Wie entstehen die Akkumulation und die Distribution von Kapital? Welche Dynamiken sind dafür maßgeblich? Fragen der langfristigen Evolution von Ungleichheit, der Konzentration von Wohlstand in wenigen Händen und nach den Chancen für ökonomisches Wachstum bilden den Kern der Politischen Ökonomie. Aber befriedigende Antworten darauf gab es bislang kaum, weil aussagekräftige Daten und eine überzeugende Theorie fehlten. In Das Kapital im 21. Jahrhundert analysiert Thomas Piketty ein beeindruckendes Datenmaterial aus 20 Ländern, zurückgehend bis ins 18. Jahrhundert, um auf dieser Basis die entscheidenden ökonomischen und sozialen Abläufe freizulegen. Seine Ergebnisse stellen die Debatte auf eine neue Grundlage und definieren zugleich die Agenda für das künftige Nachdenken über Wohlstand und Ungleichheit. Piketty zeigt uns, dass das ökonomische Wachstum in der Moderne und die Verbreitung des Wissens es uns ermöglicht haben, den Ungleichheiten in jenem apokalyptischen Ausmaß zu entgehen, das Karl Marx prophezeit hatte. Aber wir haben die Strukturen von Kapital und Ungleichheit andererseits nicht so tiefgreifend modifiziert, wie es in den prosperierenden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg den Anschein hatte. Der wichtigste Treiber der Ungleichheit - nämlich die Tendenz von Kapitalgewinnen, die Wachstumsrate zu übertreffen - droht heute extreme Ungleichheiten hervorzubringen, die am Ende auch den sozialen Frieden gefährden und unsere demokratischen Werte in Frage stellen. Doch ökonomische Trends sind keine Gottesurteile. Politisches Handeln hat gefährliche Ungleichheiten in der Vergangenheit korrigiert, so Piketty, und kann das auch wieder tun.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Die NZZ hat sich Zeit gelassen mit ihrer Besprechung von Thomas Pikettys großer Studie zum "Kapital im 21. Jahrhundert". Dabei findet Jan-Werner Müller eigentlich, dass Big Data hier endlich mal eine Big Story produziert habe. Zum Teil fand der Rezensent "spannend wie einen Thriller", wie Piketty die Einkommens- und Vermögensentwicklung analysieret, Datenmaterial auswertet und Steuerakten studiert. Auch Müller hebt hervor, dass Piketty kein Kapitalismusgegner ist, sondern dass er nur herausarbeite, dass die Renditen immer schneller gewachsen sind als die Einkommen, dass die Trente glorieuse nach dem Zweiten Weltkrieg eine absolute wirtschaftshistorische Ausnahme sei und dass man dem "meritokratischen Extremismus" entgegensteuern muss, nach dem sich Führungskräfte in den USA absurde Millionengehälter zuschanzen. Allerdings fragt sich Müller, ob Piketty wirklich der Demokratisierung des Wissens und der Debatte mit seinem eigentlich ziemlich fatalen Befund dienlich ist, dass bisher einzig die Kriege - und zwar mehr als jede sozialdemokratische Politik - zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse geführt haben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.10.2014Spitzenkraft
Thomas Pikettys brillantes Buch „Das Kapital“, das nun
auf Deutsch vorliegt, hat eine weltweite Debatte über die
Verteilung des Reichtums ausgelöst. Ein Überblick
VON ANDREAS ZIELCKE
Tim Cook trat im Jahre 2011 sein Amt bei Apple als Nachfolger von Steve Jobs an. Für dieses Jahr entlohnte man ihn, Gehalt, Aktienoptionen und Gratifikationen zusammengerechnet, mit insgesamt 378 Millionen Dollar. Die Summe betrug das 6258-Fache des durchschnittlichen Jahresgehalts von Apple-Angestellten. Kaum einer nahm daran Anstoß, auch nicht bei ähnlich exorbitant vergüteten Kollegen an der Spitze anderer Unternehmen. Das Phänomen ist jung, es ist extrem, aber bis auf kleine Minderheiten, die sich entrüsten, praktisch unangefochten. Wie es scheint, betrachten die meisten solche Entlohnungsexzesse als Spektakel, als märchenhafte Erfolgsstory und Begleiterscheinung des Starkults, der inzwischen auch Firmenchefs der Digitalindustrie und Hedgefondsmanager umgibt, oder schlicht als verdiente Belohnung für den Triumph ihrer Unternehmen an den Börsen.
Jedenfalls halten es die wenigsten für eine bedrohliche Fehlentwicklung. In der Tat, lassen sich nicht selbst immense Einkommensunterschiede ökonomisch rechtfertigen? Und sind es nicht nur Einzelfälle, die bei der Aufteilung des nationalen Einkommens keine Rolle spielen?
Wie immer man den Fragen auf den Grund geht, eines steht fest: Es gibt die Zeit vor Pikettys Buch, und es gibt die Zeit danach. Spätestens seit die englische Übersetzung im März dieses Jahres erschien (siehe SZ vom 22. April), hat das Buch – das jetzt auf Deutsch unter dem Titel „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ im C.H.Beck-Verlag herauskommt – die bis dahin nur lauwarme Debatte über ökonomische Ungleichheit regelrecht befeuert. Mit einem Schlag ist das Thema auf der Tagesordnung.
Hätte Piketty die ökonomische Ungleichheit, die doch jeder allzu offensichtlich beobachten kann, nur einfach und direkt benannt, wie das Kind des Kaisers neue Kleider benennt, hätte er das gewaltige Echo nicht ausgelöst.
