Die Wahrheit liegt auf dem Platz
Warum darf man im Fußball die Hände nicht benutzen und muss mit dem schwächeren Körperteil, den Füßen, kommunizieren? Wie kommt es zu dem blinden Verständnis, das das Spiel der Topmannschaften prägt? Warum kann schon der kleinste Fehler ein Spiel drehen? Und wenn man auf die Ränge schaut: Wie kommt es, dass sich wildfremde Menschen in den Armen liegen und den Sieg ihrer Mannschaft feiern? Der Philosoph und Sportdenker Gunter Gebauer entwickelt mit großer Lust am Spiel eine Philosophie des Fußballs, die uns das Geschehen auf dem Platz und drum herum nicht besser, aber anders verstehen lässt.
"Man sollte den Fußball so ernst nehmen wie möglich. Aber auch nicht ernster." Dieses Zitat von Albert Einstein, leicht abgewandelt, ist für Gunter Gebauer Geleit, den Fußball selbst als eine Art philosophisches Denken zu betrachten. Schließlich handeln die einzelnen Spieler aus individuellen Absichten, erzeugen dabei aber eine tiefere Bedeutung des Spiels insgesamt, die keiner von ihnen beabsichtigt hat. Gegen die traditionelle Auffassung von Philosophie setzt Gebauer eine Philosophie des Körpers und der Praxis, eine Philosophie des praktischen Handelns. Im Kern stehen dabei die Fragen, was der Fußball für unser Mensch-Sein und im Speziellen für uns Deutsche bedeutet. Ein Buch nicht nur über den Sport und das Spiel, sondern gleichermaßen ein Buch über unser Denken und Handeln.
Warum darf man im Fußball die Hände nicht benutzen und muss mit dem schwächeren Körperteil, den Füßen, kommunizieren? Wie kommt es zu dem blinden Verständnis, das das Spiel der Topmannschaften prägt? Warum kann schon der kleinste Fehler ein Spiel drehen? Und wenn man auf die Ränge schaut: Wie kommt es, dass sich wildfremde Menschen in den Armen liegen und den Sieg ihrer Mannschaft feiern? Der Philosoph und Sportdenker Gunter Gebauer entwickelt mit großer Lust am Spiel eine Philosophie des Fußballs, die uns das Geschehen auf dem Platz und drum herum nicht besser, aber anders verstehen lässt.
"Man sollte den Fußball so ernst nehmen wie möglich. Aber auch nicht ernster." Dieses Zitat von Albert Einstein, leicht abgewandelt, ist für Gunter Gebauer Geleit, den Fußball selbst als eine Art philosophisches Denken zu betrachten. Schließlich handeln die einzelnen Spieler aus individuellen Absichten, erzeugen dabei aber eine tiefere Bedeutung des Spiels insgesamt, die keiner von ihnen beabsichtigt hat. Gegen die traditionelle Auffassung von Philosophie setzt Gebauer eine Philosophie des Körpers und der Praxis, eine Philosophie des praktischen Handelns. Im Kern stehen dabei die Fragen, was der Fußball für unser Mensch-Sein und im Speziellen für uns Deutsche bedeutet. Ein Buch nicht nur über den Sport und das Spiel, sondern gleichermaßen ein Buch über unser Denken und Handeln.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2016Mit den Füßen denken
Was den Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint und den Philosophen Gunter Gebauer am Fußball fasziniert
Der Zweifel gehört ja seit Gründerzeiten zum Repertoire des Philosophen und manchmal auch des Künstlers. Und doch ist es seltsam, dass im Jahr 2016 ein Philosoph und ein Schriftsteller derart an ihrem Gegenstand zu zweifeln scheinen. Denn anders ist es kaum zu erklären, wie beharrlich Gunter Gebauer und Jean-Philippe Toussaint nach einer Legitimation suchen, um über Fußball zu schreiben, als ginge es hier um ein "guilty pleasure". Gebauer fragt, ob Fußball überhaupt ein philosophischer Gegenstand sei und womöglich "eine Art des Denkens". Toussaint fürchtet sogar, keine Leser zu finden, weil sein Buch den Fußballinteressierten zu intellektuell sei und Intellektuelle sich nicht für Fußball interessierten.
Seltsam ist das, weil der Fußball in den letzten Jahren zu einem weltumspannenden Geschäft geworden ist, zu einer umsatzstarken Entertainmentsparte und Erlebniswelt. Es werden nicht nur Senderechte zu Phantasiesummen verkauft, nicht nur Trikots, Schuhe und sonstige Accessoires massenhaft umgesetzt, dazu Bildbände oder hagiographische Biographien. Das Spiel selbst, samt Trainingslehre, Scouting und Taktik, ist von Verwissenschaftlichung und Digitalisierung erfasst worden. Die Akkumulation von Spiel- und Spielerdaten hat ein Ausmaß erreicht, dass einem die Metapher "ein Spiel lesen" schon sehr analog und altmodisch vorkommt, wo es um Berechenbarkeit, Steuerung und Optimierbarkeit geht. So präsent und selbstverständlich sind der Fußball und das Reden über ihn geworden, dass man sich eher fragen muss, ob es da überhaupt noch zwei weitere Bücher über diesen Gegenstand gebraucht hätte.
Die Frage beantwortet sich sofort durch die Leidenschaft, welche die Autoren treibt und trägt. Was der Fußball fürs Menschsein bedeutet, fragt Gebauer; was er auslöst im Betrachter, davon erzählt Toussaint, der ja schon 2007 mit seinem wunderbaren kleinen Text "Zidanes Melancholie" ein Fußballbuch geschrieben hat, wie man es bis dahin nicht kannte. Und es ist spannend zu beobachten, welche Querverbindungen sich zwischen den Autoren ergeben, ihren verschiedenen Schreibweisen, Methoden und Ausgangspunkten zum Trotz.
