Das einzigartige Porträt eines Landes und einer Frau, die sich nicht zum Schweigen bringen lässt
Jelena Kostjutschenko berichtete viele Jahre lang über die politische Repression in ihrem Heimatland, bis ihre Zeitung eingestellt und sie ins Exil gezwungen wurde. Ihr Buch zeichnet ein eindringliches Bild von Russland aus der Sicht derer, die es brutal unterdrückt – Dorfmädchen, die zur Sexarbeit rekrutiert werden, queere Menschen in der Provinz, Patientinnen und Ärzte auf einer ukrainischen Entbindungsstation oder Journalistinnen wie sie selbst. In ihren packenden Reportagen und persönlichen Essays wirft sie einen schonungslosen Blick hinter Putins Propaganda und zeigt eine Welt, die Leserinnen und Lesern in Westeuropa ansonsten verborgen bleibt: die Lebensrealität der Ausgegrenzten und Ausgeschlossenen.
Im März 2022 überquerte Jelena Kostjutschenko als Reporterin für Russlands wichtigste unabhängige Zeitung, die Nowaja Gaseta, die Grenze zur Ukraine, um über den Krieg zu berichten. Ihre Mission: dafür zu sorgen, dass die Russinnen und Russen von den Gräueltaten erfuhren, die Putin in ihrem Namen beging.
Aus ihren zahlreichen Reportagen der letzten fünfzehn Jahre hat Jelena Kostjutschenko dreizehn für dieses Buch ausgewählt. Sie verbindet sie mit autobiografischen Essays, entstanden seit dem Überfall auf die Ukraine 2022, zu einer kaleidoskopischen Erzählung über ihr Heimatland, das sich zu einem zunehmend autoritären, homophoben Staat entwickelt.
Kostjutschenko berichtet von der Annexion der Krim, dem Krieg im Donbass und aus dem belagerten ukrainischen Mykolajiw. Sie erzählt vom Leben eines queeren Paares im russischen Hinterland, besucht obdachlose Kinder, die sich in der Ruine eines verlassenen Krankenhauses in Moskau eingerichtet haben, begleitet eine 24-Stunden-Schicht in einem Moskauer Polizeirevier und verschafft sich Zutritt zu einem von der Öffentlichkeit abgeschirmten geschlossenen Heim für psychisch Kranke. Sie erzählt aber auch sehr persönliche Geschichten von sich und ihren Erfahrungen als junge, lesbische Frau, als LGBTQ-Aktivistin und als Reporterin der Nowaja Gaseta, die die Ermordung von vier Kolleginnen und Kollegen miterlebt hat.
Getrieben von der Überzeugung, dass die höchste Form der Liebe und des Patriotismus die Kritik ist, dokumentiert Kostjutschenko unerschrocken das Leben in Russland aus der Sicht derer, die systematisch zum Schweigen gebracht werden.
Mit einem exklusiven Vorwort für die deutsche Ausgabe.
Jelena Kostjutschenko berichtete viele Jahre lang über die politische Repression in ihrem Heimatland, bis ihre Zeitung eingestellt und sie ins Exil gezwungen wurde. Ihr Buch zeichnet ein eindringliches Bild von Russland aus der Sicht derer, die es brutal unterdrückt – Dorfmädchen, die zur Sexarbeit rekrutiert werden, queere Menschen in der Provinz, Patientinnen und Ärzte auf einer ukrainischen Entbindungsstation oder Journalistinnen wie sie selbst. In ihren packenden Reportagen und persönlichen Essays wirft sie einen schonungslosen Blick hinter Putins Propaganda und zeigt eine Welt, die Leserinnen und Lesern in Westeuropa ansonsten verborgen bleibt: die Lebensrealität der Ausgegrenzten und Ausgeschlossenen.
Im März 2022 überquerte Jelena Kostjutschenko als Reporterin für Russlands wichtigste unabhängige Zeitung, die Nowaja Gaseta, die Grenze zur Ukraine, um über den Krieg zu berichten. Ihre Mission: dafür zu sorgen, dass die Russinnen und Russen von den Gräueltaten erfuhren, die Putin in ihrem Namen beging.
Aus ihren zahlreichen Reportagen der letzten fünfzehn Jahre hat Jelena Kostjutschenko dreizehn für dieses Buch ausgewählt. Sie verbindet sie mit autobiografischen Essays, entstanden seit dem Überfall auf die Ukraine 2022, zu einer kaleidoskopischen Erzählung über ihr Heimatland, das sich zu einem zunehmend autoritären, homophoben Staat entwickelt.
