Auch im sechsten Jahr der großen Krise ist Italien noch nicht wieder auf die Beine gekommen. Die Kennzahlen sind alarmierend: 44 Prozent der Italiener unter 25 Jahren haben keine Arbeit; nach 2012 und 2013 schrumpft die italienische Wirtschaft 2014 erneut. Die ökonomische fällt mit einer fundamentalen Krise der staatlichen Institutionen zusammen. Das Vertrauen in Politik und Parteien ist auf einem historischen Tiefstand, die Protestbewegung des Kabarettisten Beppe Grillo wurde bei den Parlamentswahlen zur zweitstärksten Partei; Matteo Renzi, von den Medien als Hoffnungsträger gefeiert, kungelt mit seinem skandalumwitterten Vorgänger Berlusconi und feiert den ehemaligen englischen Premierminister Tony Blair als Vorbild, obwohl dieser in seiner Heimat längst zur persona non grata geworden ist. In seinem vielbeachteten Essay präsentiert der Historiker Perry Anderson eine Chronologie des italienischen Desasters. Italien betrachtet er dabei nicht als »Anomalie innerhalb Europas, sondern als eine Art Konzentrat« der Probleme eines Kontinents, der zunehmend von Entdemokratisierung, Korruption und Wachstumsschwäche gekennzeichnet ist.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Zugegeben, Perry Andersons Welterklärung ist schlicht, konzediert ein hin- und weggerrissener Jürgen Kaube zu Beginn seiner Kritik: Schuld an allem sind "Das Kapital und sein Ismus". Aber diese Gewissheit erlaubt Anderson eine geradezu enzyklopädische Zuständigkeit. Anderson weiß über alles Bescheid, die Türkei, Indien, Amerika (so die Themen einiger jüngerer Anderson-Bücher, die Kaube en passant erwähnt) und jetzt also auch Italien. Und Kaube resümiert munter, was Anderson dem Land alles ankreidet: Korruption, Gerontokratie, Unreformierbarkeit. Auch wenn Kaube ein paar Einschränkungen macht, teilt er Andersons Diagnose, dass Italien keineswegs eine Sonderfall, sondern ein Beispiel fürs Kommende sei. Denn ganz Europa sei in der Weise erkrankt, die Italien nur besonders tragikomisch vorführe.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2015Der Fiebertraum, der die Demokratie aushöhlt
Intellektuelle Naivität verachtet er, sein Markenzeichen ist die Angriffslust: Der britische Historiker Perry Anderson betreibt Zeitdiagnose nicht als Suche nach Letztbegründung. In seinem neuen Buch nimmt er sich das politische Desaster vor, das auf den Namen Italien hört. Und meint damit auch Europa.
Von Jürgen Kaube
Europa ist krank. So beginnt Perry Andersons Buch über die politische Lage Italiens. Ursprünglich im Mai 2014 in der "London Review of Books" erschienen, setzt der Essay die Studien fort, die der anglo-irische, in Kalifornien lehrende Historiker seit zwanzig Jahren zu den politischen Zentren und führenden Mächten der Weltgesellschaft treibt. Dass sie nun nach dem Verlag Berenberg auch Suhrkamp auf deutsch vorstellt, ist erfreulich, an sachkundigen Intellektuellen herrscht hierzulande kein Überfluss. Anderson verbindet in seinen sehr polemischen Texten stets zeitgeschichtliche Kenntnisse und politische Analyse mit systematischen Fragen.
Seine Beiträge über "Die indische Ideologie" drehen sich darum, welche Art von Demokratie in einer Gesellschaft entsteht, zu deren zentralen Merkmalen die Heiligung sozialer Schichtung im Kastenwesen gehört. Vor allem Bewunderern Mahatma Gandhis sei die Lektüre empfohlen. Das Buch "Nach Atatürk" skizziert die Geschichte der Türkei als eines Staates, der entgegen dem säkularen Anschein Nation und Religion nie unterschieden hat und in dem Demokratie seit jeher ein Mittel zum Zweck exekutiver Eliten ist. Das Porträt Erdogans als des ersten professionellen Politikers seines Landes, das Anderson zeichnet, ist von einer unter linken Intellektuellen untypischen Haltung getragen: Er versagt Leuten, die er moralisch verachtet, nicht den Respekt für ihren Machtgebrauch und die Techniken ihrer Selbstbehauptung.
