Walter Benjamin beschreibt in dem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit die geschichtlichen, sozialen und ästhetischen Prozesse, die mit der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes zusammenhängen. In die Reihe der kunstsoziologischen Arbeiten Benjamins gehören auch die beiden hier zum ersten Mal in Buchform veröffentlichten Texte: Kleine Geschichte der Photographie (1931) und Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker (1937). Sie erhärten Benjamins Einsichten am Einzelfall.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.06.2007Die Neuerfindung der Kunst
Das Schicksal der Klassiker ist es, dass ihre Werke eingefasst werden in einen ganzen Apparat von Erklärungen, von Text- und Rezeptionsgeschichte, von Forschungsberichten, Stellenkommentaren, Glossaren, Bibliographien und Materialien. Texte, die eine solche vieldimensionale Aufbereitung vertragen, können als klassische Texte bezeichnet werden. Ist also Walter Benjamins berühmte Abhandlung über "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (Kommentar von Detlev Schöttker. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 254 S., br., 9,- [Euro]), die Suhrkamps neue Studienbibliothek eröffnet (F.A.Z. vom 6. Juni) ein Klassiker?
Vor etwa siebzig Jahren niedergeschrieben und in einer französischen Übersetzung in der "Zeitschrift für Sozialforschung" veröffentlicht, hat es bis in die sechziger Jahre gedauert, bis der Text seine Wirkung ganz entfalten konnte. Zweifellos war er eine der Hauptstützen des Nachruhms von Walter Benjamin. Er lieferte Stichworte, ohne die zeitweise keine Diskussion zur Lage der Kunst auskam. Benjamins These vom "Verfall der Aura" gewann eine Anziehungskraft, die die seiner ungleich handfesteren Überlegungen zur Ästhetik des Films und der Fotografie weit in den Schatten stellte. Eine in der umfangreichen Bibliographie des Suhrkamp-Bandes nur zum Teil erfasste Literatur schloss sich an Benjamin an, er wurde zum Säulenheiligen der aktuellen Reflexion der Lage der Kunst. Die allenfalls vergleichbaren Thesen von André Malraux, Ortega y Gasset, Hans Sedlmayr oder Edgar Wind verblassten dagegen. Nicht zuletzt die politische Zielrichtung, die Benjamin seiner Theorie gegeben hatte, ermöglichte es, die entpolitisierte Kunst und Kunstdiskussion der Gegenwart mit politischen Akzenten zu versehen.
Die Geschichte der Benjamin-Rezeption, die bald internationale Dimensionen annahm, ist noch nicht geschrieben, ihre Antriebe sind weitgehend ungeklärt. Der Benjamin, den Gershom Scholem und Adorno porträtierten, verwandelte sich bald in den der Neuen Linken, die in ihm den Marxisten und den Gesprächspartner Brechts wiederentdeckten und die Spaltung der Person Benjamins bis ins Extrem trieben. Und diese Kluft überwölbte ein unerschöpflicher Schatz von Benjamin-Zitaten, mit denen Germanisten, Literaturwissenschaftler und Philosophen ihre Arbeiten schmückten. Während die Bildung und das gebildete Zitat ansonsten in Misskredit geraten waren, lebten sie stellvertretend in Benjamin noch einmal auf. Eine Geistesgeschichte der Bundesrepublik könnte ohne ein Kapitel über die Rezeption Walter Benjamins nicht geschrieben werden.
Der Klassiker beweist sich dadurch, dass er sich gegenüber unterschiedlichsten Rezeptionsbedingungen behauptet. Dies ist auch jetzt wiederum der Fall. Denn in der aktuellen Lage verwandelt er sich in einen Vorläufer der gegenwärtigen Medientheorie. Was Benjamin über Film, über Fotografie, über die Wahrnehmungsgeschichte von Kunst zu sagen hat, reiht sich nahtlos in die weitgefächerten systematischen und kulturhistorischen Studien über mediale Produktionen ein, die sogar in die Domäne der traditionellen Kunstgeschichte ausgreifen. Man kann dies als einen Beweis der prognostischen Kraft der Forschungen Benjamins sehen, der, wenn auch nicht allein, so doch mit der größten philosophischen Energie die Erschließung moderner Bilderwelten betrieben hat.