Toussaints Buch ist schlank und wendig, es lässt sich keinem Format wirklich zurechnen. Er schweift ab, er "trödelt herum", er weiß das, muss sich auch nicht dafür entschuldigen, und das hat sehr viel zu tun mit seinem Verfahren, nicht das Geschehen auf dem Platz zu analysieren, sondern dessen vielfältige Echos. Toussaint erzählt von den ungeheuren Wirkungen, die nicht nur das Spiel, sondern das gesamte Erlebnis auslöst, die Atmosphäre auf dem Weg zum und im Stadion, die Stimmung auf dem Heimweg. Und so verschränken sich Passagen über seine Stadionbesuche in Japan bei der Weltmeisterschaft 2002 mit den Erinnerungen an die Träume und Phantasmen der Kindheit, aus der letztlich bei allen Begeisterten die mythologischen Bilder stammen, die man sich vom Fußball macht.
Dass dabei die Erinnerung ab und zu trügen kann, ist normal, da hätten Lektorat und Übersetzung nachbessern müssen, wenn es ums Finale der Champions League zwischen dem AC Mailand und Juventus Turin (2003 statt 2013) oder ums Abschneiden der schwedischen Mannschaft bei der Weltmeisterschaft 2006 geht. Man vergisst das aber sofort, wenn Toussaint, der die Weltmeisterschaft 2014 eigentlich ignorieren wollte, beschreibt, wie es ihn dann doch packt, wie er sich ein Streaming-Abo besorgt und der Stream während des Halbfinales versagt, wie er das Radio anstellt, wie dann ein Blitz die Stromversorgung lahmlegt, wie er ein altes Transistorradio hervorkramt und mit welchem Glücksgefühl er schließlich dem italienischsprachigen Kommentar zuhört, obwohl weder Argentinien noch die Niederlande "sein" Team sind.
Das ist eine Erfahrung, die sich genauso im Buch des Philosophen wiederfindet. Was bei Toussaint "in einem Zeitkokon eingesponnen" heißt, ist bei Gebauer die "reine Präsenz", "diese eine Zeit", die während der Dauer eines Spiels mit der Lebenszeit des Zuschauers verschmilzt. "Das Leben in 90 Minuten" hat Gebauer deshalb auch nicht zufällig sein Buch genannt, das so etwas wie ein Lebenswerk geworden ist. Gebauer, inzwischen 72, ist ja seit langem der Denker, den Medien und Gremien fragen, wenn es um philosophische Aspekte des Leistungssports geht. Eine "Poetik des Fußballs" hat er auch schon geschrieben, und das theoretische Besteck, mit dem er arbeitet, ist differenziert genug für seine Fußballphilosophie, es ist geländegängig und variabel. Wittgenstein und Bourdieu gehen gut zusammen mit Nietzsche, Durkheim, Weber oder Foucault. Zugleich sind in den sechs Kapiteln Anschaulichkeit und eine Nähe zum Gegenstand zu finden, welche diesen nicht zum schattenhaften Abbild seiner selbst machen.
Am Ende ist der Zweifel auch nur ein methodischer wie bei Descartes, denn Gebauer hat die Sache souverän im Griff. Er zeigt sehr schön, wie Fußball zum "anthropologischen Experiment" wird, weil sich der Mensch durch den Verzicht auf die Hand und das Wort wieder fragil macht und einen neuen "Zustand des Antifragilen" zu erreichen versucht, weil der "Dreh- und Angelpunkt der menschlichen Evolution", der aufrechte Gang und die damit verbundene Freisetzung der Hand, noch einmal durchgespielt wird. Kommunikation wird in diesem Szenario vom Austausch zum "Durchsetzen von Handlungsstrukturen" gegen ein anderes Team.
Und es finden sich in diesen komplexen Erörterungen immer wieder pointierte Wendungen, wenn Gebauer festhält: "Der Ball ist es, der den Fußballer erschafft." Oder wenn er mit dem bewundernden Blick auf die Brasilianer, der die primäre Fußballsozialisation seiner Generation verrät, schreibt: "Im Fußball geht es um die Liebe zwischen einem Mann und einem Ball." Was "Denken mit den Füßen" auch bedeuten kann, illustriert eine unerwartete Anekdote über den Philosophen Heidegger, der sich bei Nachbarn ein Länderspiel im Fernsehen ansah und vor Aufregung versehentlich den Teetisch umtrat. Dem anthropologischen Blick, dem im Fußball vor allem die "Unsicherheit der Existenz" ins Auge fällt, folgen andere diagnostische Verfahren der Soziologie. Gebauer zeichnet nach, wie im Fußball eine Wirklichkeit erzeugt wird, an die alle Beteiligten glauben, wobei dieser Glauben gar nicht metaphysisch grundiert ist. Kategorial, so Gebauer, verhalte er sich nicht anders als der Glaube an die Wissenschaft als Institution, der die Voraussetzung dafür ist, ein Argument für stärker zu halten und diese Überlegenheit nicht mit einer vernunftgegebenen Eigenschaft zu verwechseln.
Wie Fußballmythen sich bilden und überdauern, wie sich über die Materialität des grünen Rasens ein "symbolischer Raum" mit seinen Regeln, Zonen und entsprechenden Bedeutungen legt, all das entwickelt Gebauer klar und nachvollziehbar. Mit Bourdieu spricht er von der "sozialen Transzendenz", die daraus entsteht, dass wir "von der Wirkung eines Gebildes, das wir mit unserem Glauben geschaffen haben, überwältigt" sind. Was im Übrigen natürlich nicht auf Bourdieu, sondern auf Marx zurückgeht, der das bereits im "Kapital", im Kapitel über den "Fetischcharakter der Ware" beschrieben hat. So wird auch plausibel, warum sich magisches Denken und abergläubische Praktiken noch im aufgeklärten Diskurs über Fußball in Spurenelementen nachweisen lassen.
