Messerscharfe Geschichten über die Zerbrechlichkeit der männlichen Seele.
Zwei Brüder, die ihren volltrunkenen Vater bei einem gemeinsamen Zirkusbesuch in die Manege stolpern sehen, wo er sich als Freiwilliger vor dem johlenden Publikum zersägen lassen will. Ein Mann, der sich beim Aussortieren alter Klamotten in seinem ehemaligen Kinderzimmer an den Tag erinnert, an dem er als Siebzehnjähriger seine schwangere Freundin zu einer Abtreibung in die Frauenklinik begleitete: Der Tag des Abschieds aus dem Land der Jungen. Krusovszky zeigt jene Kippmomente im Leben seiner Figuren, wie Scham neben Liebe steht, Verzweiflung und Trauer neben Gewalt, Spott neben Stolz. Dabei schlüpft der Autor versiert in immer neue Erzählerrollen und entwickelt einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann.
Übersetzt von Terézia Mora.
Zwei Brüder, die ihren volltrunkenen Vater bei einem gemeinsamen Zirkusbesuch in die Manege stolpern sehen, wo er sich als Freiwilliger vor dem johlenden Publikum zersägen lassen will. Ein Mann, der sich beim Aussortieren alter Klamotten in seinem ehemaligen Kinderzimmer an den Tag erinnert, an dem er als Siebzehnjähriger seine schwangere Freundin zu einer Abtreibung in die Frauenklinik begleitete: Der Tag des Abschieds aus dem Land der Jungen. Krusovszky zeigt jene Kippmomente im Leben seiner Figuren, wie Scham neben Liebe steht, Verzweiflung und Trauer neben Gewalt, Spott neben Stolz. Dabei schlüpft der Autor versiert in immer neue Erzählerrollen und entwickelt einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann.
Übersetzt von Terézia Mora.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ilma Rakusa feiert die feinen Erzählungen des Ungarn Denes Krusovszky als Entdeckung. Wie der Autor seine Figuren, Brüder, Singles, Paare an Kipppunkte heranführt, mit denen sich ihr Leben entscheidend verändert, findet Rakusa stark. Eine Abtreibung forciert die Trennung, eine späte Rache geht schief, ein Vater wird bei einer Zirkusnummer enthauptet - der Autor setzt das "suggestiv", detailreich und so traurig wie lebensvoll in Szene, meint Rakusa begeistert. Was Erzählungen vermögen - lakonische Psychogramme und Milieuskizzen zeichnen, belegt dieser Band aufs Schönste, so die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.2024Gefährdete und andere gefährdende Männlichkeit
Dénes Krusovszkys ungarischer Erzählungsband "Das Land der Jungen", übersetzt von Terézia Mora
Ein roter Faden, der die Erzählungen eines Buchs miteinander verbindet, kommt vielen Lesern und wohl auch Verlagen entgegen: Muss man den seiner Form wegen beliebteren Roman schon missen, so liefert der rote Faden doch einen Zusammenhang der einzelnen Geschichten, einen Kern, vielleicht eine Entwicklung: der Erzählungsband als komponierte Einheit oder gar Gesamtkunstwerk wie einst Langspielplatten in Zeiten vor dem Streaming. Solch ein Konzept deutet schon der Titel des Sammelbandes von Dénes Krusovszky an: "Das Land der Jungen". Der 1982 geborene Autor gehört zu jener Generation der ungarischen Literatur, die bisher im Schatten der großen alten Männer Imre Kertész, Péter Esterházy, Péter Nádas und László Krasznahorkai steht. Angefangen hat er als Lyriker, 2017 erschien der Erzählungsband, inzwischen liegt auch ein fünfhundertseitiger Roman von Krusovszky vor.
Das titelgebende "Land der Jungen" ist Ungarn, und seine Jungen sind durchweg männlich, jedoch nicht nur jung. Die Hauptpersonen der von Terézia Mora mit Eleganz übertragenen Geschichten altern mit fortschreitender Seitenzahl; vom Schüler über den seit Jahren verheirateten Fotografen bis zum Tischlermeister in den besten Jahren sind fast alle Lebensalter vertreten. Nur die letzte Erzählung spielt im neunzehnten Jahrhundert, alle anderen sind in naher Vergangenheit angesiedelt.