Kostjutschenko berichtet von der Annexion der Krim, dem Krieg im Donbass und aus dem belagerten ukrainischen Mykolajiw. Sie erzählt vom Leben eines queeren Paares im russischen Hinterland, besucht obdachlose Kinder, die sich in der Ruine eines verlassenen Krankenhauses in Moskau eingerichtet haben, begleitet eine 24-Stunden-Schicht in einem Moskauer Polizeirevier und verschafft sich Zutritt zu einem von der Öffentlichkeit abgeschirmten geschlossenen Heim für psychisch Kranke. Sie erzählt aber auch sehr persönliche Geschichten von sich und ihren Erfahrungen als junge, lesbische Frau, als LGBTQ-Aktivistin und als Reporterin der Nowaja Gaseta, die die Ermordung von vier Kolleginnen und Kollegen miterlebt hat.
Getrieben von der Überzeugung, dass die höchste Form der Liebe und des Patriotismus die Kritik ist, dokumentiert Kostjutschenko unerschrocken das Leben in Russland aus der Sicht derer, die systematisch zum Schweigen gebracht werden.
Mit einem exklusiven Vorwort für die deutsche Ausgabe.
»Dieses Buch ist ein Meilenstein - zum Verständnis des Abgrunds, in den sich Russland manövriert hat.« BR 24
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.02.2024Die hässliche Realität
Nicht schön, aber realistisch und gar nicht romantisch: Einblicke in das Russland, das seit vielen Jahren von Wladimir Putin regiert wird.
Die regierungskritische Zeitung "Nowaja Gaseta" schaffte es nach dem Überfall auf die Ukraine, noch 32 Tage in Russland zu erscheinen. Dann war nach fast 30 Jahren Schluss. Einige Journalisten blieben trotz der Militärzensur und der Schikanen im Land. Andere gingen ins Exil, wie Jelena Kostjutschenko. Nach ihren Recherchen im damals von russischen Soldaten besetzten Cherson sei sie in Russland nicht mehr sicher, hatte der Chefredakteur zu ihr gesagt. Also zog die Journalistin nach Berlin und schrieb ein Buch. Nun ist "Das Land, das ich liebe" auf Deutsch erschienen; Untertitel: "Wie es wirklich ist, in Russland zu leben". Im Vorwort schreibt die Journalistin, dass ihre deutschen Freunde den Titel seltsam fanden. "Die Liebe zu einem Land endet im Blutvergießen", hätten sie gesagt. Kostjutschenko glaubt das nicht. Sie will herausfinden, woher ihr Gefühl für Russland kommt - und wozu es sie in Kriegszeiten verpflichtet.
Das Buch enthält eine Auswahl ihrer in der "Nowaja Gaseta" erschienenen Reportagen, die sie mit persönlichen Erlebnissen verknüpft. So beschreibt Kostjutschenko, wie sie - 1986 geboren - in den Wirren des Russlands der Neunziger aufwächst: die Unsicherheit nach dem Ende der Sowjetunion, die alltägliche Gewalt, die Kriege in Tschetschenien und der damit verbundene Aufstieg von Wladimir Putin. Der erste Text im Buch beschreibt passend dazu eine Szenerie aus dem Jahr 2008, als Putin das Präsidentenamt an seinen Statthalter Dmitrij Medwedjew übergab. Generalstabsmäßig wird jedes Detail der Veranstaltung über Wochen hinweg erprobt, Lichtdouble der beiden Männer laufen über den faltenfreien roten Teppich. Am Ende erfährt die Autorin, dass die vermeintliche Liveübertragung mit Verzögerung ausgestrahlt wird, falls doch etwas schiefgeht. "Wozu der ganze Stress?", fragt sie. Der Film habe doch sowieso ein Happy End.
Weniger glücklich sind die Menschen, die an der Schnellzugstrecke zwischen Moskau und Sankt Petersburg leben. Die Bahnen rasen an den meisten Ortschaften vorbei. Der Schnellzug Sapsan hält sowieso nicht in den Dörfern, doch auch die Halte der Regionalbahnen werden immer weniger. Und in den Siedlungen fehlt es an vielem: gut bezahlten Arbeitsplätzen, fließendem Wasser, Gesundheitsversorgung. Im Dorf Buchalowo, 236 Kilometer von Moskau und 414 Kilometer von Sankt Petersburg entfernt, lädt man einen Kranken auf den "Scheißwagen", eine Mistkarre, um ihn zum Bahnhof zu bringen. Der nächste Zug nimmt ihn mit, der Lokführer ruft dann in der nächstgrößeren Ortschaft einen Krankenwagen zum dortigen Bahnhof. Ist jemand gar nicht transportfähig, werden sogar Schlaganfälle übers Telefon behandelt.
