Giovannas hübsches Gesicht verändert sich. Es wird hässlich. Zumindest meint das Giovannas Vater. Er sagt, sie werde ihrer Tante immer ähnlicher, seiner verhassten Schwester Vittoria, die er immer von Giovanna fernhalten wollte. Giovanna ist am Boden zerstört – aber fühlt sich von dieser Tante plötzlich magisch angezogen. Und sie macht sich auf eine Suche, die ihrer aller Leben erschüttern wird.
Elena Ferrante hat ein Bravourstück geschaffen und einen traurigen und schönen Roman geschrieben: über die Heucheleien der Eltern, die Atemlosigkeiten und Verwirrungen der Jugendzeit und über das Drama des Erwachsenwerdens. Darüber, wie es ist, ein Mädchen zu sein und eine Frau zu werden.
Elena Ferrante hat ein Bravourstück geschaffen und einen traurigen und schönen Roman geschrieben: über die Heucheleien der Eltern, die Atemlosigkeiten und Verwirrungen der Jugendzeit und über das Drama des Erwachsenwerdens. Darüber, wie es ist, ein Mädchen zu sein und eine Frau zu werden.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Mit dem neapolitanischen Quartett kann Elena Ferrantes neuer Roman in den Augen von Rezensentin Marielle Kreienborg nicht mithalten. Die Kritikerin begegnet auch in dieser Geschichte faszinierenden Frauenfiguren - allen voran die ungehobelte Tante der jungen Ich-Erzählerin -, und kann auch Ferrantes Attacken auf den bildungsbürgerlichen Selbstbetrug einiges abgewinnen. Aber echte "Strahlkraft" oder erzählerische Rasanz entwickel Ferrante in dem Roman nicht, bedauert die Kritikerin. Vor allem erscheint ihr die Erzählung zu konstruiert, zu sehr von den Gedanken der Autorin über Klasse, Geschlecht und Sprache beschwert, als dass eine Zwölfjährige sie tragen könnte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.08.2020Die Femme fatale ist eine andere als gedacht
Elena Ferrante ist zurück: Ihr neuer Roman "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" setzt erfolgreich aufs Erfolgsrezept
"Die physische Liebe, die zu Unrecht so verschrien ist, zwingt jeden Menschen in solchem Maße dazu, selbst die kleinsten ihm innewohnenden Mengen an Güte und Selbstaufgabe hervorzukehren, dass sie auch für die allernächste Umgebung sichtbar werden." Diese Behauptung stammt von Marcel Proust, dessen "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" zu den Lieblingslektüren der halbwüchsigen Italienerin Giovanna Trada zählen, die als Ich-Erzählerin in Elena Ferrantes neuem Roman "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" auftritt - und die genau das erfährt, was Proust beobachtet hat. Ob sein Werk bei der Fünfzehnjährigen in guten Händen ist, darf man indes bezweifeln. "Ich lese gerade ein Buch, in dem ein Mädchen auf das Foto ihres Vaters spuckt", gibt sie vor ihrer Freundin Angela an, "und eine Freundin von ihr macht das auch." Der Witz der entsprechenden Passage aus Prousts Roman ist ja, dass die beiden Frauen die Schändung des Fotos zwar ankündigen, doch dann ein Vorhang vor Prousts Erzähler niedergeht, so dass der Rest dessen Phantasie und somit auch unserer (schmutzigen?) überlassen bleibt.
Das ist bei Elena Ferrante anders: Da wird auserzählt. Deshalb geht der oft gezogene Vergleich Ferrantes mit Proust in die Irre, denn das war auch schon in der mittlerweile berühmten "Neapolitanischen Saga" so, mit der die unter Pseudonym veröffentlichende italienische Autorin auf der ganzen Welt bekannt und erfolgreich wurde. So ziemlich zuletzt übrigens in Deutschland, doch bei ihrem ersten neuen Roman seit dem Abschluss der Tetralogie im Jahr 2014 hat Suhrkamp jetzt die Nase weit vorn: Heute kommt die deutsche Übersetzung des in Italien im vergangenen November erschienenen Buchs heraus - immerhin drei Tage vor den Vereinigten Staaten, wo der globale Ferrante-Hype seinerzeit losgetreten wurde. Buchhandel und Leserinnen werden es dem Verlag danken.
