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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
ZEIT Literatur, Christine Lemke-Matwey
"Für dieses Buch sollte man sich Zeit nehmen, um sich in die vielschichtigen Fragestellungen hineindenken zu können. Dann aber ist es ein absoluter Gewinn und eine Lektüre auf höchstem Niveau."
rbb Kulturradio, Andreas Göbel
"Er schreibt in einer gelungenen, lebendigen Mischung des Interpreten, des Philosophen und Historikers ... Sehr persönlich und faszinierend ... Mich inspiriert seine Sicht auf diese vielschichtigen Aspekte."
SWR2, Dorothea Hußlein
"Das Komplexe ist immer ein Gewinn ... Eine zarte Aufforderung, über die enge biographische Auslegung auch einmal hinauszugehen."
Frankfurter Rundschau
"widmet sich der Frage nach dem wechselseitigen Identitätsverhältnis von Künstler und dargestellter Figur ... und kann bei Monteverdi, Schubert, Schumann und Ravel spannend Neues finden"
SZ, Helmut Mauró
"Bostridges anspruchsvolle Gedankensammlung ... bildet."
Rondo, Guido Fischer
"Ein Buch, das Augen und Ohren öffnet."
concerti, Ecki Ramón Weber
"Eine typisch englische Mischung aus Leichtigkeit und Tiefe [bewirkt], ... dass bei der Lektüre immer neue Facetten zum Vorschein kommen."
Gewandhaus Magazin, Maja Anters
"Normalerweise können Sänger nicht erklären, was sie tun. Ian Bostridge kann es."
Richard Sennett
"Ian Bostridge vereint in sich wie kein anderer die Gaben eines gefeierten Tenors mit denen eines ausgebildeten Historikers."
Steven Greenblatt
Die hohe Kunst der Identifikation ist keine Hexerei: Der Tenor Ian Bostridge nimmt musikkritische Klischees und Voreiligkeiten ins Visier
Hexenforscher dürfen vor dem Hausbibliotheksaltärchen mit den Klassikern von Carlo Ginzburg, Keith Thomas und Wolfgang Behringer ein Dankgebet flüstern, weil Ian Bostridge ihrer Zunft den Rücken gekehrt hat, nachdem er 1997 sein Gesellenstück abgeliefert hatte, die Buchfassung seiner Oxforder Doktorarbeit über "Witchcraft and its transformations, c.1650-1750". Wäre Bostridge Berufshistoriker geblieben und nicht ins Fach des Sängers gewechselt, dann erschienen in den Fachzeitschriften sicher heute noch Rezensionen zu Neuerscheinungen aus seinem alten Spezialgebiet, stets kundig, urteilssicher und fair, aber gelegentlich auch mit giftigen Spitzen, exakt dosierten Proben jener heilsamen kritischen Schärfe, die man an Bostridges Alma Mater im Verein mit allen anderen wissenschaftlichen und sozialen Tugenden trainiert.
Mit der Entzauberung des funktionalistischen Generalschlüssels in der Sozialgeschichte der Magie und mit der Akademisierung der anfänglich marginalen feministischen Hexenhistoriographie hat Bostridge sich nicht mehr auseinandergesetzt. So bekommt den Stachel seiner Skepsis gegenüber Formeln, mit denen sich nicht das Halbwissen, sondern das Anderthalbwissen, das allzu gut bewährte, ins Bildungsgut eingesunkene kulturelle Wissen immunisiert, in Bostridges Buch "Das Lied & das Ich" - es geht auf Vorlesungen an der Universität von Chicago zurück - der verstorbene Humphrey Carpenter zu spüren, kein Wissenschaftler, sondern Autor literarischer Biographien.
Deutsche Leser kennen vielleicht Carpenters Tolkien-Biographie; er war auch der erste Biograph des Komponisten Benjamin Britten. Über Brittens 1964 uraufgeführte Kammeroper "Curlew River", die ein japanisches Stück über eine Mutter, die aus Trauer um ihren verschwundenen Sohn verrückt geworden ist, in den Rahmen eines christlichen Mysterienspiels versetzt und die Hauptpartie einem Tenor überträgt, liest man bei Carpenter, dass "das No-Spiel die Besetzung mit einem Sänger natürlich nahelegte"; zusätzlich will der Biograph aber eine lebensgeschichtliche Bedeutung der Figurenanlage erkennen, die er durch einen Vergleich mit Brittens Oper nach Shakespeares "Sommernachtstraum" plausibel machen möchte: "wie der Einsatz eines Countertenors als Oberon deutet das auf eine unorthodoxe Sexualität hin". Bostridges Kurzkritik: "Das trifft absolut nicht zu."