Kostjutschenko hat sich Reportagen ausgesucht, die zeigen, wie schwierig das Leben in Putins Russland ist: für Minderheiten, Umweltaktivisten, Kritiker. Sie erlebt selbst die Hilflosigkeit gegenüber dem Staat. Etwa, als sie sich eine Wohnung kauft und diese monatelang herrichtet. Dann soll das Haus, in dem die Wohnung ist, abgerissen werden. Sie zieht vor Gericht und verliert jeden Prozess. Das Geld, die Arbeit, die in ihrem neuen Zuhause stecken, sind weg.
Mit Anfang, Mitte 20 merkt Kostjutschenko, dass sie auf Frauen steht. Als sie ihre erste Freundin kennenlernt, beginnt sie, sich für die Rechte von Homosexuellen einzusetzen. Die kleinen Kundgebungen, die sie besucht, werden regelmäßig von Nationalisten und Orthodoxen gestört; die Polizei schaut zu, wie die Aktivisten verprügelt werden. Auch Kostjutschenko wird zusammengeschlagen und anschließend festgenommen. Jahre später reist sie in den Süden Russlands, wo zwei Männer ermordet wurden. Mitgefühl haben die wenigsten Nachbarn, die meisten scheinen froh zu sein, dass die beiden seltsamen Kauze, die zusammenlebten, endlich weg sind.
Besonders eindrücklich sind ihre Texte aus den Regionen Russlands, die nur selten in westlichen Medien vorkommen. Sie besucht die Nganasanen, das "nördlichste Volk" Russlands. Gerade einmal 700 Menschen gehören dieser Gruppe noch an, die früher von der Rentierjagd und vom Fischen lebte. Doch die Fische sind wegen der Umweltverschmutzung in den Flüssen verschwunden, auch die Rentiere sind weitergezogen. Perspektiven für junge Menschen gibt es kaum, dafür viele Selbstmorde. Der Bürgermeister einer nganasanischen Ortschaft sagt, dass dort nur einer von zehn Menschen eines natürlichen Todes sterbe.
2020 reist Kostjutschenko nach Norilsk, einer Industriestadt im Norden, die vor allem bekannt ist durch die dortige Nickelfabrik. Kurz zuvor waren 20.000 Tonnen Diesel in einen Fluss gelaufen; die Bilder von dem rot gefärbten Wasser gingen um die Welt. Seit Jahren verpestet Nornickel die Umwelt, ohne große Konsequenzen. Der Text über die Verwicklungen des Unternehmens mit den Behörden ist der längste im Buch, er umfasst fast 50 Seiten.
Immer wieder äußert sie sich kritisch über ihr Land, das ihrer Meinung nach in den Faschismus abgleitet. Auch die "Nowaja Gaseta" ist bekannt für ihre Kritik an den Machthabern. Mehrere ihrer Mitarbeiter wurden umgebracht. Das bekannteste Opfer: Anna Politkowskaja, die regelmäßig über Krieg und Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien berichtete. Deren Tod hat Kostjutschenko sehr mitgenommen, Politkowskaja war ihr Vorbild. Von 2014 an schreibt Kostjutschenko dann über den Krieg in der Ukraine. Sie reist in das Gebiet Rostow, das an die Ukraine grenzt. Moskau streitet im Sommer vor acht Jahren noch jede Verbindung zu den Kämpfern im Donbass ab. Kostjutschenko trifft eine Frau, die ihren Mann sucht. Er hatte sich für den Krieg im Donbass gemeldet, nun ist er verschwunden. Irgendwann heißt es, er sei tot. Doch wo ist der Leichnam? Es beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Behörden. Niemand will etwas mit den toten russischen Kämpfern in der Ostukraine zu tun haben. Der letzte Text im Buch spielt schon in der Ukraine, wo Kostjutschenko im März 2022 in Mykolajiw den Beschuss der Russen miterlebt.
"Das Land, das ich liebe" ist ein Ritt durch anderthalb Jahrzehnte unter Putin. Das Buch gibt einen Einblick in die russische Gesellschaft jenseits der großen Politik, in ein Land, das viele Deutsche noch immer romantisieren. Es ist der Blick einer Russin, die um das Verhältnis zum eigenen Land ringt. Kostjutschenko identifiziert sich oft mit ihren Protagonisten, ihr Stil ist für Leser ungewohnt, die schön geschriebene Reportagen erwarten. Ihre Texte sind nicht schön, sie sind realistisch. OTHMARA GLAS
Jelena Kostjutschenko: Das Land, das ich liebe. Wie es wirklich ist, in Russland zu leben.