Die Protagonisten verbindet eine gewisse Isolation und Kommunikationsunwilligkeit. Anderen Menschen vertrauen sie sich auch dann nicht an, wenn sich die Lage unangenehm zuspitzt. Die Einzelgänger versuchen zurechtzukommen und sind um allerlei Erklärungen für ihr Tun nicht verlegen. Nur stehen sie am Ende doch vor einem Scherbenhaufen. Krusovszky schildert keine toxische, sondern eine gefährdete und andere gefährdende Männlichkeit, wie sie nicht nur im Orbán-Ungarn, sondern auch im übrigen Europa anzutreffen ist.
Alle Geschichten erzählen unaufgeregt von dramatischen Ereignissen: Ein Scheidungskind befürchtet im Zirkus, dass sein betrunkener Vater bei einem Zaubertrick entzweigesägt wird; ein Waisenjunge schließt beim Fahrradfahren auf einer viel befahrenen Straße die Augen, nachdem er den sittenstrengen Onkel mit einer Prostituierten gesehen hat; ein ungarischer Student ermutigt seinen jungfräulichen arabischen Zimmergenossen in Prag zu sexueller Offensivität, was zu einer Vergewaltigung führt; nach den Aufnahmen einer an häuslichen Abgasen erstickten Kleinfamilie fährt ein Polizeifotograf zu seiner Frau, fotografiert die wie eine Tote Schlafende, bekommt eine Erektion und beschließt, Brotberuf, erkaltete kinderlose Ehe und Vororthäuschen zu verlassen, um wieder als Künstler zu arbeiten.
Auch wenn es in den Geschichten bisweilen ungewöhnlicher zugeht, bleibt der Ton gemäßigt. Auf den Wunsch eines alten Fürsten hin kleidet ein erfahrener Tischlermeister eine Kapelle mit Menschenknochen aus, selbst ein Kronleuchter entsteht aus dem heiklen Material. Das Ossarium sei ein "Denkmal des Todes und des Lebens", wird sein Erbauer nicht müde zu behaupten. Doch die Arbeit am Denkmal hat ihn seiner Frau und anderen Menschen entfremdet, sein Leben scheint ebenso wie das des Fürsten vorüber zu sein.
Es "scheint" so zu sein, weil Krusovszky die existenziellen Erschütterungen am Ende der Erzählungen lediglich andeutet. Im Tischlermeister keimt der Verdacht, dass die Nacht um ihn für immer andauern werde; der Schüler wird vom Opa aus dem Zirkuszelt getragen, während sein in einer Kiste liegender Vater unter der Säge zu brüllen beginnt; von der Vergewaltigung einer jungen Frau wird nicht gesprochen, nur entsetzt von etwas, "was er gemacht, was er Nastja angetan hat". Und dann enden die Erzählungen.
Das Geschehen vor dem angedeuteten Aplomb wird meist in einer großen Rückblende erzählt: Die Betroffenen erinnern sich detailliert, was vor dem befürchteten Zersägen des Vaters, vor dem Aufprall auf ein Auto, vor der mutmaßlichen Vergewaltigung geschehen ist. Sie bemühen sich um Ruhe und Kontinuität, sie vergewissern sich. Mit einiger Kunstfertigkeit und klassisch anmutender Mäßigung zeigt Krusovszky das Erzählen als Versuch der Selbstermächtigung und -rechtfertigung. Letztlich bleibt es hilflos - der Wendepunkt, die Katastrophe ist nicht aufzuhalten und auch nicht zu verstehen. Dass fast alle Erzählungen auf sie zulaufen, lässt das Buch geschlossen wirken, allerdings auch - Preis des Konzeptes - recht gleichförmig.