Seine Großtat besteht darin, die Entwicklungslinien vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart aufzudecken, und das mit einer brillanten Tiefenschärfe. Das erlaubt ihm – mit nicht zwingenden, aber doch plausiblen Gründen – den historischen Trend hochzurechnen und eine weitere Verschärfung der Ungleichheit zu prognostizieren. Zudem untermauert er seine Vorhersage dadurch, dass er in der historischen Entwicklung „fundamentale Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus“ identifiziert. Sie sind der Grund, sagt er, dass sich langfristig ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilungen durchsetzen.
Die stürmische Debatte, die seither im Gang ist, offenbart, wie sehr der pessimistische Tenor des Buches elektrisiert, selbst jene, die es in Bausch und Bogen verwerfen. Noch immer zählt es zu den stärksten Indizien für die Bedeutung eines Buches, wenn es auch von vielen kommentiert wird, die es nicht gelesen haben. Die Financial Times brachte am 30. April eine amüsante Glosse darüber, wie sich Befürworter und Gegner von Pikettys Werk in den Haaren liegen, ohne es zu kennen. Mit anderen Worten, es gibt auch eine Piketty-Blase.
Und in dieser Hysterie um die „popkulturelle Sensation“ ( Economist ) will man den französischen Ökonomen entweder niedermachen oder schnurstracks zum neuen John Maynard Keynes, zum neuen Alexis de Tocqueville, wenn nicht zum Karl Marx des 21. Jahrhunderts erheben.
Der Hype wäre kaum von Belang, stünde er nicht im krassen Missverhältnis zum bisherigen Ertrag der öffentlichen Aufregung. Während Pikettys Thematik im engeren Sinn, also die messbare Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen, höchst ergiebig diskutiert wird, kommt die Debatte, die sich anschließen müsste, nämlich die über die demokratischen Implikationen des Ungleichgewichts, bisher nicht vom Fleck. Das hat etwas vom magischen Denken: Man zeigt mit dem Finger auf einen Missstand und glaubt, damit schon das Entscheidende für die Besserung getan zu haben. Da nützt es auch nichts, wenn selbst ein amtierender Finanzminister wie Wolfgang Schäuble auf einem Podium zum Thema „soziale Stabilität“ nebenbei anmerkt, Piketty habe recht. Wie bitte?
Solche rhetorischen Draufgaben kosten und bringen nichts. Am wenigsten liegt das an Piketty selbst. So gründlich, wie er die Dimensionen der Ungleichheit zutage fördert, liefert er der demokratischen Selbstreflexion wahrlich hinreichenden Stoff. Während es aber hier noch nicht zündet, reagieren die Wirtschaftswissenschaften mit einer großen Debatte, bisher vor allem in der angelsächsischen Welt. Sie wissen, was Piketty bedeutet. Natürlich kreist ihre Diskussion primär um die Fakten der Ungleichheit selbst, aber ebenso heftig um die Vorfrage, wie zuverlässig die statistischen Daten und Methoden sind, mit deren Hilfe Piketty die behaupteten Ungleichgewichte diagnostiziert. Und daneben wogt ein eigenes Diskussionsfeld, in dem es ums ideologisch Eingemachte geht, nämlich um Pikettys „Fundamentalgesetze“ des kapitalistischen Wachstums.
Am Anfang steht ein beispielloser Fleiß. Auf der Grundlage jahrzehntelanger Materialrecherche kann Piketty für nahezu jede Dekade seit 1800 darlegen, wie sich Einkommen und Vermögen insbesondere in Frankreich, Großbritannien, Amerika und Deutschland auf die Eliten und den Rest der Bevölkerung verteilt haben oder heute verteilen. Auch Lesern, die sich in Fragen ökonomischer Ungleichheit schon mehr oder weniger kundig wähnten, gehen hier die Augen auf. Von dem schockierenden Tatbestand, der sich an der Spitze der Gesellschaft hinter dem Abstraktum „Ungleichheit“ des Einkommens und Vermögens verbirgt, ermöglicht erst die Fülle des Zahlenwerks eine wirkliche Ahnung.
Freilich kann auch Piketty nur immer wieder die Frage stellen, welche Bedeutung die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen für den demokratischen Zusammenhalt und das ja zumindest nominell nie aufgegebene Egalitätsideal hat. Er selbst gibt darauf keine Antworten, es wäre wohl auch zu viel verlangt. Doch Indizien ließen sich aus seinem Faktenmaterial allemal herauslesen, würde sich das politische Interesse nur darauf einlassen. Immerhin kennen wir unsere Gemeinwesen gut genug, um zu wissen, wie ambivalent der öffentliche Echoraum heute Signale der Ungleichheit wahrnimmt: Teils ist er äußerst sensibel für Anzeichen der Ungerechtigkeit, teils vollkommen unempfindlich gegen ökonomische Hierarchisierung, und teils legt er sich selbst noch so extreme Entlohnungen meritokratisch zurecht (der Tim-Cook-Effekt).
Jedenfalls kommt keine Antwort mehr um die Befunde Pikettys herum. Man muss den Überschwang von Lawrence Summers nicht teilen, dem Ökonomen und ehemaligen Harvard-Präsidenten, wenn er schwärmt, Piketty habe allein mit dem empirischen Nachweis der wiederkehrenden Konzentration des Reichtums bei dem obersten 1 oder 0,1 Prozent der Bevölkerung „den Nobelpreis verdient“. In jedem Fall aber lässt sich sein Urteil, dass Piketty den Diskurs über Ungleichheit transformiert hat, nicht mehr bestreiten.