Penguin Verlag, München 2023. 416 S., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nicht schön, aber realistisch und gar nicht romantisch: Einblicke in das Russland, das seit vielen Jahren von Wladimir Putin regiert wird.
Die regierungskritische Zeitung "Nowaja Gaseta" schaffte es nach dem Überfall auf die Ukraine, noch 32 Tage in Russland zu erscheinen. Dann war nach fast 30 Jahren Schluss. Einige Journalisten blieben trotz der Militärzensur und der Schikanen im Land. Andere gingen ins Exil, wie Jelena Kostjutschenko. Nach ihren Recherchen im damals von russischen Soldaten besetzten Cherson sei sie in Russland nicht mehr sicher, hatte der Chefredakteur zu ihr gesagt. Also zog die Journalistin nach Berlin und schrieb ein Buch. Nun ist "Das Land, das ich liebe" auf Deutsch erschienen; Untertitel: "Wie es wirklich ist, in Russland zu leben". Im Vorwort schreibt die Journalistin, dass ihre deutschen Freunde den Titel seltsam fanden. "Die Liebe zu einem Land endet im Blutvergießen", hätten sie gesagt. Kostjutschenko glaubt das nicht. Sie will herausfinden, woher ihr Gefühl für Russland kommt - und wozu es sie in Kriegszeiten verpflichtet.
Das Buch enthält eine Auswahl ihrer in der "Nowaja Gaseta" erschienenen Reportagen, die sie mit persönlichen Erlebnissen verknüpft. So beschreibt Kostjutschenko, wie sie - 1986 geboren - in den Wirren des Russlands der Neunziger aufwächst: die Unsicherheit nach dem Ende der Sowjetunion, die alltägliche Gewalt, die Kriege in Tschetschenien und der damit verbundene Aufstieg von Wladimir Putin. Der erste Text im Buch beschreibt passend dazu eine Szenerie aus dem Jahr 2008, als Putin das Präsidentenamt an seinen Statthalter Dmitrij Medwedjew übergab. Generalstabsmäßig wird jedes Detail der Veranstaltung über Wochen hinweg erprobt, Lichtdouble der beiden Männer laufen über den faltenfreien roten Teppich. Am Ende erfährt die Autorin, dass die vermeintliche Liveübertragung mit Verzögerung ausgestrahlt wird, falls doch etwas schiefgeht. "Wozu der ganze Stress?", fragt sie. Der Film habe doch sowieso ein Happy End.
Weniger glücklich sind die Menschen, die an der Schnellzugstrecke zwischen Moskau und Sankt Petersburg leben. Die Bahnen rasen an den meisten Ortschaften vorbei. Der Schnellzug Sapsan hält sowieso nicht in den Dörfern, doch auch die Halte der Regionalbahnen werden immer weniger. Und in den Siedlungen fehlt es an vielem: gut bezahlten Arbeitsplätzen, fließendem Wasser, Gesundheitsversorgung. Im Dorf Buchalowo, 236 Kilometer von Moskau und 414 Kilometer von Sankt Petersburg entfernt, lädt man einen Kranken auf den "Scheißwagen", eine Mistkarre, um ihn zum Bahnhof zu bringen. Der nächste Zug nimmt ihn mit, der Lokführer ruft dann in der nächstgrößeren Ortschaft einen Krankenwagen zum dortigen Bahnhof. Ist jemand gar nicht transportfähig, werden sogar Schlaganfälle übers Telefon behandelt.
Kostjutschenko hat sich Reportagen ausgesucht, die zeigen, wie schwierig das Leben in Putins Russland ist: für Minderheiten, Umweltaktivisten, Kritiker. Sie erlebt selbst die Hilflosigkeit gegenüber dem Staat. Etwa, als sie sich eine Wohnung kauft und diese monatelang herrichtet. Dann soll das Haus, in dem die Wohnung ist, abgerissen werden. Sie zieht vor Gericht und verliert jeden Prozess. Das Geld, die Arbeit, die in ihrem neuen Zuhause stecken, sind weg.
Mit Anfang, Mitte 20 merkt Kostjutschenko, dass sie auf Frauen steht. Als sie ihre erste Freundin kennenlernt, beginnt sie, sich für die Rechte von Homosexuellen einzusetzen. Die kleinen Kundgebungen, die sie besucht, werden regelmäßig von Nationalisten und Orthodoxen gestört; die Polizei schaut zu, wie die Aktivisten verprügelt werden. Auch Kostjutschenko wird zusammengeschlagen und anschließend festgenommen. Jahre später reist sie in den Süden Russlands, wo zwei Männer ermordet wurden. Mitgefühl haben die wenigsten Nachbarn, die meisten scheinen froh zu sein, dass die beiden seltsamen Kauze, die zusammenlebten, endlich weg sind.