Weil die Titelerzählung ein wenig anders endet, ist sie die beste des Bandes: Kurz vor der Hochzeit besucht ein junger Mann die Eltern und stößt in Papiertüten mit seinen alten Sachen auf eine Samthose. Sie löst einen Strom von Erinnerungen aus an eine Jugendliebe und eine traumatische Abtreibung, die die Liebenden einander entfremdete. Geschickt lässt Krusovszky die Zeitebenen ineinander gleiten und den Protagonisten einer übermächtigen Vergangenheit erliegen, bis dieser schließlich die samtige Madeleine wieder in der Tüte vergräbt und der Mutter zuruft, sie könne alles zum Roten Kreuz bringen. Noch Befreiungsversuche sehen bei Dénes Krusovszky aus wie kraftlose Wegwerfgesten. JÖRG PLATH
Dénes Krusovszky:
"Das Land der Jungen".
Erzählungen.
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Die Andere Bibliothek, Berlin 2024.
264 S., geb., 48,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Dénes Krusovszkys ungarischer Erzählungsband "Das Land der Jungen", übersetzt von Terézia Mora
Ein roter Faden, der die Erzählungen eines Buchs miteinander verbindet, kommt vielen Lesern und wohl auch Verlagen entgegen: Muss man den seiner Form wegen beliebteren Roman schon missen, so liefert der rote Faden doch einen Zusammenhang der einzelnen Geschichten, einen Kern, vielleicht eine Entwicklung: der Erzählungsband als komponierte Einheit oder gar Gesamtkunstwerk wie einst Langspielplatten in Zeiten vor dem Streaming. Solch ein Konzept deutet schon der Titel des Sammelbandes von Dénes Krusovszky an: "Das Land der Jungen". Der 1982 geborene Autor gehört zu jener Generation der ungarischen Literatur, die bisher im Schatten der großen alten Männer Imre Kertész, Péter Esterházy, Péter Nádas und László Krasznahorkai steht. Angefangen hat er als Lyriker, 2017 erschien der Erzählungsband, inzwischen liegt auch ein fünfhundertseitiger Roman von Krusovszky vor.
Das titelgebende "Land der Jungen" ist Ungarn, und seine Jungen sind durchweg männlich, jedoch nicht nur jung. Die Hauptpersonen der von Terézia Mora mit Eleganz übertragenen Geschichten altern mit fortschreitender Seitenzahl; vom Schüler über den seit Jahren verheirateten Fotografen bis zum Tischlermeister in den besten Jahren sind fast alle Lebensalter vertreten. Nur die letzte Erzählung spielt im neunzehnten Jahrhundert, alle anderen sind in naher Vergangenheit angesiedelt.
Die Protagonisten verbindet eine gewisse Isolation und Kommunikationsunwilligkeit. Anderen Menschen vertrauen sie sich auch dann nicht an, wenn sich die Lage unangenehm zuspitzt. Die Einzelgänger versuchen zurechtzukommen und sind um allerlei Erklärungen für ihr Tun nicht verlegen. Nur stehen sie am Ende doch vor einem Scherbenhaufen. Krusovszky schildert keine toxische, sondern eine gefährdete und andere gefährdende Männlichkeit, wie sie nicht nur im Orbán-Ungarn, sondern auch im übrigen Europa anzutreffen ist.
Alle Geschichten erzählen unaufgeregt von dramatischen Ereignissen: Ein Scheidungskind befürchtet im Zirkus, dass sein betrunkener Vater bei einem Zaubertrick entzweigesägt wird; ein Waisenjunge schließt beim Fahrradfahren auf einer viel befahrenen Straße die Augen, nachdem er den sittenstrengen Onkel mit einer Prostituierten gesehen hat; ein ungarischer Student ermutigt seinen jungfräulichen arabischen Zimmergenossen in Prag zu sexueller Offensivität, was zu einer Vergewaltigung führt; nach den Aufnahmen einer an häuslichen Abgasen erstickten Kleinfamilie fährt ein Polizeifotograf zu seiner Frau, fotografiert die wie eine Tote Schlafende, bekommt eine Erektion und beschließt, Brotberuf, erkaltete kinderlose Ehe und Vororthäuschen zu verlassen, um wieder als Künstler zu arbeiten.
Auch wenn es in den Geschichten bisweilen ungewöhnlicher zugeht, bleibt der Ton gemäßigt. Auf den Wunsch eines alten Fürsten hin kleidet ein erfahrener Tischlermeister eine Kapelle mit Menschenknochen aus, selbst ein Kronleuchter entsteht aus dem heiklen Material. Das Ossarium sei ein "Denkmal des Todes und des Lebens", wird sein Erbauer nicht müde zu behaupten. Doch die Arbeit am Denkmal hat ihn seiner Frau und anderen Menschen entfremdet, sein Leben scheint ebenso wie das des Fürsten vorüber zu sein.