Inzwischen gleicht die Liste von Ökonomen, die Pikettys Buch als „bahnbrechend“ werten, einem glanzvollen Leporello der Wirtschaftswissenschaftler, weit über die üblichen Verdächtigen wie Paul Krugman (dessen euphorische Besprechung gleichwohl auch Skepsis und kritische Distanz enthält) oder Robert B. Reich hinaus. Eine der klügsten Analysen hat in der New Republic vom 22. April Robert M. Solow verfasst, der nicht nur (wie Krugman und der ebenfalls des Lobes volle Robert J. Shiller) bereits Nobelpreisträger ist, sondern Pikettys Buch mit einer beeindruckenden Nonchalance würdigt, obwohl seine eigene Lehre in dem Buch durchaus kritisch gesehen wird.
Im Zentrum der von allen so hochgepriesenen Rechercheergebnisse präsentiert Piketty die Linie der historischen Entwicklung, die deshalb so beunruhigend ist, weil sie wie eine U-Kurve verläuft: Zunächst das lange 19. Jahrhundert von 1789 bis 1914, das von einer extremen Konzentration des Einkommens und des Vermögens beim obersten Prozent der Bevölkerung geprägt ist. Dann die starke Abnahme der Ungleichheit, angefangen vom Ersten Weltkrieg über den Crash von 1929, weiter über den Zweiten Weltkriegs bis zur Aufbau- und Wirtschaftswunderzeit, die etwa 1970 endet. Und schließlich, als dritte Phase, der Wiederanstieg der Ungleichheit, der in den Siebzigerjahren begann, schon wieder riesige Höhen erklommen hat und sich offenbar weiter fortsetzt.
In der Tat sind die neuen Höhen kolossal. Schon ein, zwei Zahlen sprechen für sich: 2010 (kurz nach der Finanzkrise, inzwischen sind die Relationen noch höher) erzielten die obersten 10 Prozent der US-Bevölkerung knapp 50 Prozent des Einkommens der Nation. Das oberste Prozent erhielt allein rund 20 Prozent. Und dieses Prozent sicherte sich zudem 95 Prozent des gesamten Einkommenszuwachses von 2010 bis 2012. Noch schärfer, die Hälfte des Zuwachses kassierte das oberste Tausendstel (0,1 Prozent). In Deutschland nimmt das oberste Prozent rund 12 Prozent des nationalen Einkommens ein, das oberste Tausendstel reserviert sich allein gut 4 Prozent, also das Vierzigfache seines demografischen Anteils. Aber klar ist, Amerika führt den Trend an.
Die Rückkehr extremer Einkommens- und Vermögensungleichheit wie zu den Zeiten vor 1914 darf allerdings nicht über wichtige Unterschiede hinwegtäuschen. Zum einen gibt es seither eine Mittelschicht (die Piketty wie die Mehrzahl seiner Kollegen als die 40 Prozent definiert, die zwischen den oberen 10 und den unteren 50 Prozent („Unterschicht“) liegen. Die Wiederkehr der frühindustriellen Ungleichheiten betrifft daher die Extrempole der ökonomischen und sozialen Hierarchie, nicht die Schicht dazwischen. Zum andern ist erklärungsbedürftig, warum fast das ganze – wenn auch kurze – 20. Jahrhundert die Ausnahme von der historischen Regel darstellt. Es ist das Jahrhundert der Weltkriege, ökonomischen Katastrophen und Ausnahmezustände, aber reicht das zur Erklärung? Welchen Anteil hat die Durchsetzung (und der Abbau) des Sozialstaates?
Und drittens stammt heute der Löwenanteil der Einnahmen, den das oberste Prozent erzielt, aus Arbeitseinkommen, also nicht mehr, wie bis 1914, vor allem aus Vermögensanlagen. Nur noch beim obersten Tausendstel (genau genommen fast nur beim obersten Zehntausendstel) der amerikanischen Bevölkerung übertreffen die Einkünfte aus Vermögen noch die Einkünfte aus Arbeit. Hier schlägt das erwähnte Phänomen der astronomischen Bezahlung von Topmanagern zu Buche, ein Phänomen, das kein historisches Vorbild hat – und bei dessen Einordnung sich auch Piketty schwertut. Manche Kommentatoren halten ihm vor, dies habe auch mit seinem vagen Begriff von „Kapital“ zu tun.
Tatsächlich verwendet Piketty „Kapital“ und „Vermögen“ synonym. In der Wirtschaftswissenschaft wird mit „Kapital“ meist nur das Anlagevermögen bezeichnet, das als produktiver Faktor in den Produktionsprozess eingeht. Piketty nennt gute Gründe, sich nicht auf die enge Definition festzulegen, weil andernfalls Einnahmen aus privatem Immobilienbesitz, aus Urheberrechten, aus Anlagen in Finanzfonds oder Rentenpapiere in der Luft hingen, obwohl sie große Teile aller Privatvermögen stellen. Abgesehen davon stammen die meisten seiner Daten aus Vermögens- und Erbschaftssteuererklärungen, die alle Vermögensarten erfassen, ohne Rücksicht auf den akademischen Kapitalbegriff.
Gleichwohl bleibt die Frage berechtigt, ob es vielleicht nicht für die ökonomische Ungleichheit, aber doch für die daraus folgenden demokratischen Probleme nicht sehr wohl darauf ankommt, aus welcher Art von Vermögen sich die Asymmetrie speist. Für Abhängigkeiten und gesellschaftlichen Einfluss ist es bekanntlich nicht dasselbe, ob sie auf Immobilienbesitz oder auf unternehmerischem Kapital beruhen. Hier muss der weite Vermögensbegriff Pikettys passen.