Mit jeweils unterschiedlichen Methoden lässt das Buch die vielen Facetten des Fußballs sichtbar werden, und meist ist das auch schlüssig. Dass Schönheit im Fußball eine "Ästhetik der Grausamkeit" verlange, weil im Fußball "das Misslingen von Schönheit konstitutiv angelegt ist", das ist von Gebauers anthropologischem Ansatz gedeckt. Man könnte hier allerdings auch fragen, ob sich das, was jedes Fußballspiel, ob nun in der Champions League oder der Kreisklasse, hervorbringt, nicht besser als eine Erzählung beschreiben ließe und nicht bloß als "Ereignisstruktur". Und ob nicht diese Erzählung, der wir als Zuschauer beim Entstehen zusehen, die wir also "mitlesen", für die Faszination des Spiels verantwortlich ist - was Gebauer mit Hegels Begriff der "dramatischen Kollision" nur andeutet, ohne hier den finalen Pass zu riskieren.
Als Philosoph und Soziologe muss er sich natürlich auch für das interessieren, was Toussaint gelangweilt den "Fußball der Erwachsenen" nennt, also für dessen ökonomische, politische, soziale Bedeutungsschichten. Wenn Gebauer über die Rolle des Fernsehens, über Fußball als "kollektiven Erinnerungsstifter" in der Bundesrepublik oder über die "Sonderethik" nicht nur der Fifa schreibt, wenn er feststellt, wer etwas über "die Grundgesetze des Kapitals im 21. Jahrhundert" erfahren wolle, brauche sich nur den Fußball anzuschauen, ist dagegen wenig einzuwenden. Es ist allerdings auch nicht so originell wie der Rest.
Man wird nun nach der Lektüre dieser beiden Bücher das nächste Fußballspiel nicht unbedingt mit anderen Augen sehen. Vielleicht wird man aber noch einmal darüber staunen, wie man als Angehöriger der Fußballgemeinde regelmäßig wehrlos und wider besseres Wissen von den Gebilden der eigenen Einbildungskraft überwältigt wird. Auch kein Spieler oder Trainer würde besser, wenn er die Bücher läse. Die Innensicht auf das Spiel, das betont Gebauer unmissverständlich, ist eben grundlegend verschieden vom öffentlichen Reden und Kommentieren.
Es ist etwas anderes, was von der Lektüre beider Bücher bleibt. Man sieht den fuchtelnden und hüpfenden Josep Guardiola oder auch irgendeinen verzweifelnden B-Junioren-Trainer am Spielfeldrand; man hört tobende, brüllende Fans, erinnert sich an Toussaints Geständnis, dass er während eines Spiels den Schiedsrichter wüst beschimpfe und den Gegner beleidige - und weiß: Nicht mal die Hälfte dessen, was auf dem Platz geschieht, liegt in unserer Hand. Gelingende Spielzüge oder Tore sind "kleine Wunder" (Gebauer). Und selbst noch mehr Daten und noch mehr Optimierungsstrategien werden das nicht ändern. Die Kontingenzerfahrung, die einem der Fußball schenkt und zumutet, macht ihn so grausam und so schön. Und sie lässt uns auf eine sehr elementare Weise erleben, wer wir sind, wenn wir beim Fußball sind.
PETER KÖRTE
Jean-Philippe Toussaint: "Fußball". Übersetzt von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, 128 Seiten, 17,90 Euro
Gunter Gebauer: "Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs". Pantheon, 320 Seiten, 14,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was den Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint und den Philosophen Gunter Gebauer am Fußball fasziniert
Der Zweifel gehört ja seit Gründerzeiten zum Repertoire des Philosophen und manchmal auch des Künstlers. Und doch ist es seltsam, dass im Jahr 2016 ein Philosoph und ein Schriftsteller derart an ihrem Gegenstand zu zweifeln scheinen. Denn anders ist es kaum zu erklären, wie beharrlich Gunter Gebauer und Jean-Philippe Toussaint nach einer Legitimation suchen, um über Fußball zu schreiben, als ginge es hier um ein "guilty pleasure". Gebauer fragt, ob Fußball überhaupt ein philosophischer Gegenstand sei und womöglich "eine Art des Denkens". Toussaint fürchtet sogar, keine Leser zu finden, weil sein Buch den Fußballinteressierten zu intellektuell sei und Intellektuelle sich nicht für Fußball interessierten.
Seltsam ist das, weil der Fußball in den letzten Jahren zu einem weltumspannenden Geschäft geworden ist, zu einer umsatzstarken Entertainmentsparte und Erlebniswelt. Es werden nicht nur Senderechte zu Phantasiesummen verkauft, nicht nur Trikots, Schuhe und sonstige Accessoires massenhaft umgesetzt, dazu Bildbände oder hagiographische Biographien. Das Spiel selbst, samt Trainingslehre, Scouting und Taktik, ist von Verwissenschaftlichung und Digitalisierung erfasst worden. Die Akkumulation von Spiel- und Spielerdaten hat ein Ausmaß erreicht, dass einem die Metapher "ein Spiel lesen" schon sehr analog und altmodisch vorkommt, wo es um Berechenbarkeit, Steuerung und Optimierbarkeit geht. So präsent und selbstverständlich sind der Fußball und das Reden über ihn geworden, dass man sich eher fragen muss, ob es da überhaupt noch zwei weitere Bücher über diesen Gegenstand gebraucht hätte.
