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Zwei Brüder aus Riga machen Karriere: erst in Nazideutschland, dann als Spione der jungen BRD. Die Jüdin Ev ist mal des einen, mal des anderen Geliebte. In der leidenschaftlichen Ménage à trois tun sich moralische Abgründe auf, die zu abenteuerlichen politischen Verwicklungen führen. Chris Kraus erzählt die jüngere Geschichte Deutschlands aus einem aufregend neuen Blickwinkel.

Produktbeschreibung
Zwei Brüder aus Riga machen Karriere: erst in Nazideutschland, dann als Spione der jungen BRD. Die Jüdin Ev ist mal des einen, mal des anderen Geliebte. In der leidenschaftlichen Ménage à trois tun sich moralische Abgründe auf, die zu abenteuerlichen politischen Verwicklungen führen. Chris Kraus erzählt die jüngere Geschichte Deutschlands aus einem aufregend neuen Blickwinkel.
Autorenporträt
Chris Kraus, geboren 1963 in Göttingen, ist Filmregisseur und Romancier. Sein Kinodebüt 'Scherbentanz' (mit Jürgen Vogel, Margit Carstensen und Nadja Uhl) machte ihn zum Shootingstar einer neuen Generation von Filmemachern. Spätere Filme (darunter 'Die Blumen von gestern', 'Poll') wurden vielfach ausgezeichnet, 'Vier Minuten' gewann 2007 den Deutschen Filmpreis als bester Spielfilm. Chris Kraus hat bisher drei Romane geschrieben und ist damit auch international erfolgreich. Der Autor lebt in Berlin.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.05.2017

