Lebens“ nennt, müsse wohl jeden mit Demut und Dankbarkeit erfüllen, meint er.
Gleichzeitig klingt bei ihm eine Zivilisationskritik an, die dem Buch eine hohe Aktualität verleiht. Die Geringschätzung der Natur, ihre Verschmutzung und die Entfremdung der Menschen von ihr moniert Beston an mehreren Stellen. Achtsamkeit und Entschleunigung, die zwei Modebegriffe der heutigen Burn-out-Zeit, waren dem Schriftsteller noch unbekannt – aber was damit verbunden ist, lebte er bereits intensiv. Beston beschreibt epische Dramen, tödliche Havarien und Haiattacken, und ihm entgeht andererseits nicht der kleine, orangefarbene Punkt auf der Blattspitze des Strandhafers, der mitten im Hochsommer bereits wieder Welken und Vergehen ankündigt.
Am Ende wendet sich Beston direkt an den Leser: „Halten Sie Ihre Hand schützend über die Erde wie vor eine Flamme.“ Ein Appell, der 90 Jahre später nichts an Dringlichkeit verloren hat.
JOCHEN TEMSCH
Henry Beston: Das Haus am Rand der Welt. Ein Jahr am Strand von Cape Cod. Aus dem Amerikanischen von Rudolf Mast. Mare Verlag, Hamburg 2018. 224 Seiten, 32 Euro.
„No book, no marriage“: Bestons
Verlobte zwang ihn dazu, seine
Notizen zu veröffentlichen
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Henry Bestons Bericht über sein Jahr am Strand von Cape Cod ist erstmals auf Deutsch erschienen
Bei der Lektüre packt einen irgendwann das Bedürfnis, sich die imaginäre Gischt aus dem Gesicht zu wischen und den Sand von den Kleidern zu klopfen. Zügellos toben die Elemente zwischen den maritim petrolfarbenen Leinen-Buchdeckeln. Der Atlantik in Henry Bestons Band „Das Haus am Rand der Welt“, er tost nicht nur und brodelt, er zischt und heult, er siedet und schäumt. Seitenlang beschreibt Beston, wie das Wasser aussieht, wie es klingt und riecht und wie sich seine sinnlichen Eindrücke im Laufe der Tages- und im Wechsel der Jahreszeiten verändern. Satz für Satz der wunderbar rhythmisierten erstmaligen deutschen Übersetzung aus dem amerikanischen Original branden die Wellen ans Gestade der Halbinsel Cape Cod.
Hier an der Ostküste der USA, am letzten und entlegensten Stück Festland, das vor Bestons Heimat Massachusetts wie der geflexte Bizeps eines Bodybuilders ins Meer ragt, hat der Unidozent, Kriegsreporter und Kinderbuchautor im September 1926 ein kleines Holzhaus auf einer Düne am Strand bezogen. Er hat es im Jahr davor nach einem eigenen Entwurf zimmern lassen: zwei Zimmer, 30 Quadratmeter Fläche und zehn Fenster mit Ausblick nach allen Seiten, was ihm ermöglicht, die Natur auch dann noch zu beobachten, wenn er die Tür gegen den heftigen Widerstand des Windes von innen zugedrückt hat. Er tauft seine Bleibe Fo’castle, Vorschiff. Hier will er einen zweiwöchigen Urlaub verbringen. Er bleibt ein ganzes Jahr.
Henry Beston lebt allein, aber nicht als Einsiedler. Er freundet sich mit den Männern der Küstenwache an, die auf ihren Patrouillen zum Kaffeetrinken bei ihm vorbeischauen und geht zum Einkaufen in die nächste Ortschaft. Er unternimmt ausgedehnte Spaziergänge am Strand, tagsüber, aber auch stundenlang in der Nacht, er schaut genau hin und macht sich Notizen. Ursprünglich wollte er seine Aufzeichnungen nicht veröffentlichen. Er tat es dann doch, weil ihn seine Verlobte, eine Kinderbuchautorin, dazu mit den Worten zwang: „No book, no marriage.“
Dass dies funktionierte, ist ein Glücksfall. In den USA wird das Buch – im Original heißt es „The Outhermost House: A Year of Life on the Great Beach of Cape Cod“ als Klassiker des Nature Writing rezipiert, so wie Henry David Thoreaus „Walden“. Dessen Ansatz ist der Erkenntnisgewinn aus der exakten Beobachtung der Natur, wie Cord Riechelmann im Nachwort der deutschen Übersetzung ausführt. Doch anders als Thoreau, der seine zwei in einer Waldhütte verbrachten Jahre dazu nutzte, um über den Ausstieg des Individuums aus repressiven gesellschaftlichen Zusammenhängen nachzudenken, stellt Beston den Zusammenhang des einzelnen Lebewesens mit dem Großen und Ganzen heraus. Die Flüge der Strandvögel beispielsweise inspirieren ihn immer wieder zu der Überlegung, dass das Individuum in einem Kollektiv aufgehen kann, ohne dies als Verlust seiner Individualität zu empfinden: Tiere, die in einem Moment noch jedes für sich am Strand nach Futter picken und lediglich auf das eigene Wohl bedacht sind, „verschmelzen unvermittelt zu einem kollektiven Willen und steigen auf, fliegen, gleiten, neigen ihre nach Dutzenden zählenden Körper wie ein Wesen, als das sie auf den neuen Kurs einschwenken, den der gemeinsame Wille der Gruppe vorgegeben hat“.
Beston schreibt nicht von Gott, wohl aber von der Schöpfung als einem Prozess, der sein Ende noch nicht erreicht hat. Die Natur von Cape Cod folgt demnach seit grauer Vorzeit einem Kreislauf, ohne dass der Mensch je eingegriffen oder gestört hätte. „Erde, Ozean und Himmel, die Dreifaltigkeit der Küste, betrieben einzeln und gemeinsam ihr großes Werk, vom Menschen unbeeinflusst wie ein Planet auf seinem Weg um die Sonne.“ Die Chance, diese Abläufe der Natur erleben zu können, das, was Beston „Ritual des Lebens“ nennt, müsse wohl jeden mit Demut und Dankbarkeit erfüllen, meint er.
Gleichzeitig klingt bei ihm eine Zivilisationskritik an, die dem Buch eine hohe Aktualität verleiht. Die Geringschätzung der Natur, ihre Verschmutzung und die Entfremdung der Menschen von ihr moniert Beston an mehreren Stellen. Achtsamkeit und Entschleunigung, die zwei Modebegriffe der heutigen Burn-out-Zeit, waren dem Schriftsteller noch unbekannt – aber was damit verbunden ist, lebte er bereits intensiv. Beston beschreibt epische Dramen, tödliche Havarien und Haiattacken, und ihm entgeht andererseits nicht der kleine, orangefarbene Punkt auf der Blattspitze des Strandhafers, der mitten im Hochsommer bereits wieder Welken und Vergehen ankündigt.
Am Ende wendet sich Beston direkt an den Leser: „Halten Sie Ihre Hand schützend über die Erde wie vor eine Flamme.“ Ein Appell, der 90 Jahre später nichts an Dringlichkeit verloren hat.
JOCHEN TEMSCH
Henry Beston: Das Haus am Rand der Welt. Ein Jahr am Strand von Cape Cod. Aus dem Amerikanischen von Rudolf Mast. Mare Verlag, Hamburg 2018. 224 Seiten, 32 Euro.
„No book, no marriage“: Bestons
Verlobte zwang ihn dazu, seine
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