Die Frage beantwortet sich sofort durch die Leidenschaft, welche die Autoren treibt und trägt. Was der Fußball fürs Menschsein bedeutet, fragt Gebauer; was er auslöst im Betrachter, davon erzählt Toussaint, der ja schon 2007 mit seinem wunderbaren kleinen Text "Zidanes Melancholie" ein Fußballbuch geschrieben hat, wie man es bis dahin nicht kannte. Und es ist spannend zu beobachten, welche Querverbindungen sich zwischen den Autoren ergeben, ihren verschiedenen Schreibweisen, Methoden und Ausgangspunkten zum Trotz.
Toussaints Buch ist schlank und wendig, es lässt sich keinem Format wirklich zurechnen. Er schweift ab, er "trödelt herum", er weiß das, muss sich auch nicht dafür entschuldigen, und das hat sehr viel zu tun mit seinem Verfahren, nicht das Geschehen auf dem Platz zu analysieren, sondern dessen vielfältige Echos. Toussaint erzählt von den ungeheuren Wirkungen, die nicht nur das Spiel, sondern das gesamte Erlebnis auslöst, die Atmosphäre auf dem Weg zum und im Stadion, die Stimmung auf dem Heimweg. Und so verschränken sich Passagen über seine Stadionbesuche in Japan bei der Weltmeisterschaft 2002 mit den Erinnerungen an die Träume und Phantasmen der Kindheit, aus der letztlich bei allen Begeisterten die mythologischen Bilder stammen, die man sich vom Fußball macht.
Dass dabei die Erinnerung ab und zu trügen kann, ist normal, da hätten Lektorat und Übersetzung nachbessern müssen, wenn es ums Finale der Champions League zwischen dem AC Mailand und Juventus Turin (2003 statt 2013) oder ums Abschneiden der schwedischen Mannschaft bei der Weltmeisterschaft 2006 geht. Man vergisst das aber sofort, wenn Toussaint, der die Weltmeisterschaft 2014 eigentlich ignorieren wollte, beschreibt, wie es ihn dann doch packt, wie er sich ein Streaming-Abo besorgt und der Stream während des Halbfinales versagt, wie er das Radio anstellt, wie dann ein Blitz die Stromversorgung lahmlegt, wie er ein altes Transistorradio hervorkramt und mit welchem Glücksgefühl er schließlich dem italienischsprachigen Kommentar zuhört, obwohl weder Argentinien noch die Niederlande "sein" Team sind.
Das ist eine Erfahrung, die sich genauso im Buch des Philosophen wiederfindet. Was bei Toussaint "in einem Zeitkokon eingesponnen" heißt, ist bei Gebauer die "reine Präsenz", "diese eine Zeit", die während der Dauer eines Spiels mit der Lebenszeit des Zuschauers verschmilzt. "Das Leben in 90 Minuten" hat Gebauer deshalb auch nicht zufällig sein Buch genannt, das so etwas wie ein Lebenswerk geworden ist. Gebauer, inzwischen 72, ist ja seit langem der Denker, den Medien und Gremien fragen, wenn es um philosophische Aspekte des Leistungssports geht. Eine "Poetik des Fußballs" hat er auch schon geschrieben, und das theoretische Besteck, mit dem er arbeitet, ist differenziert genug für seine Fußballphilosophie, es ist geländegängig und variabel. Wittgenstein und Bourdieu gehen gut zusammen mit Nietzsche, Durkheim, Weber oder Foucault. Zugleich sind in den sechs Kapiteln Anschaulichkeit und eine Nähe zum Gegenstand zu finden, welche diesen nicht zum schattenhaften Abbild seiner selbst machen.
Am Ende ist der Zweifel auch nur ein methodischer wie bei Descartes, denn Gebauer hat die Sache souverän im Griff. Er zeigt sehr schön, wie Fußball zum "anthropologischen Experiment" wird, weil sich der Mensch durch den Verzicht auf die Hand und das Wort wieder fragil macht und einen neuen "Zustand des Antifragilen" zu erreichen versucht, weil der "Dreh- und Angelpunkt der menschlichen Evolution", der aufrechte Gang und die damit verbundene Freisetzung der Hand, noch einmal durchgespielt wird. Kommunikation wird in diesem Szenario vom Austausch zum "Durchsetzen von Handlungsstrukturen" gegen ein anderes Team.
Und es finden sich in diesen komplexen Erörterungen immer wieder pointierte Wendungen, wenn Gebauer festhält: "Der Ball ist es, der den Fußballer erschafft." Oder wenn er mit dem bewundernden Blick auf die Brasilianer, der die primäre Fußballsozialisation seiner Generation verrät, schreibt: "Im Fußball geht es um die Liebe zwischen einem Mann und einem Ball." Was "Denken mit den Füßen" auch bedeuten kann, illustriert eine unerwartete Anekdote über den Philosophen Heidegger, der sich bei Nachbarn ein Länderspiel im Fernsehen ansah und vor Aufregung versehentlich den Teetisch umtrat. Dem anthropologischen Blick, dem im Fußball vor allem die "Unsicherheit der Existenz" ins Auge fällt, folgen andere diagnostische Verfahren der Soziologie. Gebauer zeichnet nach, wie im Fußball eine Wirklichkeit erzeugt wird, an die alle Beteiligten glauben, wobei dieser Glauben gar nicht metaphysisch grundiert ist. Kategorial, so Gebauer, verhalte er sich nicht anders als der Glaube an die Wissenschaft als Institution, der die Voraussetzung dafür ist, ein Argument für stärker zu halten und diese Überlegenheit nicht mit einer vernunftgegebenen Eigenschaft zu verwechseln.
