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Vom Gefängnisleben in der Türkei: "Das Haus aus Stein", der beklemmendste und beste Roman von Asli Erdogan, ist nun auf Deutsch erschienen.
Von Karen Krüger
Im Istanbuler Stadtteil Sirkeci steht ein Gebäude, das in vielfacher Hinsicht ein Symbol für staatliches Unrecht ist und bei dessen Anblick viele Menschen erschaudern. Benannt nach seinem einstigen armenischen Besitzer, trägt es den Namen "Sansaryan Han". Sansaryan schenkte es 1881 dem armenischen Patriarchat. Nach dem Genozid an den Armeniern wurde das "Sansaryan Han" vom türkischen Staat konfisziert und 1944 zum Sitz der Istanbuler Polizeidirektion gemacht. Sie blieb dort bis in die neunziger Jahre und verwandelte das Haus, das einmal eine Schule für armenische Kinder werden sollte, in das berüchtigtste Folterzentrum der Stadt. Politische Gefangene wurden dort gequält, später auch minderjährige Kleinkriminelle. In den Zellen konnte man nur stehen, zum Hinlegen waren sie zu schmal. Sie erinnerten an aufrecht stehende Särge. "Sarg-Haus" wurde das "Sansaryan Han" deshalb von vielen genannt. Der Dichter Nazim Hikmet wurde dort gefoltert, auch der Schriftsteller Aziz Nesin. Heute verrät keine Gedenktafel, wem das Haus einmal gehörte, unter welchen Umständen es konfisziert wurde oder was später darin geschah. In der Türkei wird gern so getan, als hätte es staatliches Unrecht niemals gegeben.
Die Schrifstellerin Asli Erdogan hat sich schon immer gegen diese Politik der Leugnung aufgelehnt. Sie schrieb über die Verhältnisse in türkischen Gefängnissen, über die Kurdenfrage, Gewalt gegen Frauen und den Genozid an den Armeniern. Wegen ihres Engagements für eine kurdische Zeitung wurde sie im August 2016 verhaftet und saß 132 Tage im Istanbuler Frauengefängnis von Bakirköy. Ihr Prozess dauert an, ihr droht lebenslange Haft. Im September 2017 reiste sie über Paris nach Osnabrück, um den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis entgegenzunehmen. Sie kehrte nicht in die Türkei zurück. Mittlerweile lebt sie im Exil in Frankfurt.
Nun erscheint das bisher wichtigste Werk der Zweinundfünfzigjährigen auf Deutsch. Der Wunsch, Menschen eine Stimme zu geben, die staatliches Unrecht erlitten haben, prägt Asli Erdogans gesamtes Schaffen. Doch in keinem anderen Text gelingt ihr das so eindringlich wie in ihrem Roman "Das Haus aus Stein". In der Türkei, wo das Buch 2009 erschien, wurde es zum Bestseller. Sicherlich auch wegen der unverkennbaren Parallelen, die es zwischen dem "Haus aus Stein" und dem "Sansaryan Han" gibt.
Das Haus aus Stein ist ein Ort in einer namenlosen Stadt, an dem die Polizei Intellektuelle und Straßenkinder foltert. Der Leser folgt der Erzählerin, die sich, schwankend zwischen Traum und Wirklichkeit, an ihren Aufenthalt dort erinnert: an die Zellen, die Gänge, an den Schmerz, die Isolation, Demütigungen und Einsamkeit. Wie in Trance beschwört sie wieder und wieder die Existenz des Schreckens herauf. Sie hat diese Welt des Terrors überlebt, aber einen Mann dort verloren, den sie liebte und der ihr "seine Augen geschenkt hat". Mal scheint es, als sei er eins mit A., den die Folter im Haus aus Stein in den Wahnsinn getrieben hat und der nun auf der Straße lebt: vernarbt, verwahrlost, seiner Identität beraubt. Niemand will hören, was er zu sagen hätte. Also redet er mit den Vögeln, den Toten, dem Wind. Manchmal hält er das nicht mehr aus, tritt in der Einkaufsstraße eine Schaufensterscheibe ein, klettert in den Laden, nimmt einer Schaufensterpuppe die Kleider ab, einem für die Beschneidungsfeier als Sultan verkleideten Jungen beispielsweise, und staffiert sich damit aus. Dann nimmt er in dem verwüsteten Schaufenster Platz wie ein Geschichtenerzähler. Geschmückt mit Umhängen und Preisschildern, spricht er zu den Passanten, bis die Polizei ihn wegschleppt und abermals ins Haus aus Stein bringt.
Es ist ein meisterhafter Text, ein Gedicht über staatliche Gewalt, eine poetische Wehklage für die Toten und ein unvollendeter Abschiedsbrief. Der Roman zählt nur 110 Seiten, länger hätte er auch nicht werden dürfen. Nicht für den Leser, aber auch nicht für die Autorin. Er liest sich, als hätte Asli Erdogan ihn mit ihrer Haut, ihrem Blut geschrieben. Sie selbst hat mehrfach Polizeigewalt erfahren und leidet bis heute unter den Folgen.
"Die Personen in diesem Buch sind frei erfunden. Nur das Haus aus Stein ist echt. Nur die Hölle ist echt", schreibt Asli Erdogan in dem Vorwort, dass sie für die deutsche Ausgabe verfasst hat. Gleichzeitig offenbart sie, dass sie Anfang der achtziger Jahre selbst im "Sansaryan Han" war. "Schwer, noch einmal davon zu reden. Nach all den Zellen, den vielen Schlägen, den Verlusten des Lebens. Aus der bitteren, harten, qualvollen Erfahrung heraus zu sprechen, dass man zum Schweigen gebracht wurde." Nichts habe sie später mit solchem Entsetzen erfüllt wie das, was sie dort erlebte und sah.
Asli Erdogan und die namenlose Erzählerin sind nicht voneinander zu trennen. Sie ist auch A., den das Haus aus Stein für immer umschließt. Es ist auch eine Metapher für Traumata.
Eine Weile sah es so aus, als gehörten Orte wie das Haus aus Stein der türkischen Vergangenheit an. Nach dem versuchten Militärputsch von 2016 soll die Zeit der Folterknechte abermals angebrochen sein. Wer verstehen möchte, was das bedeutet, muss diesen Roman lesen.
Asli Erdogan: "Das Haus aus Stein". Roman.
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Penguin Verlag, München 2019. 128 S., geb., 15,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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