Für die Wirtschaftswissenschaft ist aber in jedem Fall die begriffliche Fassung des „Kapitals“ dort bedeutsam, wo es um die behaupteten Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus geht. Hier muss auch Piketty auf Erkenntnisse der (neo-)klassischen Modelltheorien zurückgreifen, und die arbeiten nun mal in der Regel mit dem engen Kapitalbegriff. Das bleibt nicht ohne Folgen. An Stellen, in denen er an solche Modelle anschließt, sind – um es milde zu sagen – Unschärfen seiner Theorie unübersehbar. Sowohl konservative als auch neomarxistische Kritiken, so konträr ihre Stoßrichtungen sind, monieren in diesem Punkt die laxe Begriffsarbeit Pikettys zu Recht.
Seine Forschung verliert dadurch aber wenig an Gewicht, ihr empirischer Ertrag ist einfach zu überragend. Umso stärker schienen ihr aber die Zweifel zuzusetzen, die noch im Frühjahr an seinen statistischen Methoden und Quellen aufkamen. Als die Financial Times mit dem Vorwurf auftrumpfte, Piketty habe zumindest bei der Darstellung der britischen Situation mit fehlerhaften Daten operiert, kam sofort die Parole auf, er sei „entzaubert“.
Die Parole war zwar schon kurz darauf ihrerseits entzaubert, sie erwies sich als völlig überzogen. Nützlich war sie aber dennoch, sie löste einen fruchtbaren Austausch über das Datenmaterial Pikettys aus. Er selbst befördert die Transparenz nach Kräften, indem er alle Datensätze und Quellen im Internet offenlegt, um sie der Kontrolle auszusetzen. Darum ist es inzwischen möglich, sich ein unabhängiges Bild von seinen Statistiken zu machen. Auch das ist der Vorteil der „Pikettymania“, sehr aufschlussreiche Diagramme zur Ungleichheit wie etwa die von Justin Wolfers, Professor in Michigan und Ökonom an der Brookings Institution (zu finden auf der Website http://users.nber.org) zeigen, wie Pikettys Annahmen sich harter Prüfung stellen können.
Ganz so einfach geht dies begreiflicherweise nicht bei den von ihm aufgestellten Gesetzmäßigkeiten, die die grundsätzliche Tendenz des Kapitalismus zur Asymmetrie erklären sollen. Paul Krugman feiert sie als „vereinte Feldtheorie der Ungleichheit“. Nur eines dieser Gesetze ist hier zu erwähnen, weil mit ihm Pikettys Hauptthese steht und fällt. Es ist das besonders schlichte, aber auch besonders folgenreiche Verhältnis der durchschnittlichen Kapitalrendite zum allgemeinen Wirtschaftswachstum eines Landes: In der Regel, sagt Piketty, liegt die Kapitalrendite über dem Wirtschaftswachstum. Ist das so, folgert er, steigt auf Dauer die ungleiche Verteilung des Einkommens und des Vermögens.
Zur Zeit haben wir zwar in fast allen Industrieländern relativ geringe Kapitalrenditen. Da aber die Wachstumsraten in diesen Ländern schon aus demografischen Gründen noch geringer ausfallen, bleibt die Differenz. Darum spreche so viel für eine weitere Verschärfung der Ungleichheit.
Hier scheiden sich die Geister. Weniger an der Frage, ob die Prognose plausibel ist oder nicht. Sondern vor allem daran, ob ihre Plausibilität aus der empirischen Hochrechnung des historischen Trends folgt oder eben aus der behaupteten Gesetzmäßigkeit des Kapitalismus. Spielt der Unterschied der beiden Erklärungswege überhaupt eine Rolle? Für die große Mehrheit der Leser, die nicht vom Fach sind, sicher nicht. Mag es „nur“ statistisch-empirische Gründe dafür geben, dass die ökonomische Kluft in der Gesellschaft noch weiter aufreißt, die Aussichten hellt das nicht auf.
Selbstverständlich aber stürzt sich die Wirtschaftswissenschaft auf das behauptete Elementargesetz. Ein dauerhafter Überschuss der Kapitalrendite über dem Wachstum lässt sich nur erklären, wenn man komplexe Annahmen über die unterschiedliche Produktivität des Kapitals und der Arbeit macht. Darüber hinaus unterstellt er aber auch Annahmen darüber, wie weit der Einsatz von zusätzlichem Kapital den Einsatz von Arbeit (manche sagen: von Humankapital) ersetzen kann – oder umgekehrt. Würden die immer höher qualifizierten Wissensarbeiter im digitalen Zeitalter die Kapitalisten beim Produktivitätswettlauf abhängen, wäre der Überschuss der Kapitalrendite Geschichte, Makulatur. Die Zahlen allerdings sprechen zur Zeit noch eine andere Sprache. Also häufen sich die Fragezeichen, bei Piketty ebenso wie in der hier noch völlig offenen Debatte.
Wie aber auch immer, Pikettys Buch provoziert die Wirtschaftswissenschaft, aus dem Elfenbeinturm ihrer mathematischen Modelle herauszutreten, um das Problem der Ungleichheit zu fassen zu kriegen. Dennoch bleibt es dabei, dass selbst dann, wenn überzeugende ökonomische Erklärungen vorliegen sollten, nichts darüber gesagt ist, ob sich die extremen Ungleichheitsverteilungen gesellschaftlich rechtfertigen lassen. Piketty macht keinen Hehl aus seiner Haltung zu dieser Frage.