Apropos Respekt für den Gegner: Zuletzt hat Anderson eine Darstellung der amerikanischen Außenpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg und ihrer wichtigsten Berater vorgelegt. Sie behandelt die praktischen Folgen und die ideologischen Komplikationen der Tatsache, dass eine Nation sich zugleich als exzeptionell und als universell vorbildlich, als expansiv im Dienste der Demokratie und im Dienste der eigenen Wirtschaftsinteressen begreift. Wer wissen möchte, wie Amerika über sich selbst als Weltmacht nachdenkt, findet unabhängig von Andersons übersichtlicher Hintergrundstheorie - an allem sind letztlich das Kapital und sein Ismus Schuld - wenig bessere Wegweiser.
Alle diese Bücher Andersons, der 1962 im Alter von vierundzwanzig Jahren Redakteur der "New Left Review" wurde und seitdem an jedem Kampf des intellektuellen europäischen Marxismus mit sehr trockenen Kommentaren beteiligt war, sind von einer lesenden Angriffslust bestimmt. Die Neigung vieler philosophischen Ethiker und Zeitdiagnostiker, über Tatbestände zu reden, von denen sie vorausschicken nur prinzipielle Kenntnis zu haben (Finanzmärkte, Völkerrecht, Militärfragen, politische Parteipositionen), ist ihm völlig fremd. Statt Letztbegründungen anzufertigen, teilt jede Zeile Andersons mit, kann man sich auch historisch weiterbilden.
Seine Hauptangriffe gelten darum auch weniger den beliebten Dämonen der französischen oder deutschen politischen Philosophie, dem Diskurs der Macht oder der Ungerechtigkeit, sondern politischer Angeberei und Verlogenheit. Er verachtet Naivität bei Intellektuellen, weil sie so leicht vermeidbar ist. Leute etwa, die humanitär an Barack Obamas Lippen hängen, sind für ihn Schafe, die das Kontinuum der amerikanischen Politik nicht sehen, weil sie nicht nachzählen, wie viele neugegründete Anti-Terrorismus-Einrichtungen, "targeted killings" mittels Drohnen, Bekräftigungen der Existenz von Guantanamo und völkerrechtswidrige Aktionen in der Regierungszeit des Friedensnobelpreisträgers erfolgten. Anderson sind im Zweifel diejenigen lieber, die das alles verteidigen, als jene, die es beschönigen.
Warum dann aber von einem solchen an den zentralen Machtfragen des politischen Globus interessierten Geist nun eine Abhandlung ausgerechnet über italienische Innenpolitik? Warum eine über die parteipolitischen Hintergründe des Machtwechsels von Silvio Berlusconi über Mario Monti und Enrico Letta zu Matteo Renzi? Die Antwort Andersons: Italien ist kein europäischer Sonderfall, es ist exemplarisch - als Land politischer Korruption. Seit Jahrzehnten seien die Staatsspitzen wichtiger europäischer Länder mit Leuten besetzt, die sich in der Nähe von Banken, Baumagnaten oder Energiefirmen herumtreiben und nach ihrem Ausscheiden aus der Politik dort verdienen, wo sie sich zuvor verdient gemacht haben. Den Sonderfall Angela Merkels als einer vollständig skandalfreien Politikerin zu erwähnen, vergisst Anderson allerdings. Exemplarisch sind ihm politische Skandale, deren höchste Häufung gewiss bei Silvio Berlusconi vorlag, für Eliten, die einerseits Kontrolle nicht fürchten, anderseits von der Meinung beherrscht sind, dass die Wirtschaft der Maßstab allen Handelns ist: "Wenn sich Krankenhäuser, Schulen und Gefängnisse privatisieren und in profitorientierte Unternehmen verwandeln lassen, warum nicht auch politische Ämter?"
Das wichtigste Symptom der europäische Krankheit ist für Anderson dementsprechend, dass ökonomische Dogmen inzwischen denselben Stellenwert einnehmen wie rechtsstaatliche Prinzipien, nämlich Verfassungsrang. Wenn Staatschefs sich auf radikale marktwirtschaftliche Reformen einlassen, sieht ihnen die Öffentlichkeit und sehen ihnen andere Staatschefs oft alle möglichen Rechtsbrüche nach: Anderson nennt den türkischen Ministerpräsidenten, aber auch den spanischen. Zugleich lässt sich an Italien studieren, wie eine Demokratie aussieht, in der die Parteien zu Beutegemeinschaften werden, die Parlamente entsprechend besetzt sind und hohe Gerichte immer wieder für verfassungsgemäß erklären, was der jeweiligen Exekutive zupass kommt.