Es "scheint" so zu sein, weil Krusovszky die existenziellen Erschütterungen am Ende der Erzählungen lediglich andeutet. Im Tischlermeister keimt der Verdacht, dass die Nacht um ihn für immer andauern werde; der Schüler wird vom Opa aus dem Zirkuszelt getragen, während sein in einer Kiste liegender Vater unter der Säge zu brüllen beginnt; von der Vergewaltigung einer jungen Frau wird nicht gesprochen, nur entsetzt von etwas, "was er gemacht, was er Nastja angetan hat". Und dann enden die Erzählungen.
Das Geschehen vor dem angedeuteten Aplomb wird meist in einer großen Rückblende erzählt: Die Betroffenen erinnern sich detailliert, was vor dem befürchteten Zersägen des Vaters, vor dem Aufprall auf ein Auto, vor der mutmaßlichen Vergewaltigung geschehen ist. Sie bemühen sich um Ruhe und Kontinuität, sie vergewissern sich. Mit einiger Kunstfertigkeit und klassisch anmutender Mäßigung zeigt Krusovszky das Erzählen als Versuch der Selbstermächtigung und -rechtfertigung. Letztlich bleibt es hilflos - der Wendepunkt, die Katastrophe ist nicht aufzuhalten und auch nicht zu verstehen. Dass fast alle Erzählungen auf sie zulaufen, lässt das Buch geschlossen wirken, allerdings auch - Preis des Konzeptes - recht gleichförmig.
Weil die Titelerzählung ein wenig anders endet, ist sie die beste des Bandes: Kurz vor der Hochzeit besucht ein junger Mann die Eltern und stößt in Papiertüten mit seinen alten Sachen auf eine Samthose. Sie löst einen Strom von Erinnerungen aus an eine Jugendliebe und eine traumatische Abtreibung, die die Liebenden einander entfremdete. Geschickt lässt Krusovszky die Zeitebenen ineinander gleiten und den Protagonisten einer übermächtigen Vergangenheit erliegen, bis dieser schließlich die samtige Madeleine wieder in der Tüte vergräbt und der Mutter zuruft, sie könne alles zum Roten Kreuz bringen. Noch Befreiungsversuche sehen bei Dénes Krusovszky aus wie kraftlose Wegwerfgesten. JÖRG PLATH
Dénes Krusovszky:
"Das Land der Jungen".
Erzählungen.
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Die Andere Bibliothek, Berlin 2024.
264 S., geb., 48,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.07.2024Männer in Teilzeit
Die Erzählungen des ungarischen Schriftstellers Dénes Krusovszky
meiden auf sehr elegante Weise jede Bedeutsamkeitspose.
VON LOTHAR MÜLLER
Das Grundgerüst der Erzählung liegt klar zutage. Es ist ein Readymade, man muss es in modernen Gesellschaften nur auflesen. Ein Schuljunge beobachtet, wie seine Familie zerfällt. Der Vater versinkt nach seiner Entlassung als Bademeister im Alkohol, die Streitereien mit den Eltern nehmen zu, die Mutter hat an ihrem Arbeitsplatz beim Grundbuchamt einen Geliebten.
Aber dann ist da dieses Kamel, auf dem Platz neben dem Bahnhof, wo der Wanderzirkus gastiert. Es steht einfach nur da, kaut mit mahlenden Bewegungen, aber sein Maul ist leer. Der Junge stößt es an, um zu prüfen, ob es womöglich schläft. „Nichts geschah. Ich stieß es noch einmal, diesmal bestimmter als zuvor, woraufhin es, wenn auch sehr langsam, schließlich doch ein Lid hob und mich direkt ansah. Es hatte einen riesigen, dunklen Augapfel, und der sah so aus, als gäbe es darin gar nichts Weißes, ich sah auch keine Pupille, sie verschmolz vollständig mit der tiefbraunen Umgebung der Iris, dennoch spürte ich, dass es mir direkt ins Auge blickte.“
Der ungarische Schriftsteller Dénes Krusovszky wurde 1982 in Debrecen geboren, hat in Budapest Ästhetik und Vergleichende Literaturwissenschaft studiert, war 2005 Mitbegründer der Dichtergruppe „Siedlung“ und ist Chefredakteur einer Lyrik-Website. Zwei Gedichtbände – „Wie schön das Kaputtgehen ist“ und „Gedichte/Skulpturen“ – sind bisher auf Deutsch erschienen, nun kommt der Erzählungsband „Das Land der Jungen“ hinzu.