Wie Fußballmythen sich bilden und überdauern, wie sich über die Materialität des grünen Rasens ein "symbolischer Raum" mit seinen Regeln, Zonen und entsprechenden Bedeutungen legt, all das entwickelt Gebauer klar und nachvollziehbar. Mit Bourdieu spricht er von der "sozialen Transzendenz", die daraus entsteht, dass wir "von der Wirkung eines Gebildes, das wir mit unserem Glauben geschaffen haben, überwältigt" sind. Was im Übrigen natürlich nicht auf Bourdieu, sondern auf Marx zurückgeht, der das bereits im "Kapital", im Kapitel über den "Fetischcharakter der Ware" beschrieben hat. So wird auch plausibel, warum sich magisches Denken und abergläubische Praktiken noch im aufgeklärten Diskurs über Fußball in Spurenelementen nachweisen lassen.
Mit jeweils unterschiedlichen Methoden lässt das Buch die vielen Facetten des Fußballs sichtbar werden, und meist ist das auch schlüssig. Dass Schönheit im Fußball eine "Ästhetik der Grausamkeit" verlange, weil im Fußball "das Misslingen von Schönheit konstitutiv angelegt ist", das ist von Gebauers anthropologischem Ansatz gedeckt. Man könnte hier allerdings auch fragen, ob sich das, was jedes Fußballspiel, ob nun in der Champions League oder der Kreisklasse, hervorbringt, nicht besser als eine Erzählung beschreiben ließe und nicht bloß als "Ereignisstruktur". Und ob nicht diese Erzählung, der wir als Zuschauer beim Entstehen zusehen, die wir also "mitlesen", für die Faszination des Spiels verantwortlich ist - was Gebauer mit Hegels Begriff der "dramatischen Kollision" nur andeutet, ohne hier den finalen Pass zu riskieren.
Als Philosoph und Soziologe muss er sich natürlich auch für das interessieren, was Toussaint gelangweilt den "Fußball der Erwachsenen" nennt, also für dessen ökonomische, politische, soziale Bedeutungsschichten. Wenn Gebauer über die Rolle des Fernsehens, über Fußball als "kollektiven Erinnerungsstifter" in der Bundesrepublik oder über die "Sonderethik" nicht nur der Fifa schreibt, wenn er feststellt, wer etwas über "die Grundgesetze des Kapitals im 21. Jahrhundert" erfahren wolle, brauche sich nur den Fußball anzuschauen, ist dagegen wenig einzuwenden. Es ist allerdings auch nicht so originell wie der Rest.
Man wird nun nach der Lektüre dieser beiden Bücher das nächste Fußballspiel nicht unbedingt mit anderen Augen sehen. Vielleicht wird man aber noch einmal darüber staunen, wie man als Angehöriger der Fußballgemeinde regelmäßig wehrlos und wider besseres Wissen von den Gebilden der eigenen Einbildungskraft überwältigt wird. Auch kein Spieler oder Trainer würde besser, wenn er die Bücher läse. Die Innensicht auf das Spiel, das betont Gebauer unmissverständlich, ist eben grundlegend verschieden vom öffentlichen Reden und Kommentieren.
Es ist etwas anderes, was von der Lektüre beider Bücher bleibt. Man sieht den fuchtelnden und hüpfenden Josep Guardiola oder auch irgendeinen verzweifelnden B-Junioren-Trainer am Spielfeldrand; man hört tobende, brüllende Fans, erinnert sich an Toussaints Geständnis, dass er während eines Spiels den Schiedsrichter wüst beschimpfe und den Gegner beleidige - und weiß: Nicht mal die Hälfte dessen, was auf dem Platz geschieht, liegt in unserer Hand. Gelingende Spielzüge oder Tore sind "kleine Wunder" (Gebauer). Und selbst noch mehr Daten und noch mehr Optimierungsstrategien werden das nicht ändern. Die Kontingenzerfahrung, die einem der Fußball schenkt und zumutet, macht ihn so grausam und so schön. Und sie lässt uns auf eine sehr elementare Weise erleben, wer wir sind, wenn wir beim Fußball sind.
PETER KÖRTE
Jean-Philippe Toussaint: "Fußball". Übersetzt von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, 128 Seiten, 17,90 Euro
Gunter Gebauer: "Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs". Pantheon, 320 Seiten, 14,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.06.2016Das Schöne ist nur
des Schrecklichen Anfang
Gunter Gebauers „Philosophie des Fußballs“
Der Sport ist längst zum erweiterten Feuilleton geworden. Vor allem der Fußball hat sich von der bloßen Berichterstattung emanzipiert, er greift aus in Popdiskurse und Magazinstrecken, in Systemtheorie, Pressing und Umschaltspiel. In diesen Hallraum hinein stellt der Philosophieprofessor Gunter Gebauer jetzt die entscheidenden Fragen. Ihn interessiert vor allem: Was hat den Fußball dazu befähigt, sich eine eigene Mythologie zu erschaffen?
Der Autor dekretiert im Anschluss an Karl Marx: Der Fußball stellt den Menschen vom Kopf auf die Füße. Dass beim Fußball der Ball mit den Füßen gespielt wird, gibt Anlass zu kulturgeschichtlichen Erwägungen. Die freibewegliche Hand war die erste Errungenschaft, die den Menschen vom Affen unterschied, und im Lauf der Evolution stimulierten die Hände das motorische Sprachzentrum im Gehirn. Die Hand beim Spiel also nicht zu beteiligen, bedeutet einen radikalen Kulturverzicht.
Auf der anderen Seite aber wird der Mensch durch den Fußball fragil. Durch das Handverbot unterwirft er sich wieder stärker der Herrschaft der Sinne, und auch der Zufall spielt plötzlich eine größere Rolle. Die gewöhnliche Alltagspraxis verliert ihr Selbstverständnis, und hier kann sogar Martin Heidegger eingreifen: die Dinge sind nicht mehr „zuhanden“.
