Einer der bedeutendsten Vertreter der modernen italienischen Literatur, in der Neuübersetzung von Maja Pflug. Turin, Juni 1943. Nächtliche Luftangriffe der Alliierten bedrohen die Stadt. Wer kann, rettet sich mit Einbruch der Dunkelheit auf die Hügel. Corrado, Lehrer im städtischen Gymnasium und von den anderen ehrfürchtig "Herr Lehrer" genannt, hat sich schon länger dorthin verkrochen. Angezogen vom Gesang der Leute stößt er eines Abends zum Gasthaus Le Fontane: Von hier sieht man die Stadt in Flammen aufgehen, hier wird diskutiert, was werden soll, hier formieren sich die Partisanen. Unter den Leuten auch Cate, eine frühere Liebe Corrados, und Dino, ihr Kind, das womöglich auch seines ist. Als eines Tages die Meldung vom Waffenstillstand verkündet wird, keimt kurz Hoffnung auf. Aber schnell dringen die Deutschen ins Land - und damit fängt alles erst an. Das Haus auf dem Hügel, ein im deutschen Sprachraum noch wenig bekannter Roman Paveses, spielt in der Wirrnis jener dramatischen Sommermonate in Italien und erzählt, wie Corrados Existenz gegen starke innere Widerstände schließlich ganz und gar vom Krieg eingenommen wird. Von Maja Pflugs stimmiger Neuübersetzung ins Heute geholt, ist das Buch eine einzigartige literarische Auseinandersetzung über die Unentrinnbarkeit des Kriegs und die Frage nach dem Sinn von politischem Handeln.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.07.2018In den Jahren der tiefsten Krise
Sein persönlichstes Werk: Cesare Paveses Roman "Das Haus auf dem Hügel" ist neu übersetzt worden
Es ist eine Eigenart realistischen Schreibens, dass hinter der detailgenau erfassten Alltagswirklichkeit ein mythischer Grund aufscheint. Das ist bereits bei den Realisten und Naturalisten des neunzehnten Jahrhunderts so, man denke an den Blinden in Gustave Flauberts "Madame Bovary" oder an die mythisch aufgeladenen Motive Bohrturm und Mine in Émile Zolas "Germinal". Im Neorealismus, der Kino und Literatur im Italien der dreißiger und vierziger Jahre dominiert, ist es nicht anders. Darum überrascht die Überraschung, mit der Kommentatoren die archaische Schicht hinter einem scheinbar selbstgenügsamen Realismus entdecken. Interessant ist vielmehr die Frage, welche Rückschlüsse sie erlaubt: Zeigt sie die wahren Motivationen und entwertet die dargestellte Wirklichkeit als Oberflächenkräuseln? Oder motiviert sie ein umfassenderes Verständnis von und Engagement in dieser Realität?
Nun ist ein Roman neu übersetzt worden, der ein Paradebeispiel für letztere Möglichkeit darstellt: "Das Haus auf dem Hügel" wird von vielen als Meisterwerk von Cesare Pavese (1908 bis 1950) angesehen; zugleich ist es sein Roman mit den sichtbarsten autobiographischen Spuren. Plastisch stellt er die Realität der Kriegsjahre 1943/44 in Turin und Umgebung dar, die Bombardierung der Stadt durch die Alliierten, die Formierung der Resistenza, die Kämpfe zwischen Faschisten und Widerstand. Der Roman entwickelt aber auch einen archaischen Bezug auf die Hügel der Langhe, jenen Teil des Piemonts, der für Pavese auf die Kindheit und den Urgrund der Identität verweist.
Im Zentrum steht Corrado, ein vierzig Jahre alter Lehrer, der in Turin unterrichtet und sich jeden Abend in besagtes Haus vor den Toren der Stadt zurückzieht. Dort kümmert sich eine Alte um ihn, gemeinsam mit ihrer Tochter Elvira, die ihn gern heiraten würde. Seine Splendid Isolation ist letzten Ende ein selbstgenügsamer Egoismus: "Der Krieg gab einem das Recht, sich abzukapseln, in den Tag hinein zu leben, nicht mehr den verpassten Gelegenheiten nachzutrauern." Beiläufig defiliert die politische Lage: der Sturz Mussolinis, Landung und Vormarsch der Alliierten, die deutsche Besatzung, die Republik von Salò. Die Ereignisse zwingen Corrado in eine müßige Existenz. Zufällig gerät er in Kontakt mit einer Gruppe junger Leute, die sich im nahe gelegenen Wirtshaus treffen; die meisten sind Proletarier, alle stehen dem linken Widerstand nahe.
