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Das Lied & das Ich (eBook, PDF) - Bostridge, Ian
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«Wenn man als Sänger auftritt, dann nimmt man eine Stimme an, aber bis zu welchem Grad ist diese Stimme Deine eigene? Oder die des Komponisten? Oder die des Dichters oder Librettisten? Und inwieweit bringt das Musikstück, das Du interpretierst, eine stille, manchmal unterschwellige Geschichte mit sich, die vielleicht Fragen aufwirft, welche im Konzertsaal selten gestellt werden können?» Ian Bostridge, dessen unvergleichlich schönes Buch über Schuberts «Winterreise» hierzulande mit über 30 000 verkauften Exemplaren zu einem Bestseller geworden ist, erkundet in seinen eleganten Essays die…mehr

Produktbeschreibung
«Wenn man als Sänger auftritt, dann nimmt man eine Stimme an, aber bis zu welchem Grad ist diese Stimme Deine eigene? Oder die des Komponisten? Oder die des Dichters oder Librettisten? Und inwieweit bringt das Musikstück, das Du interpretierst, eine stille, manchmal unterschwellige Geschichte mit sich, die vielleicht Fragen aufwirft, welche im Konzertsaal selten gestellt werden können?» Ian Bostridge, dessen unvergleichlich schönes Buch über Schuberts «Winterreise» hierzulande mit über 30 000 verkauften Exemplaren zu einem Bestseller geworden ist, erkundet in seinen eleganten Essays die hochkomplexe Interaktion zwischen der Identität des aufführenden Künstlers und den Identitäten, die intentional in einem Kunstwerk zum Ausdruck gelangen oder doch darin verborgen eingelagert sind. Claudio Monteverdis Oper «Il combattimento di Tancredi e Clorinda», Robert Schumanns «Frauenliebe und Leben» und die «Chansons Madécasses» von Maurice Ravel bilden dabei Anschauungsmaterial, an dem sich sowohl die «ewigen» Fragen der Interpretationskunst wie auch aktuelle Herausforderungen, etwa das Problem der «kulturellen Aneignung», diskutieren lassen.
Autorenporträt
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Statt sich wie früher als Historiker mit Hexen zu beschäftigen, ergründet der erfolgreiche Tenor Ian Bostridge in seinen an der Universität Chicago gehaltenen Vorlesungen die "epischen Tiefenschichten" von Gesang und Interpretationen ausgewählter Opern, schreibt Rezensent Patrick Bahners. Ein Glück für andere Hexenforscher, dass er das Terrain gewechselt hat, so der Kritiker, denn Bostridges Analysen sind so so intelligent wie pointiert. So auch hier: Bostridge nimmt sich beispielsweise Humphrey Carpenters Biographie über den Komponisten Benjamin Britten vor und weist auf Fehlschlüsse hin, die dem Autor in der Werkinterpretation von Brittens Oper "Curlew River" unterlaufen. Bostridge konzentriert sich auf die "Objektivität der Werkgestalt" und zeigt, dass Carpenter den lebensgeschichtlichen Hintergrund des Komponisten überschätzt. In der Folge teilt weitere Rügen aus, so der Rezensent, schreibt gegen "musikkritische Klischees" an und denunziert die Tendenz, äußere Faktoren eines Werkes und Inhaltliches zu vermischen. Ein wichtiger Beitrag zur Debatte um die Rolle der eigenen Identität in der Kunstszene, schließt der Kritiker.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.11.2023