Da der Fußball nur mit den Füßen berührt werden darf, sind nach Gebauer primär „die unteren Regionen der Psyche“ angesprochen. Dadurch werden Unmittelbarkeit und reine Präsenz kultiviert. Das Körperliche, das Schicksalhafte, die Schutzlosigkeit der menschlichen Existenz: das alles wird im Fußball ausgedrückt. Deshalb lehnt der Autor auch allzu rechenhafte Taktikexempel ab, etwa die versuchte Ausschaltung des Zufalls durch das spanische „Tiki-Taka“. Das Spiel werde dabei zum „Gemurmel einer Ingroup“, und auf lange Sicht könne dies das Interesse am Fußball mehr stören als der vermeintlich schädliche Zufall. Da im deutschen Fußballdiskurs seit Jahren die Faszination an Computersimulationen im Vordergrund steht, wirkt diese ästhetische Einschätzung durchaus befreiend. Manch deutscher Intellektuelle glaubt ja, Gefallen an endlosen Videoaufzeichnungen finden zu können und am Moment, in dem dann der unvermeidliche Fehler im System erfolgt. Dabei geht es um etwas ganz Anderes.
Gebauer schließt sich lieber Sartres „Philosophie der Emotionen“ an. Gerade in einer Schlussoffensive in den letzten Minuten zeige sich abseits aller Planbarkeit, wer mental und emotional überlegen sei. Das 4:4 Deutschlands gegen Schweden, nach einer 4:0- Führung und drückender Überlegenheit, ist nicht rational zu erklären. Das irrationale Moment des Fußballs ist seine wirkliche Kraft.
Ähnlich wie die Kunst zeigt der Fußball eine andere Version der Welt. Und in seiner Ästhetik der Grausamkeit rührt er an die tiefsten Schichten. Der amerikanische Ästhetik-Professor Stanley Cavell bezeichnet Fußball als eine Welt „in terms of Shakespeare“: Die Sieger retten sich nämlich nur vor der Katastrophe, sie entrinnen einem bösen Schicksal. Im alltäglichen Leben bleibt dieser dunkle Untergrund meist verborgen, beim Fußball wird er unmittelbar erfahren. In den Fußballstadien, so Gebauer, fühle auch ein Zuschauer, der noch nie etwas von Rilke gehört habe, dass sich das Schöne im Schrecklichen fortsetze: „Schönheit im Fußball kann nicht als eine relativ bedeutungslose Variante des Schönen aufgefasst werden, die im Verhältnis zur Kunst keine echte ästhetische Dimension hat. Sie gehört vielmehr zu einer älteren Form der Schönheit als die bürgerliche Kunst: Der Fußball ist eine Welt, in der sich die Akteure extremen Selbst-Prüfungen und Verletzungen aussetzen.“
Der Autor zieht etliche namhafte Gewährsleute heran, um Fußball als die Metaphysik unserer Gegenwart definieren zu können, bis hin zu Max Webers Definition „charismatischer Herrschaft“. Und hier kommt auch eine religiöse Dimension ins Spiel. Jeder Glaube hat eine performative Seite, Innerlichkeit drückt sich in Ritualen aus. Und Rituale haben im Fußball eine gewaltige Bedeutung, von Glückspullovern bis hin zu ausdifferenzierten Fan-Choreografien im Stadion.
Mit Foucault nennt Gebauer das Stadion eine „Heterotopie“, einen Anders-Ort. Einmal lässt Gebauer Michel Foucault sogar einen entscheidenden Pass in die Schnittstelle spielen: was der französische Kultphilosoph „Disziplinen“ nannte, nämlich das Ergebnis von komplexen Prozessen praktischen Übens, verwertet Joachim Löw direkt: „Högschte Disziplin!“
Im historischen Rückblick stellt der Autor fest, dass der Fußball erst im Laufe der siebziger Jahre begann, die nationale Erinnerung zu strukturieren. Entgegen der landläufigen Meinung erklärt er, dass der WM-Titel 1954 für die Mehrheit der Deutschen noch gar nicht so wichtig gewesen sei. Noch in den sechziger Jahren sei Körperliches in der Gesellschaft und im Fernsehen wenig zur Geltung gekommen, dies sei dem Kino vorbehalten gewesen. Durch technische Verbesserungen machte sich dann allmählich eine spezielle Überlegenheit des Fernsehens gegenüber dem Kino geltend: das Serielle, die mehrteiligen Folgen. Ein Quantensprung erfolgte, als der Fußball zunächst bei RTL und dann bei Sat 1 eine Schlüsselfunktion im kommerziellen Fernsehen einnahm.
Anfang der neunziger Jahre begann sich dadurch die Finanzstruktur des Fußballs vollkommen umzugestalten. Gebauer analysiert im Rückblick sehr klarsichtig, dass das „die Entwicklung der Spielkultur“ behinderte: Es war möglich, auch mit mittelmäßigen Fußball sehr viel Geld zu verdienen. In Deutschland verpasste man den Anschluss. Das Wort von den deutschen „Rumpelfußballern“ entstand, und die Rede von „deutschen Tugenden“ wie Kraft, Ausdauer und Disziplin versuchte zu übertünchen, dass die Holländer, Franzosen und Italiener mittlerweile einen weitaus moderneren Fußball spielten.