Das Land der Jungen steht hier nicht dem Land der Alten gegenüber, es ist das Land der Jungen, aus denen Männer werden. Wollte man ihnen soziologische Auskünfte abhorchen, so würde sich rasch die Formel „Krise der Männlichkeit“ einstellen. Die Schüler, Heranwachsenden, jungen Erwachsenen und das Rentnerpaar, das plötzlich im Postamt seiner Jugend begegnet, leben nicht mehr in der Welt selbstbewusster Virilität, der auftrumpfenden Gesten. Sie haben etwas Ungeschicktes, kommen gerade so durch, mit Blessuren und verlorenen Illusionen.
Aber Dénes Krusovszky ist ein viel zu guter Erzähler, als dass sie je zu repräsentativen Figuren würden, die sich leicht in eine Gendertheorie einfügen ließen. Dafür sorgt, zum Beispiel, das Kamel in der Auftakterzählung „Bevor mein Vater zersägt wurde“. Es trägt nichts bei zum Fortgang der Handlung, des Zerfalls der Familie. Auch sperrt es sich dagegen, ein Symbol zu sein. Es ist einfach nur da, weil die Welt nicht nur aus Problemen besteht, sondern auch aus Wahrnehmungen.
Die Probleme kommen schon nicht zu kurz: „Ich war irgendwie auch stolz, wie schwer ich es nun hatte, dass ich von nun an ein Problemkind sein würde.“ Vielleicht misslingt der Zirkustrick am Ende, vielleicht wird der betrunkene Vater wirklich zersägt. Es gibt in diesen Erzählungen keine letzten Sätze, die mit Aplomb zufallen wie schwere Türen. Von offenen Enden zu sprechen, wäre zu freundlich. Hier werden Risikozonen ausgemessen.
Das Surplus-Erzählen, die Einfügung von Elementen, die sich im Voranbringen des Plots nicht erschöpfen, hat ein Ziel: Unruheherde schaffen, an denen die Figuren nicht vorbeikommen und die über den letzten Satz hinaus noch vorhanden sein werden. In „Auf der Lichtung“ hat der Heranwachsende, der mit sich selbst in der zweiten Person spricht, mit einer großspurig-dandyhaften Geste absichtsvoll sein Abitur vermasselt und muss zur Strafe bei einem Abdecker arbeiten. Das Gelände nahe der Müllkippe und unweit der Straßenprostitution wird scharf ausgemessen, ein mondänes Paar taucht auf, der Onkel entpuppt sich als Freier, aber mit der Sozialstudie begnügt Krusovszky sich nicht. Der Sack mit dem Wurf kleiner Katzen, die es gar nicht geben sollte, überlebt alle Entsorgungsversuche und die Erzählung.
Die guten Erzähler wissen, dass in den Dingen die Zeit nistet, dass sie Erinnerungen auch dort hervorrufen, wo sie nicht erwünscht sind. Daraus gewinnt die Titelerzählung „Das Land der Jungen“ ihre Kraft. Sie verknüpft eine Frage und eine zeittypische Figur. Die Frage: Wann wird ein Mann zum Mann? Die zeittypische Figur: Der junge Mann, der zeugen kann, aber nicht will.
Mit der Erinnerung kommt die Einsicht, wann er zum Mann wurde: „nicht früher, als wir Liebe miteinander machten, sondern jetzt, da ich einsam und dumm auf dem zugigen Flur der Abteilung für Frauenheilkunde stehe“. In der Figur der vergessenen Freundin und der wie ein Gespenst auftauchenden Abtreibung zeigt Krusovszky, wie sich das Genre der moralischen Erzählung modernisieren lässt, nimmt man es im alten Sinn nicht als moraltriefendes Räsonnement, sondern als Erkundung menschlicher Innenwelten mit den Mitteln der Literatur.