Besonders eindrücklich sind ihre Texte aus den Regionen Russlands, die nur selten in westlichen Medien vorkommen. Sie besucht die Nganasanen, das "nördlichste Volk" Russlands. Gerade einmal 700 Menschen gehören dieser Gruppe noch an, die früher von der Rentierjagd und vom Fischen lebte. Doch die Fische sind wegen der Umweltverschmutzung in den Flüssen verschwunden, auch die Rentiere sind weitergezogen. Perspektiven für junge Menschen gibt es kaum, dafür viele Selbstmorde. Der Bürgermeister einer nganasanischen Ortschaft sagt, dass dort nur einer von zehn Menschen eines natürlichen Todes sterbe.
2020 reist Kostjutschenko nach Norilsk, einer Industriestadt im Norden, die vor allem bekannt ist durch die dortige Nickelfabrik. Kurz zuvor waren 20.000 Tonnen Diesel in einen Fluss gelaufen; die Bilder von dem rot gefärbten Wasser gingen um die Welt. Seit Jahren verpestet Nornickel die Umwelt, ohne große Konsequenzen. Der Text über die Verwicklungen des Unternehmens mit den Behörden ist der längste im Buch, er umfasst fast 50 Seiten.
Immer wieder äußert sie sich kritisch über ihr Land, das ihrer Meinung nach in den Faschismus abgleitet. Auch die "Nowaja Gaseta" ist bekannt für ihre Kritik an den Machthabern. Mehrere ihrer Mitarbeiter wurden umgebracht. Das bekannteste Opfer: Anna Politkowskaja, die regelmäßig über Krieg und Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien berichtete. Deren Tod hat Kostjutschenko sehr mitgenommen, Politkowskaja war ihr Vorbild. Von 2014 an schreibt Kostjutschenko dann über den Krieg in der Ukraine. Sie reist in das Gebiet Rostow, das an die Ukraine grenzt. Moskau streitet im Sommer vor acht Jahren noch jede Verbindung zu den Kämpfern im Donbass ab. Kostjutschenko trifft eine Frau, die ihren Mann sucht. Er hatte sich für den Krieg im Donbass gemeldet, nun ist er verschwunden. Irgendwann heißt es, er sei tot. Doch wo ist der Leichnam? Es beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Behörden. Niemand will etwas mit den toten russischen Kämpfern in der Ostukraine zu tun haben. Der letzte Text im Buch spielt schon in der Ukraine, wo Kostjutschenko im März 2022 in Mykolajiw den Beschuss der Russen miterlebt.
"Das Land, das ich liebe" ist ein Ritt durch anderthalb Jahrzehnte unter Putin. Das Buch gibt einen Einblick in die russische Gesellschaft jenseits der großen Politik, in ein Land, das viele Deutsche noch immer romantisieren. Es ist der Blick einer Russin, die um das Verhältnis zum eigenen Land ringt. Kostjutschenko identifiziert sich oft mit ihren Protagonisten, ihr Stil ist für Leser ungewohnt, die schön geschriebene Reportagen erwarten. Ihre Texte sind nicht schön, sie sind realistisch. OTHMARA GLAS
Jelena Kostjutschenko: Das Land, das ich liebe. Wie es wirklich ist, in Russland zu leben.
Penguin Verlag, München 2023. 416 S., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Jelena Kostjutschenkos Buch versammelt laut Rezensentin Othmara Glas Texte, die die Journalistin für die regimekritische russische - inzwischen in Riga publizierte - Zeitschrift "Nowaja Gaseta" verfasst hat. Die Texte drehen sich, erfahren wir, unter anderem um die Wirren der russischen 1990er und den Aufstieg Wladimir Putins, aber auch um den Krieg in der Ukraine sowie um Homophobie, die die Autorin am eigenen Leib erfuhr. Besonders beeindruckt ist Glas von der Art, wie Kostjutschenko über Menschen in abgelegenen Gegenden Russlands schreibt, etwa über die Nganasanen im hohen Norden, die unter Umweltverschmutzung leiden. Auch die Repressionen gegen Andersdenkende im Putin-Regime kommen zur Sprache, heißt es weiter. Man lernt viel über Russland aus diesem Buch, schließt Glas, schöne Reportagen im landläufigen Stil sollte man jedoch nicht erwarten - hier geht es um Realismus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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