Kristallkugel
im Kopf
Der Filmemacher Chris Kraus zelebriert in seinem Roman
„Das kalte Blut“ die Schrecken des 20. Jahrhunderts
VON CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Muss die Geschichte der Bundesrepublik neu erzählt werden? Haben wir es wirklich mit einer Erinnerungskultur zu tun, die durch „Rituale überdeckt“ ist und dadurch „etwas Verlogenes bekommen“ hat, wie es unlängst der Filmemacher und Buchautor Chris Kraus ausdrückte? Sein jüngster Film „Die Blumen von gestern“ befasste sich mit den psychologischen Konflikten der Enkelgeneration von Holocaust-Tätern, auch Kraus’ eigener Großvater beging als SS-Angehöriger im Baltikum Verbrechen. Über zehn Jahre hinweg hat er sich intensiv mit der Geschichte seiner eigenen Familie und den Kontinuitäten der Lebensläufe von NS-Kriegsverbrechern in der Bundesrepublik beschäftigt.
In seinem Roman „Das kalte Blut“ erzählt er nun die europäische Gewalt- und Geheimdienstgeschichte des 20. Jahrhunderts zwischen Bolschewisten, Faschisten, Kommunisten und falschen Demokraten. Im Mittelpunkt stehen zwei Brüder aus Riga, die im Laufe ihres Lebens an wechselnden Geheimdienstfronten kämpfen. Hubert und Konstantin Solm werden auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert als Abkömmlinge einer deutsch-baltischen Familie geboren. Mit dem Überfall der Bolschewiken auf die baltischen Staaten 1917 ist es schlagartig vorbei mit dem privilegierten Leben der Solms in der mondänen Alberta-Straße im Jugendstilviertel. Der Vater, Kunstmaler Theodor Solm, die Mutter, eine Baronesse, und die Brüder „Hubsi“ und „Koja“ verlieren Status und Besitz.
Koja, der Ich-Erzähler des Romans, erklärt, wie nahezu alle ihre Freunde und Bekannte von einer Sekunde auf die andere zu „satanischen Schädlingen“, vom „Erdboden zu tilgende Insekten“ wurden: „Die Tscheka hatte in der nahen Schützenstraße ihr Büro eingerichtet, und in dessen Keller zogen findige Mongolen den verhafteten Aristokraten die Haut von den Handgelenken bis hinunter zum kleinen Fingernagel, um den Verhören eine unverwechselbare Note zu verleihen.“ Drastische, schockierende Schilderungen gehören zu den wichtigsten Stilmitteln dieses Romans. Chris Kraus liebt die Extreme, seine Figuren ähneln statischen Schablonen, die entweder der absoluten Grausamkeit oder der uferlosen Gutmütigkeit verfallen sind. Dass Kraus seine Geschichte ursprünglich als Filmskript verfasste und mangels Produktionsmittel in kürzester Zeit zu einem Roman verarbeitete, kann man an vielen schludrigen Zeilen ablesen.
Angesichts der Perspektivlosigkeit und Erniedrigung der Deutschbalten unter sowjetischer Herrschaft treibt es Hub, den Theologie-Studenten, und Koja, den Architekten, schließlich zur örtlichen SS-Division, weil man ihnen dort nicht nur einen „Sinn“, sondern auch ein solides Einkommen verspricht. „Ich war von Anfang an ein guter Nazi, obwohl ich es gar nicht wollte“, kommentiert Koja lapidar. Das Töten lernt er schnell. Zehntausende Juden exekutierten und verscharrten SS-Angehörige im Wald bei Riga. An einem der Massengräber wird Koja von seinem Vorgesetzten Stahlecker zur Erschießung einer bereits sterbenden Frau und ihres Babys gezwungen. Koja erwägt kurz zu desertieren, macht dann aber den für immer unumkehrbaren Schritt: „Bevor ich mich wegen des freiliegenden Hirns übergeben konnte, tat ich etwas, was später für Heiterkeit bei Stahlecker sorgen sollte, ja sogar zu der scherzhaften Überlegung, mich wegen Verschwendung von Rüstungsgütern zur Verantwortung zu ziehen: Ich schoss das ganze verdammte Magazin leer.“ Die erzählerischen Mittel dieses Romans erschöpfen sich bei genauem Blick in der selbsterregten Faszination für Körperflüssigkeiten und Gewaltexzesse.
Den Gegenpart zum absolut Bösen, dem Treibstoff dieser Geschichte, verkörpert die junge Ev, die als Waisenkind zur Familie Solm stößt. Sie ist Nacktmodell für den malenden Vater, liebende Schwester für Hub und Koja und zugleich deren erotisierende Liebhaberin, später gar wechselnde Ehefrau. Während Hub Deportationen und Massenerschießungen in den Ostgebieten durchführt und Koja als Nazi-Spion Oppositionelle ans Messer liefert, leistet ihre Schwester-Liebhaberin Ev als Krankenschwester in Auschwitz ihren Einsatz für die Menschlichkeit. Chris Kraus schnitzt seine Figuren aus reichlich grobem Holz, sie bewegen sich immer und überall an der vordersten Front der Weltgeschichte, verpassen nicht eine krasse Szene, die das Jahrhundert des Schreckens hergibt.
Die Hauptfigur Koja ist ein reichlich plump inszeniertes Paradebeispiel des manipulativen Opportunisten, sowohl in Liebesdingen als auch im Geheimdienstgeschäft. Er versteht sich bestens darauf, Vertrauen zu schüren, Verantwortung zu delegieren und Erfolge für sich zu verbuchen. Seine Sexpartnerinnen richtet er sich ebenso zielsicher ab, wie er als eine Art Super-James-Bond den Mossad-Chef an der Nase herumführt, sich in der Organisation Gehlen unentbehrlich macht oder der KGB-Foltermaschinerie entkommt.
„Alle Wahrheiten des Seins sind beschissene Ansichten. Man wächst in sie hinein in diese beschissenen Ansichten, die immer zu einer bestimmten Zeit gehören!“, wirft Koja einmal ein. Ganz bestimmt lässt sich ein Bogen schlagen zwischen den antagonistischen Regimen und den einander ähnelnden perfiden Methoden ihrer Geheimdienste, ein Bogen, den Chris Kraus drastisch überspannt. Auf skurrile Weise schlägt sich das auch in der Rahmenhandlung nieder: Mit einer Kugel im Kopf liegt der allwissende Ich-Erzähler Koja im Jahr 1974 in einem Münchner Krankenhaus. Er muss seinen Bettnachbarn, einen langsam dahinscheidenden Hippie mit aufgeschraubter Schädeldecke, schließlich mit Haschisch dafür bezahlen, dass er sich seinen Erinnerungserguss über die „kristallklare Reinheit des Bösen“ weiter anhört.
„Das kalte Blut“ bleibt als historische Fiktion über die Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts weit hinter dem zurück, was Jonathan Littell in seinem umstrittenen Roman „Die Wohlgesinnten“ versuchte. Die Parallelen zwischen diesen beiden dicken Büchern sind unübersehbar. Hier wie dort berichtet ein ehemaliger SS-Hauptsturmführer mit schwerer Kopfverletzung und intimer Beziehung zur eigenen Schwester über die totale moralische Entgrenzung. Hier wie dort stellt der Autor die ganz großen Fragen nach dem Guten und dem Bösen im Menschen und scheitert an der verengten Binnenperspektive seines Protagonisten.
Am Ende bleiben bei Chris Kraus nur brechende Knochen, spritzende Hirnmasse, jede Menge Sex, ungefilterte Liebesschmach und Reflexionspassagen hart an der Grenze zum pseudo-philosophischen Klischee. Es braucht mehr als nur die Collage krachend sensationeller Figuren und dramatischer Szenen, um einen lesenswerten Roman zu schreiben.
Chris Kraus: Das kalte Blut. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2017. 1187 S. 32 Euro. E-Book 27,99 Euro.
Die Figuren verfallen entweder
der absoluten Grausamkeit
oder der uferlosen Gutmütigkeit
Viele Reflexionspassagen
geraten nah an die Grenze zum
pseudophilosophischen Klischee
Filmregisseur und Schriftsteller: Chris Kraus.
Foto: Maurice Haas / Diogenes Verlag
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Was wie eine "muntere baltische Kempowskiade" mit geschickt verknüpften Familiengeschichten, griechischen Mythen, jiddischen Sprichwörtern, "launigen" Anekdoten und kuriosen Figuren beginnt, ist bald nur noch so "fröhlich wie ein Furz", klagt Rezensent Martin Halter nach der Lektüre von Chris Kraus' Cinemascope-Roman "Das kalte Blut". Zwar erfährt der Kritiker in der auf mehrere Jahrzehnte angelegten Geschichte um die beiden Nazi-Brüder Hubsi und Koja, die eine inzestuöse Dreiecksbeziehung mit ihrer jüdischen, nach dem Krieg als Nazi-Jägerin durch die Welt reisenden Halbschwester Evi eingehen, einiges über BND-Skandale, die Affären um Globke und Dreher oder die Jagd nach Eichmann, Klaus Barbie und Alois Brunner. Doch lässt der Autor sein zum Roman aufgeplustertes Drehbuch bald zu einer allzu kalkulierten Klamotte verkommen, ärgert sich der Kritiker.

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»Chris Kraus ist ein besessener Erzähler.« Martina Knoben / Süddeutsche Zeitung Süddeutsche Zeitung