Corrado hat einen Sonderstatus, seine Bildung beeindruckt, aber seine Passivität stößt auf Unverständnis, besonders bei Cate: Corrado kennt diese junge Frau, hatte vor Jahren eine Affäre mit ihr. Jetzt ist sie Krankenschwester und Mutter von Dino - "ein magerer Lausbub" -, der Corrados Sohn sein könnte. Die Existenz des Einzelgängers, der es sich im Ausnahmezustand bequem gemacht hatte, gerät durcheinander; er kümmert sich um Dino und umwirbt Cate, die ein Beispiel für Paveses heikle Frauenfiguren ist. Doch auch dieses "behutsame Gleichgewicht von Ängsten, Erwartungen und nichtigen Hoffnungen" kippt: Im Wirtshaus werden Waffen gefunden, die Widerständler verhaftet, Corrado muss fliehen.
Er verbirgt sich den Winter über in einer Klosterschule und bricht dann in Richtung seines heimatlichen Dorfes auf. Der Weg ist Corrados persönlicher Reifegang, ein Partisanenüberfall sein Schlüsselerlebnis: "Doch ich habe die fremden Toten gesehen, die Toten, die für die faschistische Republik kämpften. Sie sind es, die mich aufgeweckt haben." Er begreift seine ethische Verpflichtung, der Tod fordert zur Stellungnahme heraus: "Jeder Gefallene gleicht dem, der bleibt, und verlangt Rechenschaft von ihm."
Corrado ist in vieler Hinsicht Pavese selbst nachgebildet, der sich in besagtem Kriegsjahr in einer vergleichbaren existentiellen Lage befand; Details wie der Name von Corrados Hund - Belbo - betonen die Parallele. Denn Pavese wuchs in Santo Stefano Belbo auf, studierte dann in Turin und wurde 1932 mit einer Arbeit über Walt Whitman promoviert. Die Amerikaner, die er übersetzte, stellten ihm ein Gegenmodell zum römischen Maskenball des Faschismus dar, wie Lothar Müller in seinem schönen Nachwort betont. Vor allem jedoch gehörte Pavese 1933 zu den Unterstützern von Guilio Einaudis Verlagsgründung. Der Einaudi-Verlag sollte die italienische Nachkriegsliteratur mit seinem "Ideal des allseits gebildeten Menschen" (so der langjährige Leiter Roberto Cerati in Maike Albaths Buch "Der Geist von Turin") entscheidend prägen. Seit seinem Erstling "Unter Bauern" (1941) war Pavese ein anerkannter Schriftsteller. Nach einer Verbannung für seine Redaktionsarbeit in der Zeitschrift "La Cultura" führte er von 1943 an die römische Verlagsniederlassung. Während der Kriegsjahre blieb er - anders als die meisten Verlagsmitarbeiter - politisch abstinent, versteckte sich wie Corrado in einer Klosterschule und bei seiner Schwester.
"Das Haus auf dem Hügel" erschien 1948 und markierte eine Vertiefung der mythischen Dimension, die Pavese durch Lektüren (von Frazer bis Kerényi, Freud und Jung) und theoretische Schriften ("Il mito", 1950) reflektierte. Der Mythos war für ihn ein "ekstatisches, embryonales Bild, das man im Innern trägt", er betonte dessen persönliche Dimension. Im Roman ist der Mythos dezent anwesend, der titelgebende Hügel steht für die Isolation des Erzählers und für dessen Identitätssuche: "Hinter den bestellten Feldern und den Straßen, hinter den Häusern der Menschen, unter den Füßen brütete das uralte, gleichgültige Herz der Erde in der Dunkelheit, lebte in den Schluchten, in Wurzeln, in verborgenen Dingen, in Kindheitsängsten." Wie diverse katholische Sakralbauten verkörpert der Hügel einen besonderen Erfahrungsraum, in dem Corrado sich aus seinen Verstrickungen befreien und - gelegentlich, überraschend - Sinn erfahren kann.