Zum Leben erweckt
Der Startenor Ian Bostridge fragt in seinem Buch: Was bedeutet es für einen Sänger, auf der Bühne eine Rolle anzunehmen?
Der britische Tenor Ian Bostridge machte in den Neunzigerjahren mit seinem hell timbrierten, individuell-manieristisch gestalteten Liedgesang auf sich aufmerksam, verführte ein traditionelles stimmverliebtes Klassikpublikum, zog ein neues, junges Publikum in Bann. Ausgerechnet mit Liedgesang, mit romantischen Kunstliedern von Franz Schubert und Robert Schumann, bald auch mit Opernauftritten. Zuvor hatte er Geschichte und Philosophie studiert, wurde mit einer Arbeit über Hexerei promoviert. Das ist deshalb von Belang, als Bostridge seine akademischen Interessen auch dann weiterverfolgte, als er mit seinen Gesangsauftritten gut ausgelastet war. Sein Buch über Schuberts „Winterreise“ wurde auch hierzulande viel gelesen, sein jüngstes Werk „Das Lied & das Ich“ scheint daran anzuknüpfen, widmet sich dann aber doch einem anderen Thema: der Frage nach dem wechselseitigen Identitätsverhältnis von Künstler und dargestellter Figur.
Er verweist auf die extreme Position des Musiktheoretikers Heinrich Schenker, der die Auffassung vertrat, ein Musikwerk existiere auch ohne Aufführung, das Lesen der Partitur genüge. Darin liege, schreibt Bostridge, etwas zutiefst Theologisches, das zurückreiche bis zu den Debatten der Renaissance über Form und Substanz, aber für den Interpreten sei es ein Schlag ins Gesicht. Was sich Bostridge allerdings nicht fragt: Ist das Lesen der Partitur nicht auch eine Aufführung? Und ist das Abspielen einer Musikaufnahme eine Aufführung?
Aber so genau will der Sänger Bostridge das gar nicht wissen, im Gegenteil. Sein Ansatz ist die Trennung von Musikwissenschaft und Musikkunst, von Nachdenken und Singen. Glücklicherweise, schreibt er, habe die Musikwissenschaft erkannt, „dass Musik schlichtweg Aufführung und nicht nur der niedergeschriebene Text ist“. Daraus, und aus der Auffassung Alfred Brendels, der Pianist müsse in den Beethoven-Sonaten „als Charakterdarsteller Rollen spielen“, leitet Bostridge die Existenz des interpretierenden Künstlers ab, der auch als privates Individuum Teil der Aufführung ist. Ein wichtiger Zeuge dafür ist ihm Edward T. Cone mit seinem Buch „The Composer’s Voice“, in dem dieser etwas nebulös davon spricht, dass die dargestellte Figur keine Marionette des Komponisten sei, sondern von diesem nur zum Leben erweckt werde, um sie dann ihrem Eigenleben zu überlassen. Dieses wiederum gewinne sie durch den Sänger, der die Bühnenfigur um seinen eigenen Charakter ergänze. Das sind alles Bedingungen des künstlerischen Identitätsproblems. Und es sind auf jeden Fall die richtigen Hinweise auf dessen Voraussetzungen. Selbst jene Musikliebhaber, die von Werktreue in dem Sinn träumen, dass der ausführende Künstler nur eine Art Medium ist, das selber hinter dem Werk verschwindet – selbst dieser Teil des Publikums liebt seine Stars nicht nur in Gestalt von Bühnenfiguren, sondern auch als Künstlerindividuen, oft sogar als Privatmenschen. Kaum jemand will eine perfekte Musikmaschine erleben, natürlich will man die Künstlerpersönlichkeit spüren. Wie weit sie die dargestellte Figur oder das Werk überdecken darf, darüber sollte man streiten.