An der Seite der Ich-Erzähler, die mehr von sich preisgeben als sie wollen, stehen die in der dritten Person dargestellten Figuren. Ihnen gegenüber erweist sich Krusovszky als Meister des minimalistischen Erzählens, das auf explizite Kommentare verzichten kann, weil es auf starke Bilder vertraut. Im Gegenstück zur Titelerzählung, „Die neuen Wilden“ steht ein verheirateter Fotograf im Mittelpunkt. Die Ehe droht an dem Kind zu zerbrechen, das sie nicht hervorgerbacht hat.
Der Mann, einst hochambitioniert, hat eine Teilzeitbeschäftigung als Tatortfotograf gefunden. Ohne ihm bedeutsam über die Schulter zu schauen, führt ihn Krusovszky an den Schauplatz einer Familientragödie, lässt ihn auf das tote Kleinkind blicken und begleitet ihn zurück in sein Haus, in dem das leere Kinderzimmer zum Fotolabor geworden ist.
Durch die Lebensphasen männlicher Figuren führt dieses Buch und ins Stipendiatenleben im Prag der Neunzigerjahre, wo das absinthgeschwängerte Lebenserkunden an die Grenzen der Vergewaltigung führt, in die Kunstszene von New York, in der sich ein Kulturjournalist abhanden kommt, in ein Postamt nahe der Markthalle am Hunyadi-Platz, in dem das schwule Rentnerpaar auf den Quälgeist seiner Jugend, den Denunzianten im Budapest der Siebzigerjahre trifft. Und dann gibt es noch einen Bonus-Track, in dem die habsburgisch-barocke Erzählwelt aufersteht. Schon über die Geschichte, in der ein Student in Prag der Ich-Erzähler ist, fällt der Memento-mori-Schatten des Sedletz-Ossariums in Kutná Hora, das heute eine Touristenattraktion ist. In der letzten Geschichte, „Das Ende der Nacht“ erzählt Krusovszky die Lebensgeschichte des František Rint, des Erbauers des Beinhauses mit seinen kunstvollen Knochenornamenten.
Das Porträt dieses abgründigen alten Tischlers und Zimmermanns verfügt frei über die historischen Quellen. Der Ton und die Form, in der es gezeichnet ist, erinnern an Joseph Roth, dessen Roman „Radetzkymarsch“ Krusovszky das Motto für sein Buch entnommen hat. Terézia Mora hat diese wie alle anderen Geschichten aus dem Ungarischen in eine sehr klare deutsche Prosa übersetzt. So tritt den vielen großen ungarischen Erzählern, die in den letzten Jahrzehnten nach Deutschland kamen, eine jüngere Stimme an die Seite.
Es gibt hier keine letzten
Sätze, die mit Aplomb
zufallen wie schwere Türen
In einer Erzählung verliert sich ein Mann in der Kunstszene von New York: Die Carlton Fine Arts Gallery in der Madison Avenue.
Foto: Shannon Stapleton / Reuters
Dénes Krusovszky:
Das land der Jungen.
Erzählungen.
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora.
Die Andere Bibliothek,
Berlin 2024.
264 Seiten, 48 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Erzählungen des ungarischen Schriftstellers Dénes Krusovszky
meiden auf sehr elegante Weise jede Bedeutsamkeitspose.
VON LOTHAR MÜLLER
Das Grundgerüst der Erzählung liegt klar zutage. Es ist ein Readymade, man muss es in modernen Gesellschaften nur auflesen. Ein Schuljunge beobachtet, wie seine Familie zerfällt. Der Vater versinkt nach seiner Entlassung als Bademeister im Alkohol, die Streitereien mit den Eltern nehmen zu, die Mutter hat an ihrem Arbeitsplatz beim Grundbuchamt einen Geliebten.