Es ist erstaunlich, dass noch lange nach dem erkennbaren Niedergang des deutschen Fußballs in den Medien auf seine Erfolge gepocht wurde. Noch zu Beginn der desaströsen Weltmeisterschaft 1994 schrieb die FAZ, der deutsche Fußball sei nie so gut gewesen wie heute. Es war wohl auch die steigende kommerzielle und mediale Bedeutung des Fußballs, die dazu führte, kritische Stimmen als „Kulturpessimismus“ zu denunzieren. Zudem wurde der Fußball gegen eine bröckelnde Hochkultur als Pop-Phänomen in Szene gesetzt und als solches affirmativ behandelt. Erst, als die deutsche Mannschaft bei der Vorrunde der Europameisterschaft 2000 gegen eine B-Elf Portugals unterlag und ausschied, schien Handlungsbedarf zu herrschen. Jürgen Klinsmann riss in der Vorbereitung auf die WM 2006 weitgehende Vollmachten an sich und leitete den Erneuerungsprozess ein.
Gebauer versäumt nicht, auf die Gefahren der Kommerzialisierung hinzuweisen, auf die undurchsichtigen Machtstrukturen der Fifa, das Risiko, dass alles kippen könnte. Aber im Moment befinden sich die Deutschen wieder auf dem Höhepunkt einer Fußball-Euphorie. Da hilft es, wenn man sich philosophisch vergewissert und auf alle Eventualiäten vorbereitet ist: „Offensichtlich ist der Fußball so organisiert, dass er die Unsicherheit der Existenz zeigen und den Menschen in offene Situationen stellen soll.“
HELMUT BÖTTIGER
Gunter Gebauer: Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs. Pantheon Verlag, München 2016. 318 Seiten, 14,99 Euro.
Durch das „Tiki-Taka“ wird das
Spiel zum „Ingroup-Gemurmel“
Gegen die bröckelnde Hochkultur
wurde Fußball zum Pop-Ereignis
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des Schrecklichen Anfang
Gunter Gebauers „Philosophie des Fußballs“
Der Sport ist längst zum erweiterten Feuilleton geworden. Vor allem der Fußball hat sich von der bloßen Berichterstattung emanzipiert, er greift aus in Popdiskurse und Magazinstrecken, in Systemtheorie, Pressing und Umschaltspiel. In diesen Hallraum hinein stellt der Philosophieprofessor Gunter Gebauer jetzt die entscheidenden Fragen. Ihn interessiert vor allem: Was hat den Fußball dazu befähigt, sich eine eigene Mythologie zu erschaffen?
Der Autor dekretiert im Anschluss an Karl Marx: Der Fußball stellt den Menschen vom Kopf auf die Füße. Dass beim Fußball der Ball mit den Füßen gespielt wird, gibt Anlass zu kulturgeschichtlichen Erwägungen. Die freibewegliche Hand war die erste Errungenschaft, die den Menschen vom Affen unterschied, und im Lauf der Evolution stimulierten die Hände das motorische Sprachzentrum im Gehirn. Die Hand beim Spiel also nicht zu beteiligen, bedeutet einen radikalen Kulturverzicht.
Auf der anderen Seite aber wird der Mensch durch den Fußball fragil. Durch das Handverbot unterwirft er sich wieder stärker der Herrschaft der Sinne, und auch der Zufall spielt plötzlich eine größere Rolle. Die gewöhnliche Alltagspraxis verliert ihr Selbstverständnis, und hier kann sogar Martin Heidegger eingreifen: die Dinge sind nicht mehr „zuhanden“.
Da der Fußball nur mit den Füßen berührt werden darf, sind nach Gebauer primär „die unteren Regionen der Psyche“ angesprochen. Dadurch werden Unmittelbarkeit und reine Präsenz kultiviert. Das Körperliche, das Schicksalhafte, die Schutzlosigkeit der menschlichen Existenz: das alles wird im Fußball ausgedrückt. Deshalb lehnt der Autor auch allzu rechenhafte Taktikexempel ab, etwa die versuchte Ausschaltung des Zufalls durch das spanische „Tiki-Taka“. Das Spiel werde dabei zum „Gemurmel einer Ingroup“, und auf lange Sicht könne dies das Interesse am Fußball mehr stören als der vermeintlich schädliche Zufall. Da im deutschen Fußballdiskurs seit Jahren die Faszination an Computersimulationen im Vordergrund steht, wirkt diese ästhetische Einschätzung durchaus befreiend. Manch deutscher Intellektuelle glaubt ja, Gefallen an endlosen Videoaufzeichnungen finden zu können und am Moment, in dem dann der unvermeidliche Fehler im System erfolgt. Dabei geht es um etwas ganz Anderes.
Gebauer schließt sich lieber Sartres „Philosophie der Emotionen“ an. Gerade in einer Schlussoffensive in den letzten Minuten zeige sich abseits aller Planbarkeit, wer mental und emotional überlegen sei. Das 4:4 Deutschlands gegen Schweden, nach einer 4:0- Führung und drückender Überlegenheit, ist nicht rational zu erklären. Das irrationale Moment des Fußballs ist seine wirkliche Kraft.