In seinem ersten Essay dazu – die drei Aufsätze beruhen auf Vorlesungen der Berlin Family Lectures an der University of Chicago – konzentriert sich Bostridge auf Genderidentitäten. In Claudio Monteverdis knappen Musiktheaterstück „Il Combattimento di Tancredi e Clorinda“ sieht er verschwimmende Geschlechterrollen, in Robert Schumanns Liederzyklus „Frauenliebe und Leben“ verweist er auf die Tatsache, dass ein männlicher Komponist die Rolle einer liebenden Frau einnehme. In dem Musikdrama „Curlew River“ von 1964 intensiviere der Komponist Benjamin Britten die Tragik des Stückes durch das Verschwimmen der Geschlechter, wobei eine weibliche Rolle von einem männlichen Sänger repräsentiert werde.
Allerdings muss Bostridge dem anvisierten Narrativ schon ein bisschen auf die Sprünge helfen, wenn er den Kampf zwischen Tancredi und Clorinda als sexuelles Spiel zweier gleich starker Partner interpretiert, ja sogar als „sadomasochistischen Liebesakt“. Er zitiert dazu die Stelle – die Übersetzerin zieht hier offenbar eine alte deutsche Version heran –: „Dreimal umfaßt mit seines Armes Ringen / Der Held die Jungfrau; und mit gleicher Kraft / Reißt sie sich dreimal los aus diesen Schlingen, / Die Feindeshaß, nicht Liebessehnen, schafft.“
Das ist alles assoziativ enthalten, aber unweigerlich taucht die Frage auf: Inwieweit gibt es nicht nur ein Identitätsproblem im Zusammenspiel von Bühnenfigur und Sänger, sondern auch von Musikhistoriker und Autor? Ian Bostridge, der selber nahe am Falsett eine androgyne oder jedenfalls nonbinäre Figur war, thematisiert diesen Zusammenhang nicht, hält sich als Person im Hintergrund, bleibt Vortragender.
Es ist auch ein Buch über die wachsende Differenz von Komponisteninteresse und Künstlerdeutungswunsch. Was nicht unbedingt gleichzusetzen ist mit historischer Sicht und aktueller Interpretation. Komponisten sind immer besonders stolz, wenn ihnen eine kalkulierte Wirkung gelingt, wenn das Publikum so reagiert, wie sie sich das vorgestellt haben, wie sie das in kunstvoller Detailarbeit und sicherem Gesamtüberblick geplant haben. Monteverdis Sinn fürs Dramatische zeigt sich dabei auf mehreren Ebenen: Er lässt das Spektakel mitten in einem Festbankett beginnen, auf einmal sind da zwei Kämpfende im Raum – die Gäste erschrecken, erkennen sicherlich schnell, dass alles nur Theater ist. Dann aber kommt der Komponist ins Spiel: „Unerwartet tritt Clorinda auf, in Rüstung und zu Fuß. Sie wird von Tancredi verfolgt … der Erzähler beginnt zu singen … Die Instrumentalisten klingen aufgeregt oder sanft, und der Erzähler setzt die Worte so zur Musik, dass aus allem eine Einheit wird.“ So berichtet Monteverdi, das ist es, was ihn interessiert.
Das Spiel mit den Geschlechterrollen ist natürlich auch im Fokus, aber es geht eigentlich nicht um Grenzüberschreitungen im modernen Sinn. Bostridge weiß das und hält in seinen zeitgeistigen Deutungen durchaus ein vernünftiges Maß. So kann er bei Monteverdi, Schubert, Schumann und Ravel spannend Neues finden, ohne behaupten zu müssen, die Musikgeschichte müsse neu geschrieben werden. Muss sie nicht, aber aufschlussreich ergänzende Kapitel sind stets willkommen.
HELMUT MAURÓ
Niemand will eine perfekte
Musikmaschine, sondern
Persönlichkeit spüren
Ian Bostridge:
Das Lied & das Ich.
C. H. Beck,
München 2023.
142 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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"Der britische Opernsänger Ian Bostridge singt nicht nur, er denkt auch in einem feinen Essayband über die Musik nach, die ihm etwas bedeutet (...) Ian Bostridge schreibt wie er singt: angemessen exzentrisch, sehr sorgfältig und niemals zu laut."
ZEIT Literatur, Christine Lemke-Matwey

"Für dieses Buch sollte man sich Zeit nehmen, um sich in die vielschichtigen Fragestellungen hineindenken zu können. Dann aber ist es ein absoluter Gewinn und eine Lektüre auf höchstem Niveau."
rbb Kulturradio, Andreas Göbel

"Er schreibt in einer gelungenen, lebendigen Mischung des Interpreten, des Philosophen und Historikers ... Sehr persönlich und faszinierend ... Mich inspiriert seine Sicht auf diese vielschichtigen Aspekte."
SWR2, Dorothea Hußlein

"Das Komplexe ist immer ein Gewinn ... Eine zarte Aufforderung, über die enge biographische Auslegung auch einmal hinauszugehen."
Frankfurter Rundschau

"widmet sich der Frage nach dem wechselseitigen Identitätsverhältnis von Künstler und dargestellter Figur ... und kann bei Monteverdi, Schubert, Schumann und Ravel spannend Neues finden"
SZ, Helmut Mauró

"Bostridges anspruchsvolle Gedankensammlung ... bildet."
Rondo, Guido Fischer

"Ein Buch, das Augen und Ohren öffnet."
concerti, Ecki Ramón Weber

"Eine typisch englische Mischung aus Leichtigkeit und Tiefe [bewirkt], ... dass bei der Lektüre immer neue Facetten zum Vorschein kommen."
Gewandhaus Magazin, Maja Anters

"Normalerweise können Sänger nicht erklären, was sie tun. Ian Bostridge kann es."
Richard Sennett

"Ian Bostridge vereint in sich wie kein anderer die Gaben eines gefeierten Tenors mit denen eines ausgebildeten Historikers."
Steven Greenblatt
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.2024

Wenn er die Mutterrolle annimmt, steht's gut um ihn
Die hohe Kunst der Identifikation ist keine Hexerei: Der Tenor Ian Bostridge nimmt musikkritische Klischees und Voreiligkeiten ins Visier

Hexenforscher dürfen vor dem Hausbibliotheksaltärchen mit den Klassikern von Carlo Ginzburg, Keith Thomas und Wolfgang Behringer ein Dankgebet flüstern, weil Ian Bostridge ihrer Zunft den Rücken gekehrt hat, nachdem er 1997 sein Gesellenstück abgeliefert hatte, die Buchfassung seiner Oxforder Doktorarbeit über "Witchcraft and its transformations, c.1650-1750". Wäre Bostridge Berufshistoriker geblieben und nicht ins Fach des Sängers gewechselt, dann erschienen in den Fachzeitschriften sicher heute noch Rezensionen zu Neuerscheinungen aus seinem alten Spezialgebiet, stets kundig, urteilssicher und fair, aber gelegentlich auch mit giftigen Spitzen, exakt dosierten Proben jener heilsamen kritischen Schärfe, die man an Bostridges Alma Mater im Verein mit allen anderen wissenschaftlichen und sozialen Tugenden trainiert.

Mit der Entzauberung des funktionalistischen Generalschlüssels in der Sozialgeschichte der Magie und mit der Akademisierung der anfänglich marginalen feministischen Hexenhistoriographie hat Bostridge sich nicht mehr auseinandergesetzt. So bekommt den Stachel seiner Skepsis gegenüber Formeln, mit denen sich nicht das Halbwissen, sondern das Anderthalbwissen, das allzu gut bewährte, ins Bildungsgut eingesunkene kulturelle Wissen immunisiert, in Bostridges Buch "Das Lied & das Ich" - es geht auf Vorlesungen an der Universität von Chicago zurück - der verstorbene Humphrey Carpenter zu spüren, kein Wissenschaftler, sondern Autor literarischer Biographien.

Deutsche Leser kennen vielleicht Carpenters Tolkien-Biographie; er war auch der erste Biograph des Komponisten Benjamin Britten. Über Brittens 1964 uraufgeführte Kammeroper "Curlew River", die ein japanisches Stück über eine Mutter, die aus Trauer um ihren verschwundenen Sohn verrückt geworden ist, in den Rahmen eines christlichen Mysterienspiels versetzt und die Hauptpartie einem Tenor überträgt, liest man bei Carpenter, dass "das No-Spiel die Besetzung mit einem Sänger natürlich nahelegte"; zusätzlich will der Biograph aber eine lebensgeschichtliche Bedeutung der Figurenanlage erkennen, die er durch einen Vergleich mit Brittens Oper nach Shakespeares "Sommernachtstraum" plausibel machen möchte: "wie der Einsatz eines Countertenors als Oberon deutet das auf eine unorthodoxe Sexualität hin". Bostridges Kurzkritik: "Das trifft absolut nicht zu."

Der Gedanke ist nicht einfach falsch, sondern komplett falsch ("quite wrong"), nämlich in seinen beiden Bestandteilen. Die No-Tradition legte die männliche Besetzung aller Rollen nicht nur nahe ("suggested"), sondern schrieb sie vor; Britten übernahm diese Regel und ließ sie natürlich erscheinen, indem er die Legende vom Fährmann und der wehklagenden Frau als Stück im Stück darbot: Seine Sänger spielen Mönche, die Pilger und Pilgerinnen spielen. Carpenter unterschätzt also die Verbindlichkeit der Form - und überschätzt die Macht von Brittens psychosexueller Konstitution über die schöpferischen Dispositionen. Oft erzählt Britten von Grenzgängern in Tonsprachen unauflöslichen Changierens, die meisten Hauptfiguren schrieb er seinem Lebenspartner Peter Pears auf den Leib, also wird auch die Maske der untröstlichen Mutterliebe eine unorthodoxe Sexualität sein: Das ist ein Fehlschluss.

Als gelehrter Interpret eines Werkes, das er auch auf der Bühne interpretiert hat, beharrt Bostridge an dieser Stelle auf der Objektivität der Werkgestalt und auf der formorientierten Logik des Komponisten, der keine Marionette seiner Dämonen war. In einem anderen Kapitel stellt Bostridge an einem weiteren Werk die andere Seite von Brittens Schaffen dar. Die schwankenden Bretter der Thomas-Mann-Oper "Death in Venice", seines letzten Bühnenwerkes, bevölkern Brittens Dämonen, im lebensgeschichtlich wörtlichen Sinne einer unheimlichen Verbindung mit dem Ortsgeist: Venedig war "auch Schauplatz einer Krise in Brittens Leben" gewesen, "als ihn während der Premiere für seine Oper 'The Turn of the Screw' am Teatro La Fenice eine gefährliche Leidenschaft für den Jungen packte, der die Rolle des Miles spielte, David Hemmings".

Das Buch von Carpenter ist Gebrauchsliteratur, will professionellen Interpreten und Liebhabern Material liefern. Bostridge hat es so genau gelesen wie eine Partitur. Vielleicht irritierte ihn das für die Gattung nicht untypische Wort "suggested". Bei einer musikalischen Darbietung, zumal in Bostridges Metier des Liedgesangs, ist es ein Qualitätsmerkmal, wenn sie suggestiv gerät, andeutend Anreiz gibt zur nachsinnenden Anreicherung. Wo erklärende Prosa ausdrücklich mit Suggestionen hantiert, hat der Autor sich meist keine Klarheit über den Status seiner Thesen verschafft.

Eine weitere von Bostridge ausgesprochene Rüge, nicht ganz so streng wie der Tadel für Carpenter, knüpft ebenfalls an die Verallgemeinerung eines musikkritischen Klischees an. Die Historikerin Jane Fulcher bemerkt in ihrem Buch über Maurice Ravel mit dem Titel "The Composer as Intellectual" aus Anlass der "Trois Chansons Madécasses" von 1925, Ravels "Subversion" sei "immer subtil", bewege sich "auf der Ebene von Symbolen und Gesten" und könne daher "sogar noch kraftvoller sein als die konventionelle diskursive Konfrontation".

Bostridge widmet dem zweiten der drei Lieder nach Gedichten von Évariste de Parny, der 1753 auf der Île Bourbon östlich von Madagaskar geboren wurde und 1814 in Paris starb, das mittlere seiner drei Kapitel. In diesem Lied leiht der Dichter, der selbst Sklavenbesitzer und Kolonialbeamter war, der eingesessenen Bevölkerung Madagaskars die Stimme für eine Warnung vor den Franzosen: "Méfiez vous des blancs!" Bostridge hält Jane Fulcher entgegen, dass hier die Subversion des französischen Kolonialismus, dessen zivilisatorische Mission von Ravels linken politischen Freunden noch verteidigt wurde, alles andere als subtil ist. sondern scharf, hart, schroff und eindeutig, in der Sache wie im Ton. Maurice Ravel, immer subtil: So steht es im Musikwörterbuch der Gemeinplätze.