Der Preis dieses Triumphes ist freilich eine gewisse Spannungslosigkeit, den der Forschungsbetrieb mit sich bringt und der scharf kontrastiert mit Benjamins Pathos einer Neuerfindung der Kunsttheorie. Während er glaubte, in der Kunst, im Film, in der Fotografie Vorgänge zu beobachten, die eine Umwälzung der Gesellschaft anzeigten (und für ihn in der Sowjetunion ihre Erfüllung finden sollten), führt die Übersetzung seiner Vision in den Diskurs der heutigen Medientheorie zu einem Verzicht auf solche sprengenden Energien und erzeugt stattdessen Behagen im technologischen Alltag.
Die Aktualisierung der Benjaminschen Thesen in dem mit reichen Materialien bestückten Band blendet wohl nicht zufällig gerade jene Intentionen aus, die er in den frühesten brieflichen Äußerungen zu seiner Abhandlung ausgesprochen hat. Sie war ihm während seiner Beschäftigung mit dem neunzehnten Jahrhundert und einer Arbeit über Baudelaire wie unabsichtlich entstanden. Er wollte, wie er sagt, aus der "jetzigen Kunst" etwas Entscheidendes über das "Schicksal" der Kunst im neunzehnten Jahrhundert erkennen. Dabei glaubte er, dass es ein "Jetzt der Erkennbarkeit" gebe, nämlich die Möglichkeit, im gegenwärtigen Augenblick etwas über die Vergangenheit zu erkennen, was weder vorher noch nachher erkannt werden könnte. Diese rätselhafte Erkenntnisart, so meinte er, habe ihn den Schlüssel zur Kunst des neunzehnten Jahrhunderts finden lassen. Er sprach auch von dem Ticken eines Uhrwerks, dessen Stundenschlag erst jetzt in unsere Ohren gedrungen sei.
Dieses mystische Geschichtspathos bezog sich auf die Wahrnehmung einer Krise der Kunst, deren Zuspitzung in der Gegenwart Aufschluss geben sollte über ihre Gründe in der Vergangenheit. Von einer solchen Krise ist heute weder in der Kunst noch in der Theorie der Medien die Rede. Man wird ihre Rückkehr abwarten müssen, um den Stundenschlag der Einsichten Benjamins zu vernehmen.
HENNING RITTER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Schicksal der Klassiker ist es, dass ihre Werke eingefasst werden in einen ganzen Apparat von Erklärungen, von Text- und Rezeptionsgeschichte, von Forschungsberichten, Stellenkommentaren, Glossaren, Bibliographien und Materialien. Texte, die eine solche vieldimensionale Aufbereitung vertragen, können als klassische Texte bezeichnet werden. Ist also Walter Benjamins berühmte Abhandlung über "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (Kommentar von Detlev Schöttker. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 254 S., br., 9,- [Euro]), die Suhrkamps neue Studienbibliothek eröffnet (F.A.Z. vom 6. Juni) ein Klassiker?
Vor etwa siebzig Jahren niedergeschrieben und in einer französischen Übersetzung in der "Zeitschrift für Sozialforschung" veröffentlicht, hat es bis in die sechziger Jahre gedauert, bis der Text seine Wirkung ganz entfalten konnte. Zweifellos war er eine der Hauptstützen des Nachruhms von Walter Benjamin. Er lieferte Stichworte, ohne die zeitweise keine Diskussion zur Lage der Kunst auskam. Benjamins These vom "Verfall der Aura" gewann eine Anziehungskraft, die die seiner ungleich handfesteren Überlegungen zur Ästhetik des Films und der Fotografie weit in den Schatten stellte. Eine in der umfangreichen Bibliographie des Suhrkamp-Bandes nur zum Teil erfasste Literatur schloss sich an Benjamin an, er wurde zum Säulenheiligen der aktuellen Reflexion der Lage der Kunst. Die allenfalls vergleichbaren Thesen von André Malraux, Ortega y Gasset, Hans Sedlmayr oder Edgar Wind verblassten dagegen. Nicht zuletzt die politische Zielrichtung, die Benjamin seiner Theorie gegeben hatte, ermöglichte es, die entpolitisierte Kunst und Kunstdiskussion der Gegenwart mit politischen Akzenten zu versehen.