In seinem abschließenden Kapitel schlägt er darum als radikale Abhilfe progressive Besteuerungen der höchsten Einkommen und Vermögen vor. Damit begibt er sich in die Welt der Politik, in der sich allerdings schon jetzt abzeichnet, dass seine Vorschläge mit der üblichen Kaltschnäuzigkeit als unrealistisch abgetan werden. Aber die Öffentlichkeit kann ja das Ihre dazu beitragen. Brennt ihr nun die krasse Ungleichheit unter den Nägeln, oder nicht?
Ist Piketty der neue Keynes? Der
neue Tocqueville? Oder gar der
Marx des 21. Jahrhunderts?
Das oberste Prozent sichert
sich in den USA 95 Prozent
des Einkommenszuwachses
Am Ende geht es darum, ob die
Kapitalrendite stärker steigt als
das Wirtschaftswachstum
Von dem Luxusanwesen aus, das gerade für 85 Millionen Dollar angeboten wird, ist der Rest der Welt (in diesem Fall Los Angeles) nur noch schemenhaft zu erkennen. Foto: Bloomberg FT
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Thomas Pikettys brillantes Buch „Das Kapital“, das nun
auf Deutsch vorliegt, hat eine weltweite Debatte über die
Verteilung des Reichtums ausgelöst. Ein Überblick
VON ANDREAS ZIELCKE
Tim Cook trat im Jahre 2011 sein Amt bei Apple als Nachfolger von Steve Jobs an. Für dieses Jahr entlohnte man ihn, Gehalt, Aktienoptionen und Gratifikationen zusammengerechnet, mit insgesamt 378 Millionen Dollar. Die Summe betrug das 6258-Fache des durchschnittlichen Jahresgehalts von Apple-Angestellten. Kaum einer nahm daran Anstoß, auch nicht bei ähnlich exorbitant vergüteten Kollegen an der Spitze anderer Unternehmen. Das Phänomen ist jung, es ist extrem, aber bis auf kleine Minderheiten, die sich entrüsten, praktisch unangefochten. Wie es scheint, betrachten die meisten solche Entlohnungsexzesse als Spektakel, als märchenhafte Erfolgsstory und Begleiterscheinung des Starkults, der inzwischen auch Firmenchefs der Digitalindustrie und Hedgefondsmanager umgibt, oder schlicht als verdiente Belohnung für den Triumph ihrer Unternehmen an den Börsen.
Jedenfalls halten es die wenigsten für eine bedrohliche Fehlentwicklung. In der Tat, lassen sich nicht selbst immense Einkommensunterschiede ökonomisch rechtfertigen? Und sind es nicht nur Einzelfälle, die bei der Aufteilung des nationalen Einkommens keine Rolle spielen?
Wie immer man den Fragen auf den Grund geht, eines steht fest: Es gibt die Zeit vor Pikettys Buch, und es gibt die Zeit danach. Spätestens seit die englische Übersetzung im März dieses Jahres erschien (siehe SZ vom 22. April), hat das Buch – das jetzt auf Deutsch unter dem Titel „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ im C.H.Beck-Verlag herauskommt – die bis dahin nur lauwarme Debatte über ökonomische Ungleichheit regelrecht befeuert. Mit einem Schlag ist das Thema auf der Tagesordnung.
Hätte Piketty die ökonomische Ungleichheit, die doch jeder allzu offensichtlich beobachten kann, nur einfach und direkt benannt, wie das Kind des Kaisers neue Kleider benennt, hätte er das gewaltige Echo nicht ausgelöst.
Seine Großtat besteht darin, die Entwicklungslinien vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart aufzudecken, und das mit einer brillanten Tiefenschärfe. Das erlaubt ihm – mit nicht zwingenden, aber doch plausiblen Gründen – den historischen Trend hochzurechnen und eine weitere Verschärfung der Ungleichheit zu prognostizieren. Zudem untermauert er seine Vorhersage dadurch, dass er in der historischen Entwicklung „fundamentale Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus“ identifiziert. Sie sind der Grund, sagt er, dass sich langfristig ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilungen durchsetzen.
Die stürmische Debatte, die seither im Gang ist, offenbart, wie sehr der pessimistische Tenor des Buches elektrisiert, selbst jene, die es in Bausch und Bogen verwerfen. Noch immer zählt es zu den stärksten Indizien für die Bedeutung eines Buches, wenn es auch von vielen kommentiert wird, die es nicht gelesen haben. Die Financial Times brachte am 30. April eine amüsante Glosse darüber, wie sich Befürworter und Gegner von Pikettys Werk in den Haaren liegen, ohne es zu kennen. Mit anderen Worten, es gibt auch eine Piketty-Blase.
Und in dieser Hysterie um die „popkulturelle Sensation“ ( Economist ) will man den französischen Ökonomen entweder niedermachen oder schnurstracks zum neuen John Maynard Keynes, zum neuen Alexis de Tocqueville, wenn nicht zum Karl Marx des 21. Jahrhunderts erheben.
Der Hype wäre kaum von Belang, stünde er nicht im krassen Missverhältnis zum bisherigen Ertrag der öffentlichen Aufregung. Während Pikettys Thematik im engeren Sinn, also die messbare Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen, höchst ergiebig diskutiert wird, kommt die Debatte, die sich anschließen müsste, nämlich die über die demokratischen Implikationen des Ungleichgewichts, bisher nicht vom Fleck. Das hat etwas vom magischen Denken: Man zeigt mit dem Finger auf einen Missstand und glaubt, damit schon das Entscheidende für die Besserung getan zu haben. Da nützt es auch nichts, wenn selbst ein amtierender Finanzminister wie Wolfgang Schäuble auf einem Podium zum Thema „soziale Stabilität“ nebenbei anmerkt, Piketty habe recht. Wie bitte?
