Der Interaktionismus versteht "Lernbehinderung" nicht als eine individuelle Störung des Menschen. Der Begriff "Lernbehinderung" wird nach interaktionistischem Denken eher als Ergebnis eines Prozesses gesehen, der von einer gesellschaftlichen Norm differiert. Bei der Entwicklung von Etikettierungen können sozial-psychologisch erforschte Einseitigkeiten bei der Beobachtung des Anderen bei dem Zuschreibungsprozess mit hineinspielen. Lernschwierigkeiten und Leistungsversagen können nicht nur als ein individuelles Persönlichkeitsmerkmal begriffen werden; sie sind vor allem Ursache eines charakteristischen Gesellschafts-, Schul- und Interaktionssystems. Es gibt keine "Lernbehinderung" an sich. Sie ist keine universelle Größe, sondern eine schulorganisatorische, interaktionistische Bestimmungsvariable. Lehren und Lernen hängen über den Prozess der Interaktion voneinander ab. "Lernbehinderung" kann man somit nicht im/in der Schüler/in selbst suchen, sondern nur in der Lehrer-Schüler-Beziehung. Der/die "lernbehinderte" Schüler/in hat sein/ihr Gegenüber im "lernbehinderten" Lehrer. Bezogen auf eine wechselseitige Interaktion ist "Lernbehinderung" das Resultat eines Wechselspiels inmitten schulischer Organisations-, Kommunikations- und Inhaltsstrukturen einerseits und den möglichen Reaktionen des Lernenden andererseits. Inter-aktionen sind zirkuläre Entwicklungsvorgänge, in der jedes Verhalten sowohl der Beweggrund als auch dessen Auswirkung sein kann. Auf diese Weise kehrt man von einer einseitig, personalistischen Sicht ab und wendet sich einer mehrdimensionalen Betrachtungsweise zu.
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