Ähnlich wie die Kunst zeigt der Fußball eine andere Version der Welt. Und in seiner Ästhetik der Grausamkeit rührt er an die tiefsten Schichten. Der amerikanische Ästhetik-Professor Stanley Cavell bezeichnet Fußball als eine Welt „in terms of Shakespeare“: Die Sieger retten sich nämlich nur vor der Katastrophe, sie entrinnen einem bösen Schicksal. Im alltäglichen Leben bleibt dieser dunkle Untergrund meist verborgen, beim Fußball wird er unmittelbar erfahren. In den Fußballstadien, so Gebauer, fühle auch ein Zuschauer, der noch nie etwas von Rilke gehört habe, dass sich das Schöne im Schrecklichen fortsetze: „Schönheit im Fußball kann nicht als eine relativ bedeutungslose Variante des Schönen aufgefasst werden, die im Verhältnis zur Kunst keine echte ästhetische Dimension hat. Sie gehört vielmehr zu einer älteren Form der Schönheit als die bürgerliche Kunst: Der Fußball ist eine Welt, in der sich die Akteure extremen Selbst-Prüfungen und Verletzungen aussetzen.“
Der Autor zieht etliche namhafte Gewährsleute heran, um Fußball als die Metaphysik unserer Gegenwart definieren zu können, bis hin zu Max Webers Definition „charismatischer Herrschaft“. Und hier kommt auch eine religiöse Dimension ins Spiel. Jeder Glaube hat eine performative Seite, Innerlichkeit drückt sich in Ritualen aus. Und Rituale haben im Fußball eine gewaltige Bedeutung, von Glückspullovern bis hin zu ausdifferenzierten Fan-Choreografien im Stadion.
Mit Foucault nennt Gebauer das Stadion eine „Heterotopie“, einen Anders-Ort. Einmal lässt Gebauer Michel Foucault sogar einen entscheidenden Pass in die Schnittstelle spielen: was der französische Kultphilosoph „Disziplinen“ nannte, nämlich das Ergebnis von komplexen Prozessen praktischen Übens, verwertet Joachim Löw direkt: „Högschte Disziplin!“
Im historischen Rückblick stellt der Autor fest, dass der Fußball erst im Laufe der siebziger Jahre begann, die nationale Erinnerung zu strukturieren. Entgegen der landläufigen Meinung erklärt er, dass der WM-Titel 1954 für die Mehrheit der Deutschen noch gar nicht so wichtig gewesen sei. Noch in den sechziger Jahren sei Körperliches in der Gesellschaft und im Fernsehen wenig zur Geltung gekommen, dies sei dem Kino vorbehalten gewesen. Durch technische Verbesserungen machte sich dann allmählich eine spezielle Überlegenheit des Fernsehens gegenüber dem Kino geltend: das Serielle, die mehrteiligen Folgen. Ein Quantensprung erfolgte, als der Fußball zunächst bei RTL und dann bei Sat 1 eine Schlüsselfunktion im kommerziellen Fernsehen einnahm.
Anfang der neunziger Jahre begann sich dadurch die Finanzstruktur des Fußballs vollkommen umzugestalten. Gebauer analysiert im Rückblick sehr klarsichtig, dass das „die Entwicklung der Spielkultur“ behinderte: Es war möglich, auch mit mittelmäßigen Fußball sehr viel Geld zu verdienen. In Deutschland verpasste man den Anschluss. Das Wort von den deutschen „Rumpelfußballern“ entstand, und die Rede von „deutschen Tugenden“ wie Kraft, Ausdauer und Disziplin versuchte zu übertünchen, dass die Holländer, Franzosen und Italiener mittlerweile einen weitaus moderneren Fußball spielten.
Es ist erstaunlich, dass noch lange nach dem erkennbaren Niedergang des deutschen Fußballs in den Medien auf seine Erfolge gepocht wurde. Noch zu Beginn der desaströsen Weltmeisterschaft 1994 schrieb die FAZ, der deutsche Fußball sei nie so gut gewesen wie heute. Es war wohl auch die steigende kommerzielle und mediale Bedeutung des Fußballs, die dazu führte, kritische Stimmen als „Kulturpessimismus“ zu denunzieren. Zudem wurde der Fußball gegen eine bröckelnde Hochkultur als Pop-Phänomen in Szene gesetzt und als solches affirmativ behandelt. Erst, als die deutsche Mannschaft bei der Vorrunde der Europameisterschaft 2000 gegen eine B-Elf Portugals unterlag und ausschied, schien Handlungsbedarf zu herrschen. Jürgen Klinsmann riss in der Vorbereitung auf die WM 2006 weitgehende Vollmachten an sich und leitete den Erneuerungsprozess ein.
Gebauer versäumt nicht, auf die Gefahren der Kommerzialisierung hinzuweisen, auf die undurchsichtigen Machtstrukturen der Fifa, das Risiko, dass alles kippen könnte. Aber im Moment befinden sich die Deutschen wieder auf dem Höhepunkt einer Fußball-Euphorie. Da hilft es, wenn man sich philosophisch vergewissert und auf alle Eventualiäten vorbereitet ist: „Offensichtlich ist der Fußball so organisiert, dass er die Unsicherheit der Existenz zeigen und den Menschen in offene Situationen stellen soll.“
HELMUT BÖTTIGER
Gunter Gebauer: Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs. Pantheon Verlag, München 2016. 318 Seiten, 14,99 Euro.
Durch das „Tiki-Taka“ wird das
Spiel zum „Ingroup-Gemurmel“
Gegen die bröckelnde Hochkultur
wurde Fußball zum Pop-Ereignis
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Helmut Böttiger lobt Gunter Gebauers Versuch, den Fußball zu remythologisieren. Statt Videoaufzeichnungen setzt der Philosoph lieber auf die Herrschaft der Sinne, stellt Böttiger fest, auf Unmittelbarkeit und reine Präsenz, das Körperliche, Schicksalhafte, Existenzielle. Wie Gebauer mit Marx, Sartre, Rilke, Heidegger und Max Weber die Emotion und das Irrationale am Fußball hervorhebt, scheint Böttiger der richtige Weg zu sein, um das quasi-religiöse Charisma des Fußballsports wiederzuentdecken und das Stadion als Anders-Ort zu feiern, aller vom Autor laut Rezensent klarsichtig analysierten Kommerzialisierung zum Trotz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»So etwas wie ein Lebenswerk ... Mit jeweils unterschiedlichen Methoden lässt das Buch die vielen Facetten des Fußballs sichtbar werden.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung