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Warum kriselt der Liberalismus? Ivan Krastev und Stephen Holmes erklären die Weltlage mit arg grobem Pinselstrich
Die Unterschiede in der Beliebtheit, die verschiedene Publikationsgenres unter Autoren genießen, lassen sich sicherlich zu einem guten Teil auf Unterschiede in ihren Herstellungsbedingungen zurückführen. Wer zum Beispiel keine Zeit für eigene Forschung hat, aber dennoch gern eine veröffentlichte eigene Meinung, wird sich zu der Art geopolitischer Musterdeutung hingezogen fühlen, wie sie Ivan Krastev und Stephen Holmes mit ihrem neuen Buch vorlegen, das uns die harten Zeiten, die die "liberale Weltordnung" gegenwärtig durchleben muss, zu erklären sucht.
Bei dieser Erscheinungsform von Zeitdiagnose ist das Reflexionsmaterial das, was die Auslandsberichterstattung einer Qualitätszeitung ohnehin täglich ins Haus liefert. Der Rest ist Chuzpe, Mut zum groben Pinselstrich, und ein konzeptioneller Rahmen, der hinreichend flexibel und unpräzise ist, um über eine disparate Empirie und argumentative Widersprüche hinwegzuhelfen. Hinzukommen muss natürlich eine gewisse Bekanntheit der Namen, die es der Marketingabteilung des Verlags erlaubt, dem Leser per Klappentext zu versichern: "Bedeutende Intellektuelle" dürfen das (was sich zugleich wie ein Verbraucherwarnhinweis liest: don't try that at home). Das zentrale Konzept des Buchs, das alles zu erklären verspricht, lautet "Nachahmung" und übersetzt sich wie folgt in ein geopolitisches Panorama à la Krastev und Holmes: Nach 1989, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, ahmten die osteuropäischen Länder das für alternativlos gehaltene westliche Modell nach. Auf die Dauer untergräbt Nachahmung aber das Selbstvertrauen und nährt Ressentiments gegenüber dem role model. Voilà: Victor Orbán und seine Vision der illiberalen Demokratie. Russland, zu groß, zu wichtig und historisch zu eigenständig, um einfach nur westlichen Liberalismus, Demokratie und Kapitalismus eins zu eins zu übernehmen, beginnt sich - nach einer Phase der völligen Orientierungslosigkeit unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion - unter Putin am Westen zu rächen. Es ahmt ihn nicht, sondern äfft ihn quasi nach, zeigt ihm nämlich seine eigene hässliche Fratze, indem es nach außen eine von jeglicher Menschenrechts-, Universalismus- und Responsibility-to-Protect-Lyrik freie, also eine von der üblichen westlichen Hypokrisie bereinigte Form der Machtpolitik betreibt und zugleich im Inneren Demokratie als Travestie aufführt: offen manipulierte Wahlen als Akte blanker, zynischer Machtdemonstration. Abgesehen davon, setzen russische Trollfabriken mit staatlicher Duldung oder sogar aktiver Förderung ja auch viel daran, in den westlichen Ländern die Legitimität demokratischer Wahlen zu untergraben.
In der vielleicht seltsamsten Wendung des Arguments meinen Krastev und Holmes, dass nicht nur nachahmen, sondern auch nachgeahmt werden unglücklich macht. Schließlich kommen die Autoren ja nur schwer um den Umstand herum, dass die Krise des Liberalismus kein exklusives Phänomen des nachahmenden Ostens ist, sondern sich im Herzen des nachgeahmten Westens längst tief eingenistet hat: siehe - unter vielen anderen möglichen Beispielen - insbesondere Brexit und Trump.
Und hier verlässt das Argument nun endgültig die seriöse Zone. Denn wenn sowohl nachahmen als auch nachgeahmt werden die Krise der liberalen Ordnung erklären sollen, kann das Konzept in dieser Hinsicht offenkundig gar nichts erklären. Zudem müssen die Autoren, damit es so ungefähr passt, die unter Trump offensiv vollzogene Aufgabe eines weltpolitischen Führungsanspruchs der Vereinigten Staaten zum großen historischen Kontinuitätsbruch stilisieren, obwohl doch isolationistische Episoden die letzten zweihundert Jahre der Geschichte der Vereinigten Staaten durchzogen haben.
Insoweit dieser so gar nicht neue Isolationalismus auch auf den moralischen Bankrott und das völkerrechtliche Debakel des Irak-Kriegs reagiert, der bei Krastev und Holmes nur nachgeordnet Erwähnung findet, braucht man allerdings gar keine west-östliche Dialektik der Nachahmung bemühen, um die Krise der liberalen Ordnung zu erklären. Sie ist schon eine ganz westliche Eigenproduktion - wie die Finanzkrise auch, als zweites Großereignis, das jüngst den liberalen Glauben an die Wohlfahrtseffekte eines freigesetzten Kapitalismus erschütterte.
Mit der argumentativen Volte, nun würde halt der Westen den Illiberalismus des Ostens plagiieren, also der eigentlich Nachgeahmte die ursprünglichen Nachahmer, ist das Deutungsschema also auch nicht zu retten. Aber zu historisch akkurat will beziehungsweise kann man so ein Argument natürlich auch nicht durchhalten. China wird ins Schema einzupassen versucht mit der Differenzierung, das Land würde höchst erfolgreich die Mittel, aber nicht die Ziele des Westens übernehmen. Wenn Francis Fukuyama auf das Jahr 1989 mit der Feststellung reagiert hatte, politischer und ökonomischer Liberalismus seien jetzt weltweit die einzig verbliebenen legitimen Ordnungsformen für Gesellschaft und Wirtschaft, liefe die Beschreibung von deren selektiver Übernahme durch China nach dem Schema von Krastev und Holmes darauf hinaus, Demokratie als Ziel und Kapitalismus als sein Mittel zu verstehen. Auch da passt also nicht viel.
Die Autoren fühlen sich aber offenbar ohnehin weniger der argumentativen Konsistenz verpflichtet, sondern fühlen sich lieber tief in die Kollektivpsyche insbesondere Osteuropas ein. Es geht um "aufgestauten Groll", um die "tief sitzende Abscheu gegenüber einem Nachahmungsimperativ mit allen seinen erniedrigenden Konsequenzen", um eine "weitverbreitete Verbitterung angesichts der gefühlten Kränkungen der nationalen und persönlichen Würde" und so weiter. Das sind alles Einschätzungen, die den Vorteil haben, weder beleg- noch widerlegbar zu sein, die aber in einem erstaunlichen Maße die Rhetorik derjenigen illiberalen Akteure - ja, soll man sagen: nachahmen? Von Akteuren, über die man doch eigentlich sozialwissenschaftlich aufklären wollte.
PHILIP MANOW
Ivan Krastev und Stephen Holmes: "Das Licht, das erlosch". Eine Abrechnung.
Aus dem Englischen von Karin Schuler.
Ullstein Verlag, Berlin 2019. 368 S., geb., 26,- [Euro].
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