Solche rhetorischen Draufgaben kosten und bringen nichts. Am wenigsten liegt das an Piketty selbst. So gründlich, wie er die Dimensionen der Ungleichheit zutage fördert, liefert er der demokratischen Selbstreflexion wahrlich hinreichenden Stoff. Während es aber hier noch nicht zündet, reagieren die Wirtschaftswissenschaften mit einer großen Debatte, bisher vor allem in der angelsächsischen Welt. Sie wissen, was Piketty bedeutet. Natürlich kreist ihre Diskussion primär um die Fakten der Ungleichheit selbst, aber ebenso heftig um die Vorfrage, wie zuverlässig die statistischen Daten und Methoden sind, mit deren Hilfe Piketty die behaupteten Ungleichgewichte diagnostiziert. Und daneben wogt ein eigenes Diskussionsfeld, in dem es ums ideologisch Eingemachte geht, nämlich um Pikettys „Fundamentalgesetze“ des kapitalistischen Wachstums.
Am Anfang steht ein beispielloser Fleiß. Auf der Grundlage jahrzehntelanger Materialrecherche kann Piketty für nahezu jede Dekade seit 1800 darlegen, wie sich Einkommen und Vermögen insbesondere in Frankreich, Großbritannien, Amerika und Deutschland auf die Eliten und den Rest der Bevölkerung verteilt haben oder heute verteilen. Auch Lesern, die sich in Fragen ökonomischer Ungleichheit schon mehr oder weniger kundig wähnten, gehen hier die Augen auf. Von dem schockierenden Tatbestand, der sich an der Spitze der Gesellschaft hinter dem Abstraktum „Ungleichheit“ des Einkommens und Vermögens verbirgt, ermöglicht erst die Fülle des Zahlenwerks eine wirkliche Ahnung.
Freilich kann auch Piketty nur immer wieder die Frage stellen, welche Bedeutung die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen für den demokratischen Zusammenhalt und das ja zumindest nominell nie aufgegebene Egalitätsideal hat. Er selbst gibt darauf keine Antworten, es wäre wohl auch zu viel verlangt. Doch Indizien ließen sich aus seinem Faktenmaterial allemal herauslesen, würde sich das politische Interesse nur darauf einlassen. Immerhin kennen wir unsere Gemeinwesen gut genug, um zu wissen, wie ambivalent der öffentliche Echoraum heute Signale der Ungleichheit wahrnimmt: Teils ist er äußerst sensibel für Anzeichen der Ungerechtigkeit, teils vollkommen unempfindlich gegen ökonomische Hierarchisierung, und teils legt er sich selbst noch so extreme Entlohnungen meritokratisch zurecht (der Tim-Cook-Effekt).
Jedenfalls kommt keine Antwort mehr um die Befunde Pikettys herum. Man muss den Überschwang von Lawrence Summers nicht teilen, dem Ökonomen und ehemaligen Harvard-Präsidenten, wenn er schwärmt, Piketty habe allein mit dem empirischen Nachweis der wiederkehrenden Konzentration des Reichtums bei dem obersten 1 oder 0,1 Prozent der Bevölkerung „den Nobelpreis verdient“. In jedem Fall aber lässt sich sein Urteil, dass Piketty den Diskurs über Ungleichheit transformiert hat, nicht mehr bestreiten.
Inzwischen gleicht die Liste von Ökonomen, die Pikettys Buch als „bahnbrechend“ werten, einem glanzvollen Leporello der Wirtschaftswissenschaftler, weit über die üblichen Verdächtigen wie Paul Krugman (dessen euphorische Besprechung gleichwohl auch Skepsis und kritische Distanz enthält) oder Robert B. Reich hinaus. Eine der klügsten Analysen hat in der New Republic vom 22. April Robert M. Solow verfasst, der nicht nur (wie Krugman und der ebenfalls des Lobes volle Robert J. Shiller) bereits Nobelpreisträger ist, sondern Pikettys Buch mit einer beeindruckenden Nonchalance würdigt, obwohl seine eigene Lehre in dem Buch durchaus kritisch gesehen wird.
Im Zentrum der von allen so hochgepriesenen Rechercheergebnisse präsentiert Piketty die Linie der historischen Entwicklung, die deshalb so beunruhigend ist, weil sie wie eine U-Kurve verläuft: Zunächst das lange 19. Jahrhundert von 1789 bis 1914, das von einer extremen Konzentration des Einkommens und des Vermögens beim obersten Prozent der Bevölkerung geprägt ist. Dann die starke Abnahme der Ungleichheit, angefangen vom Ersten Weltkrieg über den Crash von 1929, weiter über den Zweiten Weltkriegs bis zur Aufbau- und Wirtschaftswunderzeit, die etwa 1970 endet. Und schließlich, als dritte Phase, der Wiederanstieg der Ungleichheit, der in den Siebzigerjahren begann, schon wieder riesige Höhen erklommen hat und sich offenbar weiter fortsetzt.
In der Tat sind die neuen Höhen kolossal. Schon ein, zwei Zahlen sprechen für sich: 2010 (kurz nach der Finanzkrise, inzwischen sind die Relationen noch höher) erzielten die obersten 10 Prozent der US-Bevölkerung knapp 50 Prozent des Einkommens der Nation. Das oberste Prozent erhielt allein rund 20 Prozent. Und dieses Prozent sicherte sich zudem 95 Prozent des gesamten Einkommenszuwachses von 2010 bis 2012. Noch schärfer, die Hälfte des Zuwachses kassierte das oberste Tausendstel (0,1 Prozent). In Deutschland nimmt das oberste Prozent rund 12 Prozent des nationalen Einkommens ein, das oberste Tausendstel reserviert sich allein gut 4 Prozent, also das Vierzigfache seines demografischen Anteils. Aber klar ist, Amerika führt den Trend an.