Aber dann ist da dieses Kamel, auf dem Platz neben dem Bahnhof, wo der Wanderzirkus gastiert. Es steht einfach nur da, kaut mit mahlenden Bewegungen, aber sein Maul ist leer. Der Junge stößt es an, um zu prüfen, ob es womöglich schläft. „Nichts geschah. Ich stieß es noch einmal, diesmal bestimmter als zuvor, woraufhin es, wenn auch sehr langsam, schließlich doch ein Lid hob und mich direkt ansah. Es hatte einen riesigen, dunklen Augapfel, und der sah so aus, als gäbe es darin gar nichts Weißes, ich sah auch keine Pupille, sie verschmolz vollständig mit der tiefbraunen Umgebung der Iris, dennoch spürte ich, dass es mir direkt ins Auge blickte.“
Der ungarische Schriftsteller Dénes Krusovszky wurde 1982 in Debrecen geboren, hat in Budapest Ästhetik und Vergleichende Literaturwissenschaft studiert, war 2005 Mitbegründer der Dichtergruppe „Siedlung“ und ist Chefredakteur einer Lyrik-Website. Zwei Gedichtbände – „Wie schön das Kaputtgehen ist“ und „Gedichte/Skulpturen“ – sind bisher auf Deutsch erschienen, nun kommt der Erzählungsband „Das Land der Jungen“ hinzu.
Das Land der Jungen steht hier nicht dem Land der Alten gegenüber, es ist das Land der Jungen, aus denen Männer werden. Wollte man ihnen soziologische Auskünfte abhorchen, so würde sich rasch die Formel „Krise der Männlichkeit“ einstellen. Die Schüler, Heranwachsenden, jungen Erwachsenen und das Rentnerpaar, das plötzlich im Postamt seiner Jugend begegnet, leben nicht mehr in der Welt selbstbewusster Virilität, der auftrumpfenden Gesten. Sie haben etwas Ungeschicktes, kommen gerade so durch, mit Blessuren und verlorenen Illusionen.
Aber Dénes Krusovszky ist ein viel zu guter Erzähler, als dass sie je zu repräsentativen Figuren würden, die sich leicht in eine Gendertheorie einfügen ließen. Dafür sorgt, zum Beispiel, das Kamel in der Auftakterzählung „Bevor mein Vater zersägt wurde“. Es trägt nichts bei zum Fortgang der Handlung, des Zerfalls der Familie. Auch sperrt es sich dagegen, ein Symbol zu sein. Es ist einfach nur da, weil die Welt nicht nur aus Problemen besteht, sondern auch aus Wahrnehmungen.
Die Probleme kommen schon nicht zu kurz: „Ich war irgendwie auch stolz, wie schwer ich es nun hatte, dass ich von nun an ein Problemkind sein würde.“ Vielleicht misslingt der Zirkustrick am Ende, vielleicht wird der betrunkene Vater wirklich zersägt. Es gibt in diesen Erzählungen keine letzten Sätze, die mit Aplomb zufallen wie schwere Türen. Von offenen Enden zu sprechen, wäre zu freundlich. Hier werden Risikozonen ausgemessen.
Das Surplus-Erzählen, die Einfügung von Elementen, die sich im Voranbringen des Plots nicht erschöpfen, hat ein Ziel: Unruheherde schaffen, an denen die Figuren nicht vorbeikommen und die über den letzten Satz hinaus noch vorhanden sein werden. In „Auf der Lichtung“ hat der Heranwachsende, der mit sich selbst in der zweiten Person spricht, mit einer großspurig-dandyhaften Geste absichtsvoll sein Abitur vermasselt und muss zur Strafe bei einem Abdecker arbeiten. Das Gelände nahe der Müllkippe und unweit der Straßenprostitution wird scharf ausgemessen, ein mondänes Paar taucht auf, der Onkel entpuppt sich als Freier, aber mit der Sozialstudie begnügt Krusovszky sich nicht. Der Sack mit dem Wurf kleiner Katzen, die es gar nicht geben sollte, überlebt alle Entsorgungsversuche und die Erzählung.
Die guten Erzähler wissen, dass in den Dingen die Zeit nistet, dass sie Erinnerungen auch dort hervorrufen, wo sie nicht erwünscht sind. Daraus gewinnt die Titelerzählung „Das Land der Jungen“ ihre Kraft. Sie verknüpft eine Frage und eine zeittypische Figur. Die Frage: Wann wird ein Mann zum Mann? Die zeittypische Figur: Der junge Mann, der zeugen kann, aber nicht will.