Die Geschichte der Benjamin-Rezeption, die bald internationale Dimensionen annahm, ist noch nicht geschrieben, ihre Antriebe sind weitgehend ungeklärt. Der Benjamin, den Gershom Scholem und Adorno porträtierten, verwandelte sich bald in den der Neuen Linken, die in ihm den Marxisten und den Gesprächspartner Brechts wiederentdeckten und die Spaltung der Person Benjamins bis ins Extrem trieben. Und diese Kluft überwölbte ein unerschöpflicher Schatz von Benjamin-Zitaten, mit denen Germanisten, Literaturwissenschaftler und Philosophen ihre Arbeiten schmückten. Während die Bildung und das gebildete Zitat ansonsten in Misskredit geraten waren, lebten sie stellvertretend in Benjamin noch einmal auf. Eine Geistesgeschichte der Bundesrepublik könnte ohne ein Kapitel über die Rezeption Walter Benjamins nicht geschrieben werden.
Der Klassiker beweist sich dadurch, dass er sich gegenüber unterschiedlichsten Rezeptionsbedingungen behauptet. Dies ist auch jetzt wiederum der Fall. Denn in der aktuellen Lage verwandelt er sich in einen Vorläufer der gegenwärtigen Medientheorie. Was Benjamin über Film, über Fotografie, über die Wahrnehmungsgeschichte von Kunst zu sagen hat, reiht sich nahtlos in die weitgefächerten systematischen und kulturhistorischen Studien über mediale Produktionen ein, die sogar in die Domäne der traditionellen Kunstgeschichte ausgreifen. Man kann dies als einen Beweis der prognostischen Kraft der Forschungen Benjamins sehen, der, wenn auch nicht allein, so doch mit der größten philosophischen Energie die Erschließung moderner Bilderwelten betrieben hat.
Der Preis dieses Triumphes ist freilich eine gewisse Spannungslosigkeit, den der Forschungsbetrieb mit sich bringt und der scharf kontrastiert mit Benjamins Pathos einer Neuerfindung der Kunsttheorie. Während er glaubte, in der Kunst, im Film, in der Fotografie Vorgänge zu beobachten, die eine Umwälzung der Gesellschaft anzeigten (und für ihn in der Sowjetunion ihre Erfüllung finden sollten), führt die Übersetzung seiner Vision in den Diskurs der heutigen Medientheorie zu einem Verzicht auf solche sprengenden Energien und erzeugt stattdessen Behagen im technologischen Alltag.
Die Aktualisierung der Benjaminschen Thesen in dem mit reichen Materialien bestückten Band blendet wohl nicht zufällig gerade jene Intentionen aus, die er in den frühesten brieflichen Äußerungen zu seiner Abhandlung ausgesprochen hat. Sie war ihm während seiner Beschäftigung mit dem neunzehnten Jahrhundert und einer Arbeit über Baudelaire wie unabsichtlich entstanden. Er wollte, wie er sagt, aus der "jetzigen Kunst" etwas Entscheidendes über das "Schicksal" der Kunst im neunzehnten Jahrhundert erkennen. Dabei glaubte er, dass es ein "Jetzt der Erkennbarkeit" gebe, nämlich die Möglichkeit, im gegenwärtigen Augenblick etwas über die Vergangenheit zu erkennen, was weder vorher noch nachher erkannt werden könnte. Diese rätselhafte Erkenntnisart, so meinte er, habe ihn den Schlüssel zur Kunst des neunzehnten Jahrhunderts finden lassen. Er sprach auch von dem Ticken eines Uhrwerks, dessen Stundenschlag erst jetzt in unsere Ohren gedrungen sei.
Dieses mystische Geschichtspathos bezog sich auf die Wahrnehmung einer Krise der Kunst, deren Zuspitzung in der Gegenwart Aufschluss geben sollte über ihre Gründe in der Vergangenheit. Von einer solchen Krise ist heute weder in der Kunst noch in der Theorie der Medien die Rede. Man wird ihre Rückkehr abwarten müssen, um den Stundenschlag der Einsichten Benjamins zu vernehmen.
HENNING RITTER
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