Wer darf einem heute in europäischen Konzertsälen immer noch überwiegend weißen Publikum den Imperativ an den Kopf schleudern, den Weißen zu misstrauen? Für Bostridge ist diese Frage mit dem Verweis auf den Kunstcharakter des Kunstlieds nicht beantwortet. In "Curlew River" ist der menschheitliche Universalismus Konzept in dem Sinne, dass er im Werk realisiert wird: durch die als Ritual inszenierte Übernahme der Mutterrolle durch den männlichen Sänger, aber auch durch die Ergänzung der japanischen Erzählung um einen christlichen Hoffnungsschluss. Bostridge hörte Ravels "madegassische" Lieder zum ersten Mal 1995 in der Londoner Wigmore Hall, gesungen von Ruby Philogene, einer in London geborenen Mezzosopranistin aus afrokaribischer Familie. Ein Vierteljahrhundert nach dem Konzert fragte Bostridge seine Kollegin nach ihrem Verhältnis zu Ravels Stück. Er hat ihre Antwort aufgezeichnet: "In meiner Interpretation kann ich die Stimmen meiner Vorfahren durch mich selbst hindurch hören: ihren Schrei aus der Unterdrückung, ihren Schrei aus der Ungerechtigkeit nach Freiheit." Bostridge ist mit Ravels Zyklus erst ein Mal aufgetreten und wird bis auf Weiteres wohl Kollegen den Vortritt lassen, die eine ähnliche persönliche Geschichte mitbringen wie Ruby Philogene.

Humphrey Carpenters Spekulation über den Subtext sexueller Ketzerei im Klosterspiel "Curlew River" ist ein Fall des autobiographischen Missverständnisses, das bei Vertonungen besonders naheliegt, weil scheinbar schon die Textauswahl Bekenntnischarakter hat. Carpenters eher beiläufige Bemerkung von 1992 steht für einen seither immer mächtiger gewordenen Trend, in der Interpretation von Kunstwerken die äußeren Entstehungsbedingungen und das Inhaltliche zu kanonisieren. Bostridges Einspruch ist entschieden, aber punktuell, bezeichnet das Risiko einer Methode, der er sehr wohl sehr viel abgewinnen kann.

Sein Buch liest sich wie ein Gegenentwurf zu der Lehre von der sängerischen Interpretation, die Christian Gerhaher in seinem im selben Verlag erschienenen "Lyrischen Tagebuch" aufblättert (F.A.Z. vom 14. März 2022) - wobei These und Antithese keine akademischen Geltungsansprüche erheben; wir werden Zeugen eines Widerstreits der Intuitionen und der aus der Praxis gezogenen Lektionen. Wo Gerhaher darauf abhebt, dass die im Lied zur Schau gestellte Subjektivität fiktiv ist und die Abstraktion von echten Gefühlen und Erfahrungen voraussetzt, da ist für Bostridge die Interpretation ein Prozess der Identifikation des Sängers mit dem Werk, der aus biographischen und historischen Informationen ebenso schöpfen kann wie aus der Erkundung der eigenen Reflexe und Erinnerungen.

In der Einleitung stellt Bostridge seinen für jeden Liebhaber der Liedkunst unverwechselbaren Personalstil in eine dialektische Beziehung zu seiner Vergangenheit als professioneller Historiker. Das Recht, Schubert zu singen, das er sich herausnahm, stammte "nicht aus einem akademischen Verständnis der poetisch-musikalischen Texte", sondern "aus der Hingabe" an eine "Art Intensität des Ausdrucks und aus jenem Streben, so in die Musik einzutauchen, dass Sänger und Lied verschmelzen". Für Gerhaher ist das Lied in dem Sinne lyrisch, wie man im Deutschunterricht vom lyrischen Ich spricht: Zeugnis einer Kunstperson. Bostridge interessiert sich sozusagen für die epischen Tiefenschichten des Gesangs, die Erfahrungen von Dichtern, Komponisten, Musikern und Hörern, die im Zuge der Identifizierung der Stimme mit allen möglichen Stoffen verarbeitet werden. Fauler Zauber klingt anders. So wurde Ian Bostridge zum Hexenforscher in eigener Sache. PATRICK BAHNERS

Ian Bostridge: "Das Lied & das Ich". Betrachtungen eines Sängers über Musik, Performance und Identität.

Aus dem Englischen von Annabel Zettel. C. H. Beck Verlag, München 2023.

142 S., Abb., geb., 22,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
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