Zumal schon der dritte Satz die schönsten Verheißungen weckt: "Alles - Neapels Orte, das blaue Licht des eisigen Februars, jene Worte - ist geblieben." Damit bezieht sich die Erzählerin Giovanna auf ihren ersten Satz: "Zwei Jahre, bevor mein Vater von zu Hause wegging, sagte er zu meiner Mutter, ich sei sehr hässlich." Doch die Autorin Ferrante ist viel zu versiert in intertextuellen Spielarten - auch Giovannas Proust-Lektüre ist natürlich eine -, um nicht zu wissen, wie jener dritte Satz gelesen würde: als programmatische Ankündigung einer unmittelbaren Anknüpfung an Themen und Stil der Vorgängersaga. Ja, auch mit dem neuen Buch sind wir in Neapel, und die Sozialtopographie der Stadt gibt abermals den Handlungsrahmen vor. Es gibt sogar wieder die zahllosen vertraut-ermüdenden Hinweise der Erzählerin darauf, dass jemand neapolitanischen Dialekt spreche, den man aber nie zu hören bekommt. Nun denn, das macht den Übersetzern die Arbeit einfacher.
Ferrantes deutsche Stimme verdanken wir Karin Krieger. Anders als die englischen Übertragungen schönt sie das Original stilistisch nicht. Immer mehr hat sich Ferrante im Laufe ihres mittlerweile fast dreißig Jahre währenden Schreibens einer Lakonie befleißigt, wie sie auch ein anderer weltweit gefeierter Schriftsteller zum Markenzeichen erhoben hat: Haruki Murakami. Knappheit in Satzbau und Dekor kennzeichnet beider Prosa, jenseits der Vorstellungen ihrer jeweiligen Erzähler ist wenig zu erfahren. Wer etwa hoffte, von Ferrantes neuem Roman Neapel anschaulich vor Augen geführt zu bekommen, wird enttäuscht feststellen, dass sich die Schilderung der in den Vorgängerbüchern noch recht präsenten Stadt nunmehr auf die Nennung der Namen von Straßen, Parks und Vierteln beschränkt. Umso mehr Raum bleibt aber fürs Innenleben der Ich-Erzählerin.
Wieder stehen zwei gleich alte Mädchen im Mittelpunkt, doch während Elena und Lila aus der Romantetralogie in den fünfziger Jahren groß werden, ist die Handlung von "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" in den Neunzigern angesiedelt. Die Eltern von Giovanna und Angela sind eng befreundet, die beiden Töchter sind es auch, und mit Angelas jüngerer Schwester Ida ist noch eine Dritte mit im Bunde, die sich im Laufe des Geschehens zur Künstlerin des Trios entwickeln und am Ende viel enger mit Giovanna vertraut sein wird als die Schwester. Man darf wohl ohne großes Risiko prophezeien, dass der neue Roman Auftakt zu einem weiteren Zyklus ist; der Schluss mit einem Aufbruch von Giovanna und Ida nach Venedig schreit geradezu nach Fortsetzung.
Damit würde im Großen fortgesetzt, worin sich Ferrante als Meisterin im Kleinen erweist: revolvierendes Erzählen. Alle sieben Teile dieses knapp mehr als vierhundert Seiten umfassenden Romans enden mit einem veritablen Knalleffekt, und das gilt auch für die meisten der kurzen Binnenkapitel - auch hier also alles ganz anders als bei Proust; vielmehr ist das feuilletonistische Vorbild von Autoren wie Alexandre Dumas oder Eugène Sue zu erkennen. Die für Giovanna prägenden Zäsuren durch überraschende Enthüllungen oder drastische Wendungen des Geschehens werden durch diese Textstruktur noch einmal zusätzlich betont - als fürchtete Ferrante, dass wir deren Bedeutung unterschätzen könnten. Es war schon immer spürbar und wird nun leicht aufdringlich, wie wenig diese Autorin ihrem Publikum zutraut.
Dafür mutet sie ihm im ersten Viertel des Romans einiges zu. Als wir Giovanna kennenlernen, ist sie zwölf und kommt gerade in die Pubertät. Ihre sexuelle Neugier wird begleitet von allerlei masturbatorischen Praktiken, die einen nur wünschen lassen, dass sich die wahre Identität Ferrantes niemals als Mann erweisen möge - der müsste sich wohl einiges ob seiner schmutzigen Phantasien anhören. Wenn die entsprechenden Stellen von einer Frau stammen, macht sie das zwar literarisch nicht besser, aber sie können dann als weibliche Rückeroberung des sexuellen Diskurses oder Ähnliches schöngeredet werden. Jedenfalls wäre es hilfreich, wenn man sich am Anfang bei der Lektüre bisweilen so verhalten könnte, wie es Giovanna am Ende als Fünfzehnjährige bei ihrer provozierten Defloration tut: Augen zu und durch.