Höhepunkt der Tragikomödie Italiens war dabei ein Parlament, das verfassungswidrig gewählt worden war, aber in Funktion blieb, weil das Verfassungsgericht die Kontinuität des Staates gefährdet sah, sollte aus der Illegalität des Wahlrechts die Unrechtmäßigkeit der nach ihm gewählten Versammlung gefolgert werden.
Anderson erzählt namens- und anekdotenreich die farbenfrohen Intrigen der italienischen Politik unter dem Staatspräsidenten Giorgio Napolitano: Wahlrechtsänderungen, die bestimmte Ergebnisse hervorbringen sollen, Tauschgeschäfte mit Gütern wie Straffreiheit, Begnadigung oder Verfahrensniederschlagung, die Besetzung der höchsten politischen Ämter mit Leuten, die von niemandem gewählt worden sind. Der Reformbedarf eines verrotteten Staates - "rigide Arbeitsmärkte, unbezahlbare Renten, nepotistische Universitäten, fehlender industrieller Wettbewerb, unzulängliche Privatisierung, ein blockiertes Rechtssystem, Steuerhinterziehung" - legitimiert fast jede politische Entscheidung, ohne dass diese dann aber an der Lage wesentlich etwas ändern würde.
Zur Einsicht in die europäische Krankheit trägt Italien für Anderson auch bei, weil es ein Land ohne Opposition ist. Genauer: die einzige Opposition, die es gibt, Beppe Grillos "M5S", interessiert sich weniger fürs Regieren, mehr fürs grobe Dagegensein und die Repräsentanz der "wahren Opposition". Auch zum Appeal Mario Montis, der als Regierungschef nachgerade verfassungswidrig vom Staatspräsidenten und nicht vom Parlament eingesetzt wurde, trug es bei, dass er nicht aus der Parteipolitik kam, sondern als Reformexperte galt. Politik, so der Fiebertraum, der die Demokratie aushöhlt, wird nicht durch Politik verändert, sondern durch demoskopisch ermittelte Träger von Beliebtheitswerten auf der einen, Technokraten auf der anderen Seite.
Selbst Matteo Renzi überzeugte die Italiener mit der wie von Berlusconi abgeschauten Ankündigung, alle älteren Politiker gehörten auf den Schrottplatz. Der TV- und YouTube-Charismatiker hat seinen Auftritt. Diese Personalisierung der Macht - "Sie kennen mich" - entspricht, laut Anderson, einer Welt, in der Kommunikation nicht länger ein Instrument der Politik ist, sondern deren Wesen, vor dem man keine Angst haben muss." Denn die Videopolitik bringe Persönlichkeiten hervor, die gleichzeitig sehr mächtig seien und sehr leicht zu Fall gebracht werden könnten - "durch Umfragen und Wahlen", wenn Parteien nicht mehr viel bedeuten und selbst die einzige von nationaler Bedeutung in Italien, der Partito Democratico Renzis, fest im Griff einer Person ist. Man müsste Anderson fragen, ob es für das deutsche Wort "Kanzlerwahlverein" eine englische Entsprechung gibt.
In einem "Postscriptum" für die deutsche Ausgabe aktualisiert Anderson seine Beobachtungen um trostlose Berichte aus dem Zahlenwerk der italienischen Wirtschaft und der italienischen Demographie. Sein wichtigster Befund aber ist, dass es in der jüngeren Geschichte Westeuropas kein Beispiel dafür gibt, wie sich ein politisches und ein ökonomisches System zugleich reformieren lassen. Die französische Fünfte Republik ließ sich etablieren, weil die politische Krise mit dem Nachkriegsboom zusammenfiel. Maggie Thatchers Zerstörung der alten englischen Ökonomie vollzog sich in tradierten politischen Formen. Und die wichtigste politische Folge der Wirtschaftsreformen unter Gerhard Schröder war das Abschmelzen der Sozialdemokratie auf fünfundzwanzig Prozent. Eine Frage, die Anderson nicht stellt, die aber zu seiner Diagnose der europäischen Krankheit gehört, lautet: Wenn die Europäische Union ein politisches Gebilde ist, das ökonomischen Zwecken dient, kann sie sich dann der historischen Unwahrscheinlichkeit entziehen, dass die politische Form und das ökonomische System eines Machtgebildes zugleich transformierbar ist?