Die Rückkehr extremer Einkommens- und Vermögensungleichheit wie zu den Zeiten vor 1914 darf allerdings nicht über wichtige Unterschiede hinwegtäuschen. Zum einen gibt es seither eine Mittelschicht (die Piketty wie die Mehrzahl seiner Kollegen als die 40 Prozent definiert, die zwischen den oberen 10 und den unteren 50 Prozent („Unterschicht“) liegen. Die Wiederkehr der frühindustriellen Ungleichheiten betrifft daher die Extrempole der ökonomischen und sozialen Hierarchie, nicht die Schicht dazwischen. Zum andern ist erklärungsbedürftig, warum fast das ganze – wenn auch kurze – 20. Jahrhundert die Ausnahme von der historischen Regel darstellt. Es ist das Jahrhundert der Weltkriege, ökonomischen Katastrophen und Ausnahmezustände, aber reicht das zur Erklärung? Welchen Anteil hat die Durchsetzung (und der Abbau) des Sozialstaates?
Und drittens stammt heute der Löwenanteil der Einnahmen, den das oberste Prozent erzielt, aus Arbeitseinkommen, also nicht mehr, wie bis 1914, vor allem aus Vermögensanlagen. Nur noch beim obersten Tausendstel (genau genommen fast nur beim obersten Zehntausendstel) der amerikanischen Bevölkerung übertreffen die Einkünfte aus Vermögen noch die Einkünfte aus Arbeit. Hier schlägt das erwähnte Phänomen der astronomischen Bezahlung von Topmanagern zu Buche, ein Phänomen, das kein historisches Vorbild hat – und bei dessen Einordnung sich auch Piketty schwertut. Manche Kommentatoren halten ihm vor, dies habe auch mit seinem vagen Begriff von „Kapital“ zu tun.
Tatsächlich verwendet Piketty „Kapital“ und „Vermögen“ synonym. In der Wirtschaftswissenschaft wird mit „Kapital“ meist nur das Anlagevermögen bezeichnet, das als produktiver Faktor in den Produktionsprozess eingeht. Piketty nennt gute Gründe, sich nicht auf die enge Definition festzulegen, weil andernfalls Einnahmen aus privatem Immobilienbesitz, aus Urheberrechten, aus Anlagen in Finanzfonds oder Rentenpapiere in der Luft hingen, obwohl sie große Teile aller Privatvermögen stellen. Abgesehen davon stammen die meisten seiner Daten aus Vermögens- und Erbschaftssteuererklärungen, die alle Vermögensarten erfassen, ohne Rücksicht auf den akademischen Kapitalbegriff.
Gleichwohl bleibt die Frage berechtigt, ob es vielleicht nicht für die ökonomische Ungleichheit, aber doch für die daraus folgenden demokratischen Probleme nicht sehr wohl darauf ankommt, aus welcher Art von Vermögen sich die Asymmetrie speist. Für Abhängigkeiten und gesellschaftlichen Einfluss ist es bekanntlich nicht dasselbe, ob sie auf Immobilienbesitz oder auf unternehmerischem Kapital beruhen. Hier muss der weite Vermögensbegriff Pikettys passen.
Für die Wirtschaftswissenschaft ist aber in jedem Fall die begriffliche Fassung des „Kapitals“ dort bedeutsam, wo es um die behaupteten Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus geht. Hier muss auch Piketty auf Erkenntnisse der (neo-)klassischen Modelltheorien zurückgreifen, und die arbeiten nun mal in der Regel mit dem engen Kapitalbegriff. Das bleibt nicht ohne Folgen. An Stellen, in denen er an solche Modelle anschließt, sind – um es milde zu sagen – Unschärfen seiner Theorie unübersehbar. Sowohl konservative als auch neomarxistische Kritiken, so konträr ihre Stoßrichtungen sind, monieren in diesem Punkt die laxe Begriffsarbeit Pikettys zu Recht.
Seine Forschung verliert dadurch aber wenig an Gewicht, ihr empirischer Ertrag ist einfach zu überragend. Umso stärker schienen ihr aber die Zweifel zuzusetzen, die noch im Frühjahr an seinen statistischen Methoden und Quellen aufkamen. Als die Financial Times mit dem Vorwurf auftrumpfte, Piketty habe zumindest bei der Darstellung der britischen Situation mit fehlerhaften Daten operiert, kam sofort die Parole auf, er sei „entzaubert“.
Die Parole war zwar schon kurz darauf ihrerseits entzaubert, sie erwies sich als völlig überzogen. Nützlich war sie aber dennoch, sie löste einen fruchtbaren Austausch über das Datenmaterial Pikettys aus. Er selbst befördert die Transparenz nach Kräften, indem er alle Datensätze und Quellen im Internet offenlegt, um sie der Kontrolle auszusetzen. Darum ist es inzwischen möglich, sich ein unabhängiges Bild von seinen Statistiken zu machen. Auch das ist der Vorteil der „Pikettymania“, sehr aufschlussreiche Diagramme zur Ungleichheit wie etwa die von Justin Wolfers, Professor in Michigan und Ökonom an der Brookings Institution (zu finden auf der Website http://users.nber.org) zeigen, wie Pikettys Annahmen sich harter Prüfung stellen können.
