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Auf dem Weg zu immer tieferer Bedeutung: Kathrin Müller legt eine überaus lesenswerte Objektgeschichte des Kreuzes vor.
Neben dem Kreis ist dies die geometrisch einfachste und zugleich symbolisch bedeutungsvollste Figur: ein senkrechter Strich gekreuzt von einem waagerechten Strich. Kleinkinder können das zeichnen, aber es bedarf erheblicher Anstrengung, um die Welten von Sinn und Sinnwidrigkeit zu erfassen, die im Kreuz verborgen liegen. Die Berliner Kunsthistorikerin Kathrin Müller hat nun in einem ebenso bündigen wie schönen Buch versucht, eine "Objektgeschichte" des Kreuzes zu erzählen. Darin verbindet sie virtuos Kunst-, Kirchen- und Politikgeschichte. Leicht hätte sie in dem unermesslichen Stoff untergehen können. Doch mit sicherem Griff hat sie wesentliche Aspekte ausgewählt, um sie anhand von überaus eindrucksvollen Artefakten vorzustellen.
Die Autorin beginnt damit, den weiten Weg nachzuzeichnen, den die junge Christenheit zurücklegen musste, um im Hinrichtungsinstrument ihres Messias ein Hoffnungszeichen zu sehen und es als solches öffentlich auszustellen. Man macht sich von heute aus, wo das Kreuz als das selbstverständliche christliche Erkennungszeichen gilt, keine Vorstellung davon, wie kompliziert dies gewesen muss. Doch in der Antike wusste man noch, dass das Kreuz zuallererst Schande, Verzweiflung und Tod bedeutet. Entsprechend zögerlich begannen die frühen Christen mit schlichten Gesten, sich zum Kreuz zu bekennen. So beschrieb es Tertullian im zweiten Jahrhundert: "Bei jedem Schritt und Tritt, beim Waschen, Essen, Lichtanzünden, Schlafengehen und welche Tätigkeit wir immer ausüben, drücken wir auf unsere Stirn das kleine Zeichen." Bald wurden daraus erste Frömmigkeitsartefakte, vor allem auf magischen Siegeln und Amuletten, die vor Not, Gefahr und Dämonen schützen sollten. Aber erst aus dem frühen fünften Jahrhundert sind ausgeführte Kreuzesdarstellungen erhalten, die das Hinrichtungswerkzeug in ein Triumphzeichen umschmieden.
Überirdisch schön werden die Kreuzesdarstellungen in der ausgehenden Antike und dem beginnenden Mittelalter und nehmen dabei immer mehr und tiefere Bedeutungen an. An dieser Stelle hätte sich ein Blick über das Europäische hinaus gelohnt. Denn im antiken Äthiopien - immerhin eine der ersten "christlichen Nationen" - wurde eine hochbedeutsame Kreuzesfrömmigkeit und -kunst entwickelt, die noch heute lebendig ist. Mit der subtilen Durchdringung und künstlerischen Ausgestaltung des Symbols kann allerdings eine politische Funktionalisierung einhergehen. Einerseits wurde das Kreuz in mittelalterlichen Handschriften zum theologischen und ästhetischen Prinzip des gesamten Kosmos verklärt, zur Grundstruktur des Seins überhaupt. Andererseits zeigen Legenden über den Sieg Konstantins des Großen und über die Wiederauffindung des Kreuzes durch seine Mutter Helena überdeutlich: Das Kreuz war nicht zuletzt ein militärisches Siegesmal. Offenkundig liegt in der umfassenden symbolischen Bedeutung auch ein politischer Herrschaftsanspruch.
Der übermächtige Reliquienglaube gab dem eine ungeheure spirituelle, politische und ästhetische Dynamik. Das angeblich authentische Kreuz Christi oder zumindest Splitter davon wurden zum Zentrum einer Objektgeschichte, in der das überweltliche Heil dinglich gegenwärtig und wirksam war. Herrliche Reliquiare zeugen davon. Doch die Triumphalisierung des Kreuzes hatte eine Schattenseite, wie die Gewalttaten der Kreuzzüge oder judenfeindliche Kreuzwegdarstellungen beweisen.
Kathrin Müller besitzt ein feines Bewusstsein für Zwiespältigkeiten, für das Schöne im Abgründigen und die Machtinteressen im Spirituellen. So kann sie zeigen, dass das Symbol des Kreuzes nie eindeutig ist, wie es über sich hinauswächst, immer neue Bedeutungen annimmt, dabei jedoch Wesentliches verlieren kann. Nach guter kunsthistorischer Sitte verweilt sie lange bei den genau ausgewählten, sorgfältig präsentierten Artefakten - der Verlag hat bei den Bildern nicht gespart - und zeigt, was es hier alles an Gestaltungen, Bedeutungen und Ambivalenzen zu sehen gibt. So gelingt ihr wie nebenbei ein überzeugendes "Plädoyer für die historischen Geisteswissenschaften, insbesondere die Kunst- und Bildgeschichte" - so ihr programmatischer Anspruch mit diesem Buch.
Es endet mit der Verherrlichung des Kreuzes im konfessionellen Katholizismus des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Gern hätte man mehr darüber gelesen, wie die Objektgeschichte des Kreuzes von den Reformatoren radikal abgebrochen wurde, weil sie eine "Theologie des Kreuzes", aber nicht der "Herrlichkeit" vertraten und weil für sie Gott nicht in einem Objekt, sondern "im Geist und in der Wahrheit" angebetet werden sollte. Hier waren die Reformierten wieder einmal konsequenter als die Lutheraner: Sie beteten mit geschlossenen Augen. In ihren Gottesdiensträumen finden sich keine Artefakte mehr, sondern höchstens Nachbildungen der Tafeln mit den Zehn Geboten. Interessant wäre es auch gewesen, danach zu fragen, ob und wenn ja, welche Folgen das christliche Hauptsymbol in der Kunst der Moderne gezeitigt hat.
So landet dieses Buch am Schluss unvermittelt bei den Kreuzesdebatten der Gegenwart. Das ergibt einen schmerzlichen Kontrast. Hatte man in den Kapiteln zuvor erfahren, wie inspirierend es ist, sich mit historischen Kreuzesgestaltungen zu beschäftigten, sogar mit problematischen oder abstoßenden, so begegnet man hier Erregungen für oder gegen das Kreuz in Amtsstuben oder auf Neo-Schlössern, die populistischen Impulsen gehorchen. Da agieren bayerische Ministerpräsidenten auf demselben niedrigen Niveau wie grüne Kulturstaatsministerinnen. Das ist eigentlich der Rede nicht wert. Gerade deshalb geht von diesem gelehrten, feinsinnigen, mit Genuss zu lesenden Buch ein weihnachtlicher Zauber aus. Denn hier kann man erleben, dass es sich immer noch lohnt, tief in den Brunnen der christlichen Symbolgeschichte hinabzuschauen. JOHANN HINRICH CLAUSSEN
Kathrin Müller: "Das Kreuz". Eine Objektgeschichte des bekanntesten Symbols von der Spätantike zur Neuzeit.
Herder Verlag, Freiburg 2022. 304 S., Abb., geb., 35,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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