Perry Anderson: "Das italienische Desaster".
Aus dem Englischen von Joachim Kalka. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 80 S., br., 7,99 [Euro].
Perry Anderson: "American Foreign Policy and Its Thinkers".
Verso Books, London 2015. 284 S., geb., 15,95 [Euro].
Perry Anderson: "Die indische Ideologie".
Aus dem Englischen von Joachim Kalka. Berenberg Verlag, Berlin 2014.
208 S., geb., 22,- [Euro].
Perry Anderson: "Nach Atatürk". Die Türken, ihr Staat und Europa.
Aus dem Englischen von Joachim Kalka. Berenberg Verlag, Berlin 2009.
184 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Intellektuelle Naivität verachtet er, sein Markenzeichen ist die Angriffslust: Der britische Historiker Perry Anderson betreibt Zeitdiagnose nicht als Suche nach Letztbegründung. In seinem neuen Buch nimmt er sich das politische Desaster vor, das auf den Namen Italien hört. Und meint damit auch Europa.
Von Jürgen Kaube
Europa ist krank. So beginnt Perry Andersons Buch über die politische Lage Italiens. Ursprünglich im Mai 2014 in der "London Review of Books" erschienen, setzt der Essay die Studien fort, die der anglo-irische, in Kalifornien lehrende Historiker seit zwanzig Jahren zu den politischen Zentren und führenden Mächten der Weltgesellschaft treibt. Dass sie nun nach dem Verlag Berenberg auch Suhrkamp auf deutsch vorstellt, ist erfreulich, an sachkundigen Intellektuellen herrscht hierzulande kein Überfluss. Anderson verbindet in seinen sehr polemischen Texten stets zeitgeschichtliche Kenntnisse und politische Analyse mit systematischen Fragen.
Seine Beiträge über "Die indische Ideologie" drehen sich darum, welche Art von Demokratie in einer Gesellschaft entsteht, zu deren zentralen Merkmalen die Heiligung sozialer Schichtung im Kastenwesen gehört. Vor allem Bewunderern Mahatma Gandhis sei die Lektüre empfohlen. Das Buch "Nach Atatürk" skizziert die Geschichte der Türkei als eines Staates, der entgegen dem säkularen Anschein Nation und Religion nie unterschieden hat und in dem Demokratie seit jeher ein Mittel zum Zweck exekutiver Eliten ist. Das Porträt Erdogans als des ersten professionellen Politikers seines Landes, das Anderson zeichnet, ist von einer unter linken Intellektuellen untypischen Haltung getragen: Er versagt Leuten, die er moralisch verachtet, nicht den Respekt für ihren Machtgebrauch und die Techniken ihrer Selbstbehauptung.
Apropos Respekt für den Gegner: Zuletzt hat Anderson eine Darstellung der amerikanischen Außenpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg und ihrer wichtigsten Berater vorgelegt. Sie behandelt die praktischen Folgen und die ideologischen Komplikationen der Tatsache, dass eine Nation sich zugleich als exzeptionell und als universell vorbildlich, als expansiv im Dienste der Demokratie und im Dienste der eigenen Wirtschaftsinteressen begreift. Wer wissen möchte, wie Amerika über sich selbst als Weltmacht nachdenkt, findet unabhängig von Andersons übersichtlicher Hintergrundstheorie - an allem sind letztlich das Kapital und sein Ismus Schuld - wenig bessere Wegweiser.
Alle diese Bücher Andersons, der 1962 im Alter von vierundzwanzig Jahren Redakteur der "New Left Review" wurde und seitdem an jedem Kampf des intellektuellen europäischen Marxismus mit sehr trockenen Kommentaren beteiligt war, sind von einer lesenden Angriffslust bestimmt. Die Neigung vieler philosophischen Ethiker und Zeitdiagnostiker, über Tatbestände zu reden, von denen sie vorausschicken nur prinzipielle Kenntnis zu haben (Finanzmärkte, Völkerrecht, Militärfragen, politische Parteipositionen), ist ihm völlig fremd. Statt Letztbegründungen anzufertigen, teilt jede Zeile Andersons mit, kann man sich auch historisch weiterbilden.