Das aber ist nach 120 Seiten nicht mehr nötig, denn dann beginnt Ferrante ihre Heldin konsequent zu dekonstruieren. Voller Abscheu auf die titelgebende verlogene Welt der Erwachsenen (namentlich der eigenen Eltern) blickend, wird Giovanna selbst zur formidablen Lügnerin, einer Meisterin in dieser Disziplin, die sich schließlich sogar selbst dermaßen zu belügen versteht, dass man die drei Jahre umspannende Erziehung ihrer Gefühle mit ständig wachsender Bewunderung liest. Und gleichzeitig erntet Giovanna selbst in der Welt des Romans auch immer mehr Bewunderung. Warum? Siehe das Proust-Zitat!
Am Ende vermisst man nicht einmal mehr jene Figur, die sich doch anfangs anschickte, zur Femme fatale dieses Romans zu werden: Tante Vittoria, von ihrem Bruder, Giovannas Vater, gehasst und umgekehrt diesen hassend. Für ihre Nichte wird die Bekanntschaft zu einer Transformationserfahrung, doch im Laufe der Handlung erschöpft sich die Bedeutung dieser rückhaltlos offenen Frau schließlich darin, dass sie Giovanna mit all den jungen Männern bekannt gemacht hat, die das Teenagermädchen zur Erkundung seines eigenen Liebesverständnisses braucht. Man mag das einen dramaturgischen Fehler des Romans nennen, aber dauerhaft wäre Giovanna neben einer so starken Figur wie Vittoria nie zur Entfaltung gekommen.
"Die Wahrheit ist nicht so einfach", sagt eine Erwachsene im Buch, "wenn du groß bist, wirst du das verstehen, dafür genügen Romane nicht." Auch das hätte Proust nie geschrieben, aber Elena Ferrantes "Lügenhaftes Leben der Erwachsenen" straft diese Abqualifizierung der Erkenntniskraft des Romans dann ja auch selbst Lügen.
ANDREAS PLATTHAUS
Elena Ferrante: "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen". Roman.
Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 415 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Elena Ferrante ist zurück: Ihr neuer Roman "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" setzt erfolgreich aufs Erfolgsrezept
"Die physische Liebe, die zu Unrecht so verschrien ist, zwingt jeden Menschen in solchem Maße dazu, selbst die kleinsten ihm innewohnenden Mengen an Güte und Selbstaufgabe hervorzukehren, dass sie auch für die allernächste Umgebung sichtbar werden." Diese Behauptung stammt von Marcel Proust, dessen "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" zu den Lieblingslektüren der halbwüchsigen Italienerin Giovanna Trada zählen, die als Ich-Erzählerin in Elena Ferrantes neuem Roman "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" auftritt - und die genau das erfährt, was Proust beobachtet hat. Ob sein Werk bei der Fünfzehnjährigen in guten Händen ist, darf man indes bezweifeln. "Ich lese gerade ein Buch, in dem ein Mädchen auf das Foto ihres Vaters spuckt", gibt sie vor ihrer Freundin Angela an, "und eine Freundin von ihr macht das auch." Der Witz der entsprechenden Passage aus Prousts Roman ist ja, dass die beiden Frauen die Schändung des Fotos zwar ankündigen, doch dann ein Vorhang vor Prousts Erzähler niedergeht, so dass der Rest dessen Phantasie und somit auch unserer (schmutzigen?) überlassen bleibt.
Das ist bei Elena Ferrante anders: Da wird auserzählt. Deshalb geht der oft gezogene Vergleich Ferrantes mit Proust in die Irre, denn das war auch schon in der mittlerweile berühmten "Neapolitanischen Saga" so, mit der die unter Pseudonym veröffentlichende italienische Autorin auf der ganzen Welt bekannt und erfolgreich wurde. So ziemlich zuletzt übrigens in Deutschland, doch bei ihrem ersten neuen Roman seit dem Abschluss der Tetralogie im Jahr 2014 hat Suhrkamp jetzt die Nase weit vorn: Heute kommt die deutsche Übersetzung des in Italien im vergangenen November erschienenen Buchs heraus - immerhin drei Tage vor den Vereinigten Staaten, wo der globale Ferrante-Hype seinerzeit losgetreten wurde. Buchhandel und Leserinnen werden es dem Verlag danken.