Der Gedanke ist nicht einfach falsch, sondern komplett falsch ("quite wrong"), nämlich in seinen beiden Bestandteilen. Die No-Tradition legte die männliche Besetzung aller Rollen nicht nur nahe ("suggested"), sondern schrieb sie vor; Britten übernahm diese Regel und ließ sie natürlich erscheinen, indem er die Legende vom Fährmann und der wehklagenden Frau als Stück im Stück darbot: Seine Sänger spielen Mönche, die Pilger und Pilgerinnen spielen. Carpenter unterschätzt also die Verbindlichkeit der Form - und überschätzt die Macht von Brittens psychosexueller Konstitution über die schöpferischen Dispositionen. Oft erzählt Britten von Grenzgängern in Tonsprachen unauflöslichen Changierens, die meisten Hauptfiguren schrieb er seinem Lebenspartner Peter Pears auf den Leib, also wird auch die Maske der untröstlichen Mutterliebe eine unorthodoxe Sexualität sein: Das ist ein Fehlschluss.
Als gelehrter Interpret eines Werkes, das er auch auf der Bühne interpretiert hat, beharrt Bostridge an dieser Stelle auf der Objektivität der Werkgestalt und auf der formorientierten Logik des Komponisten, der keine Marionette seiner Dämonen war. In einem anderen Kapitel stellt Bostridge an einem weiteren Werk die andere Seite von Brittens Schaffen dar. Die schwankenden Bretter der Thomas-Mann-Oper "Death in Venice", seines letzten Bühnenwerkes, bevölkern Brittens Dämonen, im lebensgeschichtlich wörtlichen Sinne einer unheimlichen Verbindung mit dem Ortsgeist: Venedig war "auch Schauplatz einer Krise in Brittens Leben" gewesen, "als ihn während der Premiere für seine Oper 'The Turn of the Screw' am Teatro La Fenice eine gefährliche Leidenschaft für den Jungen packte, der die Rolle des Miles spielte, David Hemmings".
Das Buch von Carpenter ist Gebrauchsliteratur, will professionellen Interpreten und Liebhabern Material liefern. Bostridge hat es so genau gelesen wie eine Partitur. Vielleicht irritierte ihn das für die Gattung nicht untypische Wort "suggested". Bei einer musikalischen Darbietung, zumal in Bostridges Metier des Liedgesangs, ist es ein Qualitätsmerkmal, wenn sie suggestiv gerät, andeutend Anreiz gibt zur nachsinnenden Anreicherung. Wo erklärende Prosa ausdrücklich mit Suggestionen hantiert, hat der Autor sich meist keine Klarheit über den Status seiner Thesen verschafft.
Eine weitere von Bostridge ausgesprochene Rüge, nicht ganz so streng wie der Tadel für Carpenter, knüpft ebenfalls an die Verallgemeinerung eines musikkritischen Klischees an. Die Historikerin Jane Fulcher bemerkt in ihrem Buch über Maurice Ravel mit dem Titel "The Composer as Intellectual" aus Anlass der "Trois Chansons Madécasses" von 1925, Ravels "Subversion" sei "immer subtil", bewege sich "auf der Ebene von Symbolen und Gesten" und könne daher "sogar noch kraftvoller sein als die konventionelle diskursive Konfrontation".
Bostridge widmet dem zweiten der drei Lieder nach Gedichten von Évariste de Parny, der 1753 auf der Île Bourbon östlich von Madagaskar geboren wurde und 1814 in Paris starb, das mittlere seiner drei Kapitel. In diesem Lied leiht der Dichter, der selbst Sklavenbesitzer und Kolonialbeamter war, der eingesessenen Bevölkerung Madagaskars die Stimme für eine Warnung vor den Franzosen: "Méfiez vous des blancs!" Bostridge hält Jane Fulcher entgegen, dass hier die Subversion des französischen Kolonialismus, dessen zivilisatorische Mission von Ravels linken politischen Freunden noch verteidigt wurde, alles andere als subtil ist. sondern scharf, hart, schroff und eindeutig, in der Sache wie im Ton. Maurice Ravel, immer subtil: So steht es im Musikwörterbuch der Gemeinplätze.