"Das Haus auf dem Hügel" wurde bereits 1965 von Arianna Giachi ins Deutsche übersetzt. Maja Pflug, die auch Paveses "Der Mond und die Feuer" neu übertragen hat, präsentiert nun eine genauere und elegantere Übersetzung, wie die konkrete Wiedergabe des Wortes "collina" ("Hügel", nicht "Höhe") gleich im Anfangssatz zeigt. Pflugs Übertragung beweist: Cesare Paveses amerikanisch geschulte Nüchternheit, die Mythos ohne Pathos will, ist kein bisschen gealtert.
NIKLAS BENDER
Cesare Pavese: "Das Haus auf dem Hügel". Roman.
Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Rotpunktverlag, Zürich 2018. 216 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sein persönlichstes Werk: Cesare Paveses Roman "Das Haus auf dem Hügel" ist neu übersetzt worden
Es ist eine Eigenart realistischen Schreibens, dass hinter der detailgenau erfassten Alltagswirklichkeit ein mythischer Grund aufscheint. Das ist bereits bei den Realisten und Naturalisten des neunzehnten Jahrhunderts so, man denke an den Blinden in Gustave Flauberts "Madame Bovary" oder an die mythisch aufgeladenen Motive Bohrturm und Mine in Émile Zolas "Germinal". Im Neorealismus, der Kino und Literatur im Italien der dreißiger und vierziger Jahre dominiert, ist es nicht anders. Darum überrascht die Überraschung, mit der Kommentatoren die archaische Schicht hinter einem scheinbar selbstgenügsamen Realismus entdecken. Interessant ist vielmehr die Frage, welche Rückschlüsse sie erlaubt: Zeigt sie die wahren Motivationen und entwertet die dargestellte Wirklichkeit als Oberflächenkräuseln? Oder motiviert sie ein umfassenderes Verständnis von und Engagement in dieser Realität?
Nun ist ein Roman neu übersetzt worden, der ein Paradebeispiel für letztere Möglichkeit darstellt: "Das Haus auf dem Hügel" wird von vielen als Meisterwerk von Cesare Pavese (1908 bis 1950) angesehen; zugleich ist es sein Roman mit den sichtbarsten autobiographischen Spuren. Plastisch stellt er die Realität der Kriegsjahre 1943/44 in Turin und Umgebung dar, die Bombardierung der Stadt durch die Alliierten, die Formierung der Resistenza, die Kämpfe zwischen Faschisten und Widerstand. Der Roman entwickelt aber auch einen archaischen Bezug auf die Hügel der Langhe, jenen Teil des Piemonts, der für Pavese auf die Kindheit und den Urgrund der Identität verweist.
Im Zentrum steht Corrado, ein vierzig Jahre alter Lehrer, der in Turin unterrichtet und sich jeden Abend in besagtes Haus vor den Toren der Stadt zurückzieht. Dort kümmert sich eine Alte um ihn, gemeinsam mit ihrer Tochter Elvira, die ihn gern heiraten würde. Seine Splendid Isolation ist letzten Ende ein selbstgenügsamer Egoismus: "Der Krieg gab einem das Recht, sich abzukapseln, in den Tag hinein zu leben, nicht mehr den verpassten Gelegenheiten nachzutrauern." Beiläufig defiliert die politische Lage: der Sturz Mussolinis, Landung und Vormarsch der Alliierten, die deutsche Besatzung, die Republik von Salò. Die Ereignisse zwingen Corrado in eine müßige Existenz. Zufällig gerät er in Kontakt mit einer Gruppe junger Leute, die sich im nahe gelegenen Wirtshaus treffen; die meisten sind Proletarier, alle stehen dem linken Widerstand nahe.
Corrado hat einen Sonderstatus, seine Bildung beeindruckt, aber seine Passivität stößt auf Unverständnis, besonders bei Cate: Corrado kennt diese junge Frau, hatte vor Jahren eine Affäre mit ihr. Jetzt ist sie Krankenschwester und Mutter von Dino - "ein magerer Lausbub" -, der Corrados Sohn sein könnte. Die Existenz des Einzelgängers, der es sich im Ausnahmezustand bequem gemacht hatte, gerät durcheinander; er kümmert sich um Dino und umwirbt Cate, die ein Beispiel für Paveses heikle Frauenfiguren ist. Doch auch dieses "behutsame Gleichgewicht von Ängsten, Erwartungen und nichtigen Hoffnungen" kippt: Im Wirtshaus werden Waffen gefunden, die Widerständler verhaftet, Corrado muss fliehen.