Zumal schon der dritte Satz die schönsten Verheißungen weckt: "Alles - Neapels Orte, das blaue Licht des eisigen Februars, jene Worte - ist geblieben." Damit bezieht sich die Erzählerin Giovanna auf ihren ersten Satz: "Zwei Jahre, bevor mein Vater von zu Hause wegging, sagte er zu meiner Mutter, ich sei sehr hässlich." Doch die Autorin Ferrante ist viel zu versiert in intertextuellen Spielarten - auch Giovannas Proust-Lektüre ist natürlich eine -, um nicht zu wissen, wie jener dritte Satz gelesen würde: als programmatische Ankündigung einer unmittelbaren Anknüpfung an Themen und Stil der Vorgängersaga. Ja, auch mit dem neuen Buch sind wir in Neapel, und die Sozialtopographie der Stadt gibt abermals den Handlungsrahmen vor. Es gibt sogar wieder die zahllosen vertraut-ermüdenden Hinweise der Erzählerin darauf, dass jemand neapolitanischen Dialekt spreche, den man aber nie zu hören bekommt. Nun denn, das macht den Übersetzern die Arbeit einfacher.
Ferrantes deutsche Stimme verdanken wir Karin Krieger. Anders als die englischen Übertragungen schönt sie das Original stilistisch nicht. Immer mehr hat sich Ferrante im Laufe ihres mittlerweile fast dreißig Jahre währenden Schreibens einer Lakonie befleißigt, wie sie auch ein anderer weltweit gefeierter Schriftsteller zum Markenzeichen erhoben hat: Haruki Murakami. Knappheit in Satzbau und Dekor kennzeichnet beider Prosa, jenseits der Vorstellungen ihrer jeweiligen Erzähler ist wenig zu erfahren. Wer etwa hoffte, von Ferrantes neuem Roman Neapel anschaulich vor Augen geführt zu bekommen, wird enttäuscht feststellen, dass sich die Schilderung der in den Vorgängerbüchern noch recht präsenten Stadt nunmehr auf die Nennung der Namen von Straßen, Parks und Vierteln beschränkt. Umso mehr Raum bleibt aber fürs Innenleben der Ich-Erzählerin.
Wieder stehen zwei gleich alte Mädchen im Mittelpunkt, doch während Elena und Lila aus der Romantetralogie in den fünfziger Jahren groß werden, ist die Handlung von "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" in den Neunzigern angesiedelt. Die Eltern von Giovanna und Angela sind eng befreundet, die beiden Töchter sind es auch, und mit Angelas jüngerer Schwester Ida ist noch eine Dritte mit im Bunde, die sich im Laufe des Geschehens zur Künstlerin des Trios entwickeln und am Ende viel enger mit Giovanna vertraut sein wird als die Schwester. Man darf wohl ohne großes Risiko prophezeien, dass der neue Roman Auftakt zu einem weiteren Zyklus ist; der Schluss mit einem Aufbruch von Giovanna und Ida nach Venedig schreit geradezu nach Fortsetzung.
Damit würde im Großen fortgesetzt, worin sich Ferrante als Meisterin im Kleinen erweist: revolvierendes Erzählen. Alle sieben Teile dieses knapp mehr als vierhundert Seiten umfassenden Romans enden mit einem veritablen Knalleffekt, und das gilt auch für die meisten der kurzen Binnenkapitel - auch hier also alles ganz anders als bei Proust; vielmehr ist das feuilletonistische Vorbild von Autoren wie Alexandre Dumas oder Eugène Sue zu erkennen. Die für Giovanna prägenden Zäsuren durch überraschende Enthüllungen oder drastische Wendungen des Geschehens werden durch diese Textstruktur noch einmal zusätzlich betont - als fürchtete Ferrante, dass wir deren Bedeutung unterschätzen könnten. Es war schon immer spürbar und wird nun leicht aufdringlich, wie wenig diese Autorin ihrem Publikum zutraut.
Dafür mutet sie ihm im ersten Viertel des Romans einiges zu. Als wir Giovanna kennenlernen, ist sie zwölf und kommt gerade in die Pubertät. Ihre sexuelle Neugier wird begleitet von allerlei masturbatorischen Praktiken, die einen nur wünschen lassen, dass sich die wahre Identität Ferrantes niemals als Mann erweisen möge - der müsste sich wohl einiges ob seiner schmutzigen Phantasien anhören. Wenn die entsprechenden Stellen von einer Frau stammen, macht sie das zwar literarisch nicht besser, aber sie können dann als weibliche Rückeroberung des sexuellen Diskurses oder Ähnliches schöngeredet werden. Jedenfalls wäre es hilfreich, wenn man sich am Anfang bei der Lektüre bisweilen so verhalten könnte, wie es Giovanna am Ende als Fünfzehnjährige bei ihrer provozierten Defloration tut: Augen zu und durch.