Seine Hauptangriffe gelten darum auch weniger den beliebten Dämonen der französischen oder deutschen politischen Philosophie, dem Diskurs der Macht oder der Ungerechtigkeit, sondern politischer Angeberei und Verlogenheit. Er verachtet Naivität bei Intellektuellen, weil sie so leicht vermeidbar ist. Leute etwa, die humanitär an Barack Obamas Lippen hängen, sind für ihn Schafe, die das Kontinuum der amerikanischen Politik nicht sehen, weil sie nicht nachzählen, wie viele neugegründete Anti-Terrorismus-Einrichtungen, "targeted killings" mittels Drohnen, Bekräftigungen der Existenz von Guantanamo und völkerrechtswidrige Aktionen in der Regierungszeit des Friedensnobelpreisträgers erfolgten. Anderson sind im Zweifel diejenigen lieber, die das alles verteidigen, als jene, die es beschönigen.
Warum dann aber von einem solchen an den zentralen Machtfragen des politischen Globus interessierten Geist nun eine Abhandlung ausgerechnet über italienische Innenpolitik? Warum eine über die parteipolitischen Hintergründe des Machtwechsels von Silvio Berlusconi über Mario Monti und Enrico Letta zu Matteo Renzi? Die Antwort Andersons: Italien ist kein europäischer Sonderfall, es ist exemplarisch - als Land politischer Korruption. Seit Jahrzehnten seien die Staatsspitzen wichtiger europäischer Länder mit Leuten besetzt, die sich in der Nähe von Banken, Baumagnaten oder Energiefirmen herumtreiben und nach ihrem Ausscheiden aus der Politik dort verdienen, wo sie sich zuvor verdient gemacht haben. Den Sonderfall Angela Merkels als einer vollständig skandalfreien Politikerin zu erwähnen, vergisst Anderson allerdings. Exemplarisch sind ihm politische Skandale, deren höchste Häufung gewiss bei Silvio Berlusconi vorlag, für Eliten, die einerseits Kontrolle nicht fürchten, anderseits von der Meinung beherrscht sind, dass die Wirtschaft der Maßstab allen Handelns ist: "Wenn sich Krankenhäuser, Schulen und Gefängnisse privatisieren und in profitorientierte Unternehmen verwandeln lassen, warum nicht auch politische Ämter?"
Das wichtigste Symptom der europäische Krankheit ist für Anderson dementsprechend, dass ökonomische Dogmen inzwischen denselben Stellenwert einnehmen wie rechtsstaatliche Prinzipien, nämlich Verfassungsrang. Wenn Staatschefs sich auf radikale marktwirtschaftliche Reformen einlassen, sieht ihnen die Öffentlichkeit und sehen ihnen andere Staatschefs oft alle möglichen Rechtsbrüche nach: Anderson nennt den türkischen Ministerpräsidenten, aber auch den spanischen. Zugleich lässt sich an Italien studieren, wie eine Demokratie aussieht, in der die Parteien zu Beutegemeinschaften werden, die Parlamente entsprechend besetzt sind und hohe Gerichte immer wieder für verfassungsgemäß erklären, was der jeweiligen Exekutive zupass kommt.
Höhepunkt der Tragikomödie Italiens war dabei ein Parlament, das verfassungswidrig gewählt worden war, aber in Funktion blieb, weil das Verfassungsgericht die Kontinuität des Staates gefährdet sah, sollte aus der Illegalität des Wahlrechts die Unrechtmäßigkeit der nach ihm gewählten Versammlung gefolgert werden.
Anderson erzählt namens- und anekdotenreich die farbenfrohen Intrigen der italienischen Politik unter dem Staatspräsidenten Giorgio Napolitano: Wahlrechtsänderungen, die bestimmte Ergebnisse hervorbringen sollen, Tauschgeschäfte mit Gütern wie Straffreiheit, Begnadigung oder Verfahrensniederschlagung, die Besetzung der höchsten politischen Ämter mit Leuten, die von niemandem gewählt worden sind. Der Reformbedarf eines verrotteten Staates - "rigide Arbeitsmärkte, unbezahlbare Renten, nepotistische Universitäten, fehlender industrieller Wettbewerb, unzulängliche Privatisierung, ein blockiertes Rechtssystem, Steuerhinterziehung" - legitimiert fast jede politische Entscheidung, ohne dass diese dann aber an der Lage wesentlich etwas ändern würde.