Wer darf einem heute in europäischen Konzertsälen immer noch überwiegend weißen Publikum den Imperativ an den Kopf schleudern, den Weißen zu misstrauen? Für Bostridge ist diese Frage mit dem Verweis auf den Kunstcharakter des Kunstlieds nicht beantwortet. In "Curlew River" ist der menschheitliche Universalismus Konzept in dem Sinne, dass er im Werk realisiert wird: durch die als Ritual inszenierte Übernahme der Mutterrolle durch den männlichen Sänger, aber auch durch die Ergänzung der japanischen Erzählung um einen christlichen Hoffnungsschluss. Bostridge hörte Ravels "madegassische" Lieder zum ersten Mal 1995 in der Londoner Wigmore Hall, gesungen von Ruby Philogene, einer in London geborenen Mezzosopranistin aus afrokaribischer Familie. Ein Vierteljahrhundert nach dem Konzert fragte Bostridge seine Kollegin nach ihrem Verhältnis zu Ravels Stück. Er hat ihre Antwort aufgezeichnet: "In meiner Interpretation kann ich die Stimmen meiner Vorfahren durch mich selbst hindurch hören: ihren Schrei aus der Unterdrückung, ihren Schrei aus der Ungerechtigkeit nach Freiheit." Bostridge ist mit Ravels Zyklus erst ein Mal aufgetreten und wird bis auf Weiteres wohl Kollegen den Vortritt lassen, die eine ähnliche persönliche Geschichte mitbringen wie Ruby Philogene.
Humphrey Carpenters Spekulation über den Subtext sexueller Ketzerei im Klosterspiel "Curlew River" ist ein Fall des autobiographischen Missverständnisses, das bei Vertonungen besonders naheliegt, weil scheinbar schon die Textauswahl Bekenntnischarakter hat. Carpenters eher beiläufige Bemerkung von 1992 steht für einen seither immer mächtiger gewordenen Trend, in der Interpretation von Kunstwerken die äußeren Entstehungsbedingungen und das Inhaltliche zu kanonisieren. Bostridges Einspruch ist entschieden, aber punktuell, bezeichnet das Risiko einer Methode, der er sehr wohl sehr viel abgewinnen kann.
Sein Buch liest sich wie ein Gegenentwurf zu der Lehre von der sängerischen Interpretation, die Christian Gerhaher in seinem im selben Verlag erschienenen "Lyrischen Tagebuch" aufblättert (F.A.Z. vom 14. März 2022) - wobei These und Antithese keine akademischen Geltungsansprüche erheben; wir werden Zeugen eines Widerstreits der Intuitionen und der aus der Praxis gezogenen Lektionen. Wo Gerhaher darauf abhebt, dass die im Lied zur Schau gestellte Subjektivität fiktiv ist und die Abstraktion von echten Gefühlen und Erfahrungen voraussetzt, da ist für Bostridge die Interpretation ein Prozess der Identifikation des Sängers mit dem Werk, der aus biographischen und historischen Informationen ebenso schöpfen kann wie aus der Erkundung der eigenen Reflexe und Erinnerungen.
In der Einleitung stellt Bostridge seinen für jeden Liebhaber der Liedkunst unverwechselbaren Personalstil in eine dialektische Beziehung zu seiner Vergangenheit als professioneller Historiker. Das Recht, Schubert zu singen, das er sich herausnahm, stammte "nicht aus einem akademischen Verständnis der poetisch-musikalischen Texte", sondern "aus der Hingabe" an eine "Art Intensität des Ausdrucks und aus jenem Streben, so in die Musik einzutauchen, dass Sänger und Lied verschmelzen". Für Gerhaher ist das Lied in dem Sinne lyrisch, wie man im Deutschunterricht vom lyrischen Ich spricht: Zeugnis einer Kunstperson. Bostridge interessiert sich sozusagen für die epischen Tiefenschichten des Gesangs, die Erfahrungen von Dichtern, Komponisten, Musikern und Hörern, die im Zuge der Identifizierung der Stimme mit allen möglichen Stoffen verarbeitet werden. Fauler Zauber klingt anders. So wurde Ian Bostridge zum Hexenforscher in eigener Sache. PATRICK BAHNERS
Ian Bostridge: "Das Lied & das Ich". Betrachtungen eines Sängers über Musik, Performance und Identität.
Aus dem Englischen von Annabel Zettel. C. H. Beck Verlag, München 2023.
142 S., Abb., geb., 22,- Euro.
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