Mit der Erinnerung kommt die Einsicht, wann er zum Mann wurde: „nicht früher, als wir Liebe miteinander machten, sondern jetzt, da ich einsam und dumm auf dem zugigen Flur der Abteilung für Frauenheilkunde stehe“. In der Figur der vergessenen Freundin und der wie ein Gespenst auftauchenden Abtreibung zeigt Krusovszky, wie sich das Genre der moralischen Erzählung modernisieren lässt, nimmt man es im alten Sinn nicht als moraltriefendes Räsonnement, sondern als Erkundung menschlicher Innenwelten mit den Mitteln der Literatur.
An der Seite der Ich-Erzähler, die mehr von sich preisgeben als sie wollen, stehen die in der dritten Person dargestellten Figuren. Ihnen gegenüber erweist sich Krusovszky als Meister des minimalistischen Erzählens, das auf explizite Kommentare verzichten kann, weil es auf starke Bilder vertraut. Im Gegenstück zur Titelerzählung, „Die neuen Wilden“ steht ein verheirateter Fotograf im Mittelpunkt. Die Ehe droht an dem Kind zu zerbrechen, das sie nicht hervorgerbacht hat.
Der Mann, einst hochambitioniert, hat eine Teilzeitbeschäftigung als Tatortfotograf gefunden. Ohne ihm bedeutsam über die Schulter zu schauen, führt ihn Krusovszky an den Schauplatz einer Familientragödie, lässt ihn auf das tote Kleinkind blicken und begleitet ihn zurück in sein Haus, in dem das leere Kinderzimmer zum Fotolabor geworden ist.
Durch die Lebensphasen männlicher Figuren führt dieses Buch und ins Stipendiatenleben im Prag der Neunzigerjahre, wo das absinthgeschwängerte Lebenserkunden an die Grenzen der Vergewaltigung führt, in die Kunstszene von New York, in der sich ein Kulturjournalist abhanden kommt, in ein Postamt nahe der Markthalle am Hunyadi-Platz, in dem das schwule Rentnerpaar auf den Quälgeist seiner Jugend, den Denunzianten im Budapest der Siebzigerjahre trifft. Und dann gibt es noch einen Bonus-Track, in dem die habsburgisch-barocke Erzählwelt aufersteht. Schon über die Geschichte, in der ein Student in Prag der Ich-Erzähler ist, fällt der Memento-mori-Schatten des Sedletz-Ossariums in Kutná Hora, das heute eine Touristenattraktion ist. In der letzten Geschichte, „Das Ende der Nacht“ erzählt Krusovszky die Lebensgeschichte des František Rint, des Erbauers des Beinhauses mit seinen kunstvollen Knochenornamenten.
Das Porträt dieses abgründigen alten Tischlers und Zimmermanns verfügt frei über die historischen Quellen. Der Ton und die Form, in der es gezeichnet ist, erinnern an Joseph Roth, dessen Roman „Radetzkymarsch“ Krusovszky das Motto für sein Buch entnommen hat. Terézia Mora hat diese wie alle anderen Geschichten aus dem Ungarischen in eine sehr klare deutsche Prosa übersetzt. So tritt den vielen großen ungarischen Erzählern, die in den letzten Jahrzehnten nach Deutschland kamen, eine jüngere Stimme an die Seite.
Es gibt hier keine letzten
Sätze, die mit Aplomb
zufallen wie schwere Türen
In einer Erzählung verliert sich ein Mann in der Kunstszene von New York: Die Carlton Fine Arts Gallery in der Madison Avenue.
Foto: Shannon Stapleton / Reuters
Dénes Krusovszky:
Das land der Jungen.
Erzählungen.
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora.
Die Andere Bibliothek,
Berlin 2024.
264 Seiten, 48 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Mit ebenso präzisen wie suggestiven Sätzen, deren Tonfall Terézia Mora souverän getroffen hat, entfaltet Dénes Krusovszky eine soghafte Wirkung.« Ilma Rakusa NZZ 20240813