Er verbirgt sich den Winter über in einer Klosterschule und bricht dann in Richtung seines heimatlichen Dorfes auf. Der Weg ist Corrados persönlicher Reifegang, ein Partisanenüberfall sein Schlüsselerlebnis: "Doch ich habe die fremden Toten gesehen, die Toten, die für die faschistische Republik kämpften. Sie sind es, die mich aufgeweckt haben." Er begreift seine ethische Verpflichtung, der Tod fordert zur Stellungnahme heraus: "Jeder Gefallene gleicht dem, der bleibt, und verlangt Rechenschaft von ihm."
Corrado ist in vieler Hinsicht Pavese selbst nachgebildet, der sich in besagtem Kriegsjahr in einer vergleichbaren existentiellen Lage befand; Details wie der Name von Corrados Hund - Belbo - betonen die Parallele. Denn Pavese wuchs in Santo Stefano Belbo auf, studierte dann in Turin und wurde 1932 mit einer Arbeit über Walt Whitman promoviert. Die Amerikaner, die er übersetzte, stellten ihm ein Gegenmodell zum römischen Maskenball des Faschismus dar, wie Lothar Müller in seinem schönen Nachwort betont. Vor allem jedoch gehörte Pavese 1933 zu den Unterstützern von Guilio Einaudis Verlagsgründung. Der Einaudi-Verlag sollte die italienische Nachkriegsliteratur mit seinem "Ideal des allseits gebildeten Menschen" (so der langjährige Leiter Roberto Cerati in Maike Albaths Buch "Der Geist von Turin") entscheidend prägen. Seit seinem Erstling "Unter Bauern" (1941) war Pavese ein anerkannter Schriftsteller. Nach einer Verbannung für seine Redaktionsarbeit in der Zeitschrift "La Cultura" führte er von 1943 an die römische Verlagsniederlassung. Während der Kriegsjahre blieb er - anders als die meisten Verlagsmitarbeiter - politisch abstinent, versteckte sich wie Corrado in einer Klosterschule und bei seiner Schwester.
"Das Haus auf dem Hügel" erschien 1948 und markierte eine Vertiefung der mythischen Dimension, die Pavese durch Lektüren (von Frazer bis Kerényi, Freud und Jung) und theoretische Schriften ("Il mito", 1950) reflektierte. Der Mythos war für ihn ein "ekstatisches, embryonales Bild, das man im Innern trägt", er betonte dessen persönliche Dimension. Im Roman ist der Mythos dezent anwesend, der titelgebende Hügel steht für die Isolation des Erzählers und für dessen Identitätssuche: "Hinter den bestellten Feldern und den Straßen, hinter den Häusern der Menschen, unter den Füßen brütete das uralte, gleichgültige Herz der Erde in der Dunkelheit, lebte in den Schluchten, in Wurzeln, in verborgenen Dingen, in Kindheitsängsten." Wie diverse katholische Sakralbauten verkörpert der Hügel einen besonderen Erfahrungsraum, in dem Corrado sich aus seinen Verstrickungen befreien und - gelegentlich, überraschend - Sinn erfahren kann.
"Das Haus auf dem Hügel" wurde bereits 1965 von Arianna Giachi ins Deutsche übersetzt. Maja Pflug, die auch Paveses "Der Mond und die Feuer" neu übertragen hat, präsentiert nun eine genauere und elegantere Übersetzung, wie die konkrete Wiedergabe des Wortes "collina" ("Hügel", nicht "Höhe") gleich im Anfangssatz zeigt. Pflugs Übertragung beweist: Cesare Paveses amerikanisch geschulte Nüchternheit, die Mythos ohne Pathos will, ist kein bisschen gealtert.
NIKLAS BENDER
Cesare Pavese: "Das Haus auf dem Hügel". Roman.
Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Rotpunktverlag, Zürich 2018. 216 S., geb., 24,- [Euro].
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