Ganz so einfach geht dies begreiflicherweise nicht bei den von ihm aufgestellten Gesetzmäßigkeiten, die die grundsätzliche Tendenz des Kapitalismus zur Asymmetrie erklären sollen. Paul Krugman feiert sie als „vereinte Feldtheorie der Ungleichheit“. Nur eines dieser Gesetze ist hier zu erwähnen, weil mit ihm Pikettys Hauptthese steht und fällt. Es ist das besonders schlichte, aber auch besonders folgenreiche Verhältnis der durchschnittlichen Kapitalrendite zum allgemeinen Wirtschaftswachstum eines Landes: In der Regel, sagt Piketty, liegt die Kapitalrendite über dem Wirtschaftswachstum. Ist das so, folgert er, steigt auf Dauer die ungleiche Verteilung des Einkommens und des Vermögens.
Zur Zeit haben wir zwar in fast allen Industrieländern relativ geringe Kapitalrenditen. Da aber die Wachstumsraten in diesen Ländern schon aus demografischen Gründen noch geringer ausfallen, bleibt die Differenz. Darum spreche so viel für eine weitere Verschärfung der Ungleichheit.
Hier scheiden sich die Geister. Weniger an der Frage, ob die Prognose plausibel ist oder nicht. Sondern vor allem daran, ob ihre Plausibilität aus der empirischen Hochrechnung des historischen Trends folgt oder eben aus der behaupteten Gesetzmäßigkeit des Kapitalismus. Spielt der Unterschied der beiden Erklärungswege überhaupt eine Rolle? Für die große Mehrheit der Leser, die nicht vom Fach sind, sicher nicht. Mag es „nur“ statistisch-empirische Gründe dafür geben, dass die ökonomische Kluft in der Gesellschaft noch weiter aufreißt, die Aussichten hellt das nicht auf.
Selbstverständlich aber stürzt sich die Wirtschaftswissenschaft auf das behauptete Elementargesetz. Ein dauerhafter Überschuss der Kapitalrendite über dem Wachstum lässt sich nur erklären, wenn man komplexe Annahmen über die unterschiedliche Produktivität des Kapitals und der Arbeit macht. Darüber hinaus unterstellt er aber auch Annahmen darüber, wie weit der Einsatz von zusätzlichem Kapital den Einsatz von Arbeit (manche sagen: von Humankapital) ersetzen kann – oder umgekehrt. Würden die immer höher qualifizierten Wissensarbeiter im digitalen Zeitalter die Kapitalisten beim Produktivitätswettlauf abhängen, wäre der Überschuss der Kapitalrendite Geschichte, Makulatur. Die Zahlen allerdings sprechen zur Zeit noch eine andere Sprache. Also häufen sich die Fragezeichen, bei Piketty ebenso wie in der hier noch völlig offenen Debatte.
Wie aber auch immer, Pikettys Buch provoziert die Wirtschaftswissenschaft, aus dem Elfenbeinturm ihrer mathematischen Modelle herauszutreten, um das Problem der Ungleichheit zu fassen zu kriegen. Dennoch bleibt es dabei, dass selbst dann, wenn überzeugende ökonomische Erklärungen vorliegen sollten, nichts darüber gesagt ist, ob sich die extremen Ungleichheitsverteilungen gesellschaftlich rechtfertigen lassen. Piketty macht keinen Hehl aus seiner Haltung zu dieser Frage.
In seinem abschließenden Kapitel schlägt er darum als radikale Abhilfe progressive Besteuerungen der höchsten Einkommen und Vermögen vor. Damit begibt er sich in die Welt der Politik, in der sich allerdings schon jetzt abzeichnet, dass seine Vorschläge mit der üblichen Kaltschnäuzigkeit als unrealistisch abgetan werden. Aber die Öffentlichkeit kann ja das Ihre dazu beitragen. Brennt ihr nun die krasse Ungleichheit unter den Nägeln, oder nicht?
Ist Piketty der neue Keynes? Der
neue Tocqueville? Oder gar der
Marx des 21. Jahrhunderts?
Das oberste Prozent sichert
sich in den USA 95 Prozent
des Einkommenszuwachses
Am Ende geht es darum, ob die
Kapitalrendite stärker steigt als
das Wirtschaftswachstum
Von dem Luxusanwesen aus, das gerade für 85 Millionen Dollar angeboten wird, ist der Rest der Welt (in diesem Fall Los Angeles) nur noch schemenhaft zu erkennen. Foto: Bloomberg FT
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"Ich bin froh, dass ich Thomas Piketty gelesen habe und ermutige Sie, es auch zu tun." Bill Gates ------ "Dieses Buch wird die Ökonomie verändern und mit ihr die ganze Welt." Paul Krugman, Nobelpreisträger, The New York Review of Books ------ "Es ist DAS Wirtschaftsbuch, das die Welt im Sturm erobert hat." The Economist ------- "Pikettys 'Kapital im 21. Jahrhundert' ist eine intellektuelle Glanzleistung." Washington Post ------ "Eine brillante Erzählung über Reichtum und Armut." Süddeutsche Zeitung ------ "Thomas Piketty ist der Ökonom der Stunde." Frankfurter Allgemeine Zeitung ------ "Ein Werk von historischer Tiefe mit einem noch nie zusammengetragenen Faktenreichtum." Die Welt ------ "Wer immer sich ernsthaft mit dem Problem der Ungleichheit beschäftigt, kommt an Piketty nicht vorbei." Handelsblatt ------ "Zum ersten Mal präsentiert ein Ökonom umfassende Belege für die Aussage 'Wer hat, dem wird gegeben'." SpiegelOnline