Lachen mit Dostojewski! – Ein ungewohnter Blick auf den Großklassiker
Fjodor Dostojewski – der Inbegriff von existenzieller Düsternis und qualvoller Seelenanalyse? Diese Sammlung weitet den Blick. Fünf neu übersetzte Erzählungen zeigen den russischen Großmeister von einer überraschend anderen, hierzulande kaum bekannten Seite: als Autor heiterer, satirischer Geschichten.
Die Besichtigung eines leibhaftigen Krokodils scheint Iwan Matwejitsch die geeignete Vorbereitung auf eine Europareise – da wird er von dem monströsen Tier verschluckt. Für niemanden, das Opfer eingeschlossen, ist das ein Anlass zur Klage, befördert die Attraktion eines sprechenden Menschen im Reptilienbauch doch finanzielle Interessen und Eitelkeiten aller Art. Nicht um Geld, aber um seine Glaubwürdigkeit als Mann der Reformen kämpft Staatsrat Pralinski. Um Toleranz zu demonstrieren, taucht er unangemeldet bei der Hochzeit eines Angestellten auf – «Eine peinliche Geschichte» mit chaotischen Folgen. Ob Slapstick, Groteske, sanfte Ironie oder Tragikomik – Dostojewski zieht in diesem Band alle humoristischen Register.
Fjodor Dostojewski – der Inbegriff von existenzieller Düsternis und qualvoller Seelenanalyse? Diese Sammlung weitet den Blick. Fünf neu übersetzte Erzählungen zeigen den russischen Großmeister von einer überraschend anderen, hierzulande kaum bekannten Seite: als Autor heiterer, satirischer Geschichten.
Die Besichtigung eines leibhaftigen Krokodils scheint Iwan Matwejitsch die geeignete Vorbereitung auf eine Europareise – da wird er von dem monströsen Tier verschluckt. Für niemanden, das Opfer eingeschlossen, ist das ein Anlass zur Klage, befördert die Attraktion eines sprechenden Menschen im Reptilienbauch doch finanzielle Interessen und Eitelkeiten aller Art. Nicht um Geld, aber um seine Glaubwürdigkeit als Mann der Reformen kämpft Staatsrat Pralinski. Um Toleranz zu demonstrieren, taucht er unangemeldet bei der Hochzeit eines Angestellten auf – «Eine peinliche Geschichte» mit chaotischen Folgen. Ob Slapstick, Groteske, sanfte Ironie oder Tragikomik – Dostojewski zieht in diesem Band alle humoristischen Register.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.05.2015Gefundenes Fressen
"Das Krokodil" und andere Erzählungen Dostojewskis
Hat Antoine de Saint-Exupéry Dostojewski gelesen? Man darf es erwarten; in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts las ganz Europa Dostojewski. Allerdings vor allem die fünf großen Romane: "Böse Geister", "Die Gebrüder Karamasow", "Verbrechen und Strafe", "Der Idiot", "Ein grüner Junge" (um die Titel zu verwenden, die Svetlana Geier den Büchern bei ihren Neuübersetzungen gegeben hat). Der Rest vom Werk, immer noch eine gewaltige Menge, wird meist als quantité négligeable behandelt. Dabei steckt darin Auf- und Anregendes genug. Etwa in der unabgeschlossenen Fortsetzungserzählung "Das Krokodil" jene Beschreibung eines Petersburgers, der vom Titeltier verschlungen wird: "Daraufhin ließ sich am Körper des Krokodils verfolgen, wie Iwan Matwejitsch mit all seinen Ecken und Kanten durch das Innere des Tieres glitt." Wer dächte da nicht an die Schlange im "Kleinen Prinzen", in deren Körper sich der von ihr verschluckte Elefant abzeichnet?
Iwan Matwejitsch verschwindet schon nach ein paar Seiten im Schlund des Untiers, bleibt uns danach aber putzmunter und vor allem geschäftstüchtig in seiner neuen Umgebung erhalten. Das ist urkomisch, und man kann schon verstehen, dass Dostojewski sich 1865 außerstande sah, die Sache über die vierte Fortsetzung hinaus weiterzutreiben. Wie hätte er diese Konstellation auch zufriedenstellend auflösen sollen? Iwan Matwejitsch ist doch gar nicht mehr anders vorstellbar als im Krokodilmagen ("unwahrscheinlich elastisch"). Zudem stand eine Gesamtausgabe des 1821 geborenen, aber schon sehr erfolgreichen russischen Schriftstellers an, und für die kam ihm das Prosastück gerade recht. Seiner Skurrilität halber wurde es auch als Fragment beliebt. Jetzt trägt sogar gleich ein ganzes Buch den Titel der Erzählung.
Es versammelt fünf Erzählungen, alle neu übersetzt von Christiane Pöhlmann und mit einem Nachwort versehen von Eckhard Henscheid, der seit Jahrzehnten den Großhumoristen Dostojewski preist, weshalb ihm "Das Krokodil" - man verzeihe die billige Pointe - ein gefundenes Fressen ist. Auch der anderen vier Erzählungen wegen, obwohl sie gern tragikomisch statt lustig genant werden dürfen. Das Glanzstück ist die 1862 publizierte "Peinliche Geschichte", in der ein Wirklicher Staatsrat überraschend die Hochzeitsfeier eines Untergebenen besucht, die daraufhin ihren Charakter vollständig ändert, ehe sie wieder in gewohnte Bahnen zurückfindet, in denen aber wiederum für den Staatsrat kein rechter Platz ist. Die mehr als hundert Seiten lange Erzählung ist ein Meisterwerk der Rhythmusvariation und des inneren Monologs sowie zugleich ein Porträt der russischen Gesellschaft in der späten Zarenzeit, das rätselhaft erscheinen lässt, wie das noch ein halbes Jahrhundert lang gutgehen konnte (und heute wieder weiter).
Es ist nun nicht so, dass man diese Erzählungen - außerdem noch den "Roman in neun Briefen" von 1845, "Ein kleiner Held" von 1857 und "Die Sanftmütige" von 1876 - nicht längst schon hätte kennen können. Doch erst einmal ist der kleine Dünndruckband des Manesse Verlags ein reines buchgestalterisches Vergnügen, und dann gibt Christiane Pöhlmann den fünf Texten im Deutschen eine frische Sprache, ohne dabei jedoch irgend an Zeitkolorit einzubüßen. Nur eine Sache stört. Im "Krokodil" findet sich eine besonders burleske Szene, die ihren Ausgang in dem Moment nimmt, als Iwan Matwejitsch verschluckt ist. Ein deutsches Ehepaar, das die Bestie gegen Geld zur Schau stellt, fürchtet nun finanziellen Verlust, die Ehefrau des Verschlungenen dagegen ist wenig erfreut über den Verlust des Gatten. Es bricht aus ihr heraus: "Aufschlitzen, aufschlitzen, aufschlitzen!" Man kann die Frau verstehen.
Doch die beiden Deutschen verstehen sie nicht, und das liegt daran, dass Dostojewski im Original "rasporot'" benutzt, einen Begriff, der eine weitere Bedeutung hat, nämlich den einer körperlichen Züchtigung, durchaus im juristischen Sinne. Also fürchten die Besitzer eine Verurteilung ihres Krokodils, statt sich Sorgen darum zu machen, dass es getötet werden könnte, um Iwan Matwejitsch wieder zu befreien. In solchen Missverständnissen liegt Dostojewskis größter Witz, doch Christiane Pöhlmann hat im Deutschen keinen ähnlich doppeldeutigen Begriff zur Verfügung (was nicht ihre Schuld ist), verzichtet aber auch auf jede Erläuterung der nun wiederum für die hiesigen Leser denkbar missverständlichen Szene (was eindeutig ein Versäumnis ist). Da es ansonsten reichlich Fußnoten auch zu ziemlich banalen Dingen gibt, darf man sich wundern, was sie hier davon abgehalten hat. Und die Entscheidung reichlich komisch finden. Allerdings in einem ganz anderen Sinne als dem von Dostojewskis Komik.
ANDREAS PLATTHAUS
Fjodor Dostojewski: "Das Krokodil". Erzählungen.
Aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann.
Manesse Verlag, Zürich 2015. 446 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Das Krokodil" und andere Erzählungen Dostojewskis
Hat Antoine de Saint-Exupéry Dostojewski gelesen? Man darf es erwarten; in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts las ganz Europa Dostojewski. Allerdings vor allem die fünf großen Romane: "Böse Geister", "Die Gebrüder Karamasow", "Verbrechen und Strafe", "Der Idiot", "Ein grüner Junge" (um die Titel zu verwenden, die Svetlana Geier den Büchern bei ihren Neuübersetzungen gegeben hat). Der Rest vom Werk, immer noch eine gewaltige Menge, wird meist als quantité négligeable behandelt. Dabei steckt darin Auf- und Anregendes genug. Etwa in der unabgeschlossenen Fortsetzungserzählung "Das Krokodil" jene Beschreibung eines Petersburgers, der vom Titeltier verschlungen wird: "Daraufhin ließ sich am Körper des Krokodils verfolgen, wie Iwan Matwejitsch mit all seinen Ecken und Kanten durch das Innere des Tieres glitt." Wer dächte da nicht an die Schlange im "Kleinen Prinzen", in deren Körper sich der von ihr verschluckte Elefant abzeichnet?
Iwan Matwejitsch verschwindet schon nach ein paar Seiten im Schlund des Untiers, bleibt uns danach aber putzmunter und vor allem geschäftstüchtig in seiner neuen Umgebung erhalten. Das ist urkomisch, und man kann schon verstehen, dass Dostojewski sich 1865 außerstande sah, die Sache über die vierte Fortsetzung hinaus weiterzutreiben. Wie hätte er diese Konstellation auch zufriedenstellend auflösen sollen? Iwan Matwejitsch ist doch gar nicht mehr anders vorstellbar als im Krokodilmagen ("unwahrscheinlich elastisch"). Zudem stand eine Gesamtausgabe des 1821 geborenen, aber schon sehr erfolgreichen russischen Schriftstellers an, und für die kam ihm das Prosastück gerade recht. Seiner Skurrilität halber wurde es auch als Fragment beliebt. Jetzt trägt sogar gleich ein ganzes Buch den Titel der Erzählung.
Es versammelt fünf Erzählungen, alle neu übersetzt von Christiane Pöhlmann und mit einem Nachwort versehen von Eckhard Henscheid, der seit Jahrzehnten den Großhumoristen Dostojewski preist, weshalb ihm "Das Krokodil" - man verzeihe die billige Pointe - ein gefundenes Fressen ist. Auch der anderen vier Erzählungen wegen, obwohl sie gern tragikomisch statt lustig genant werden dürfen. Das Glanzstück ist die 1862 publizierte "Peinliche Geschichte", in der ein Wirklicher Staatsrat überraschend die Hochzeitsfeier eines Untergebenen besucht, die daraufhin ihren Charakter vollständig ändert, ehe sie wieder in gewohnte Bahnen zurückfindet, in denen aber wiederum für den Staatsrat kein rechter Platz ist. Die mehr als hundert Seiten lange Erzählung ist ein Meisterwerk der Rhythmusvariation und des inneren Monologs sowie zugleich ein Porträt der russischen Gesellschaft in der späten Zarenzeit, das rätselhaft erscheinen lässt, wie das noch ein halbes Jahrhundert lang gutgehen konnte (und heute wieder weiter).
Es ist nun nicht so, dass man diese Erzählungen - außerdem noch den "Roman in neun Briefen" von 1845, "Ein kleiner Held" von 1857 und "Die Sanftmütige" von 1876 - nicht längst schon hätte kennen können. Doch erst einmal ist der kleine Dünndruckband des Manesse Verlags ein reines buchgestalterisches Vergnügen, und dann gibt Christiane Pöhlmann den fünf Texten im Deutschen eine frische Sprache, ohne dabei jedoch irgend an Zeitkolorit einzubüßen. Nur eine Sache stört. Im "Krokodil" findet sich eine besonders burleske Szene, die ihren Ausgang in dem Moment nimmt, als Iwan Matwejitsch verschluckt ist. Ein deutsches Ehepaar, das die Bestie gegen Geld zur Schau stellt, fürchtet nun finanziellen Verlust, die Ehefrau des Verschlungenen dagegen ist wenig erfreut über den Verlust des Gatten. Es bricht aus ihr heraus: "Aufschlitzen, aufschlitzen, aufschlitzen!" Man kann die Frau verstehen.
Doch die beiden Deutschen verstehen sie nicht, und das liegt daran, dass Dostojewski im Original "rasporot'" benutzt, einen Begriff, der eine weitere Bedeutung hat, nämlich den einer körperlichen Züchtigung, durchaus im juristischen Sinne. Also fürchten die Besitzer eine Verurteilung ihres Krokodils, statt sich Sorgen darum zu machen, dass es getötet werden könnte, um Iwan Matwejitsch wieder zu befreien. In solchen Missverständnissen liegt Dostojewskis größter Witz, doch Christiane Pöhlmann hat im Deutschen keinen ähnlich doppeldeutigen Begriff zur Verfügung (was nicht ihre Schuld ist), verzichtet aber auch auf jede Erläuterung der nun wiederum für die hiesigen Leser denkbar missverständlichen Szene (was eindeutig ein Versäumnis ist). Da es ansonsten reichlich Fußnoten auch zu ziemlich banalen Dingen gibt, darf man sich wundern, was sie hier davon abgehalten hat. Und die Entscheidung reichlich komisch finden. Allerdings in einem ganz anderen Sinne als dem von Dostojewskis Komik.
ANDREAS PLATTHAUS
Fjodor Dostojewski: "Das Krokodil". Erzählungen.
Aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann.
Manesse Verlag, Zürich 2015. 446 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
«Der kleine Dünndruckband ... ist ein reines buchgestalterisches Vergnügen, und Christiane Pöhlmann gibt den fünf Texten im Deutschen eine frische Sprache, ohne dabei an Zeitkolorit einzubüßen.» Frankfurter Allgemeine Zeitung, Andreas Platthaus