Zur Einsicht in die europäische Krankheit trägt Italien für Anderson auch bei, weil es ein Land ohne Opposition ist. Genauer: die einzige Opposition, die es gibt, Beppe Grillos "M5S", interessiert sich weniger fürs Regieren, mehr fürs grobe Dagegensein und die Repräsentanz der "wahren Opposition". Auch zum Appeal Mario Montis, der als Regierungschef nachgerade verfassungswidrig vom Staatspräsidenten und nicht vom Parlament eingesetzt wurde, trug es bei, dass er nicht aus der Parteipolitik kam, sondern als Reformexperte galt. Politik, so der Fiebertraum, der die Demokratie aushöhlt, wird nicht durch Politik verändert, sondern durch demoskopisch ermittelte Träger von Beliebtheitswerten auf der einen, Technokraten auf der anderen Seite.
Selbst Matteo Renzi überzeugte die Italiener mit der wie von Berlusconi abgeschauten Ankündigung, alle älteren Politiker gehörten auf den Schrottplatz. Der TV- und YouTube-Charismatiker hat seinen Auftritt. Diese Personalisierung der Macht - "Sie kennen mich" - entspricht, laut Anderson, einer Welt, in der Kommunikation nicht länger ein Instrument der Politik ist, sondern deren Wesen, vor dem man keine Angst haben muss." Denn die Videopolitik bringe Persönlichkeiten hervor, die gleichzeitig sehr mächtig seien und sehr leicht zu Fall gebracht werden könnten - "durch Umfragen und Wahlen", wenn Parteien nicht mehr viel bedeuten und selbst die einzige von nationaler Bedeutung in Italien, der Partito Democratico Renzis, fest im Griff einer Person ist. Man müsste Anderson fragen, ob es für das deutsche Wort "Kanzlerwahlverein" eine englische Entsprechung gibt.
In einem "Postscriptum" für die deutsche Ausgabe aktualisiert Anderson seine Beobachtungen um trostlose Berichte aus dem Zahlenwerk der italienischen Wirtschaft und der italienischen Demographie. Sein wichtigster Befund aber ist, dass es in der jüngeren Geschichte Westeuropas kein Beispiel dafür gibt, wie sich ein politisches und ein ökonomisches System zugleich reformieren lassen. Die französische Fünfte Republik ließ sich etablieren, weil die politische Krise mit dem Nachkriegsboom zusammenfiel. Maggie Thatchers Zerstörung der alten englischen Ökonomie vollzog sich in tradierten politischen Formen. Und die wichtigste politische Folge der Wirtschaftsreformen unter Gerhard Schröder war das Abschmelzen der Sozialdemokratie auf fünfundzwanzig Prozent. Eine Frage, die Anderson nicht stellt, die aber zu seiner Diagnose der europäischen Krankheit gehört, lautet: Wenn die Europäische Union ein politisches Gebilde ist, das ökonomischen Zwecken dient, kann sie sich dann der historischen Unwahrscheinlichkeit entziehen, dass die politische Form und das ökonomische System eines Machtgebildes zugleich transformierbar ist?
Perry Anderson: "Das italienische Desaster".
Aus dem Englischen von Joachim Kalka. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 80 S., br., 7,99 [Euro].
Perry Anderson: "American Foreign Policy and Its Thinkers".
Verso Books, London 2015. 284 S., geb., 15,95 [Euro].
Perry Anderson: "Die indische Ideologie".
Aus dem Englischen von Joachim Kalka. Berenberg Verlag, Berlin 2014.
208 S., geb., 22,- [Euro].
Perry Anderson: "Nach Atatürk". Die Türken, ihr Staat und Europa.
Aus dem Englischen von Joachim Kalka. Berenberg Verlag, Berlin 2009.
184 S., geb., 19,- [Euro].
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»Minutiös analysiert.« Jürgen Kaube Frankfurter Allgemeine Zeitung