Das aber ist nach 120 Seiten nicht mehr nötig, denn dann beginnt Ferrante ihre Heldin konsequent zu dekonstruieren. Voller Abscheu auf die titelgebende verlogene Welt der Erwachsenen (namentlich der eigenen Eltern) blickend, wird Giovanna selbst zur formidablen Lügnerin, einer Meisterin in dieser Disziplin, die sich schließlich sogar selbst dermaßen zu belügen versteht, dass man die drei Jahre umspannende Erziehung ihrer Gefühle mit ständig wachsender Bewunderung liest. Und gleichzeitig erntet Giovanna selbst in der Welt des Romans auch immer mehr Bewunderung. Warum? Siehe das Proust-Zitat!
Am Ende vermisst man nicht einmal mehr jene Figur, die sich doch anfangs anschickte, zur Femme fatale dieses Romans zu werden: Tante Vittoria, von ihrem Bruder, Giovannas Vater, gehasst und umgekehrt diesen hassend. Für ihre Nichte wird die Bekanntschaft zu einer Transformationserfahrung, doch im Laufe der Handlung erschöpft sich die Bedeutung dieser rückhaltlos offenen Frau schließlich darin, dass sie Giovanna mit all den jungen Männern bekannt gemacht hat, die das Teenagermädchen zur Erkundung seines eigenen Liebesverständnisses braucht. Man mag das einen dramaturgischen Fehler des Romans nennen, aber dauerhaft wäre Giovanna neben einer so starken Figur wie Vittoria nie zur Entfaltung gekommen.
"Die Wahrheit ist nicht so einfach", sagt eine Erwachsene im Buch, "wenn du groß bist, wirst du das verstehen, dafür genügen Romane nicht." Auch das hätte Proust nie geschrieben, aber Elena Ferrantes "Lügenhaftes Leben der Erwachsenen" straft diese Abqualifizierung der Erkenntniskraft des Romans dann ja auch selbst Lügen.
ANDREAS PLATTHAUS
Elena Ferrante: "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen". Roman.
Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 415 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.09.2020Höhere Moral
Elena Ferrantes Roman „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ erzählt von
Bildung und Desillusionierung am Beispiel der 15-jährigen Neapolitanerin Giovanna
VON MARTIN EBEL
Die große Frage in Bezug auf Elena Ferrantes neuen Roman „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ lautet natürlich, ob er dem Vergleich mit der Neapel-Tetralogie „Meine geniale Freundin“ standhält, dem vierbändigen Weltbestseller mit zwölf Millionen verkauften Exemplaren, Übersetzungen in 50 Sprachen und einer HBO-Serienverfilmung. Und die Antwort lautet: Er kann.
Der neue Roman weist unverkennbar ferrantesche Züge und Qualitäten auf und ist doch ganz anders. Nicht ein halbes Jahrhundert umspannt er, nur zwei Jahre in den 1990ern; diesmal auch kein Großaufgebot diverser Familien eines Armenviertels in Neapel, keine spannungsvolle Frauenfreundschaft im Zentrum, sondern eine einzige Mädchenfigur, die am Anfang fast 13 und am Ende 16 Jahre alt ist. Eine Pubertätsgeschichte also, ein Erziehungs-, Erkenntnis- und Desillusionsroman, nur erzähltechnisch, aber nicht psychologisch etwa schlichter gestrickt als das Vorgängerquartett.
Giovanna heißt die Heldin, wohlerzogene Tochter zweier Gymnasiallehrer. Andrea, der bewunderte Vater, brilliert außerdem als politischer Essayist, die Mutter Nella korrigiert nebenher Liebesromane. Die Kleinfamilie wohnt im Rione Alto, einem Viertel der Arrivierten mit weitem Blick über die herrliche Bucht. Die vertikale Topografie Neapels bildet die soziale Schichtung ab: Der Rione Alto und der benachbarte Stadtteil Vomero sind oben; unten, etwa in der „Zona industriale“, wohnt das Elend. Dort kommt Giovannas Vater her, und dort lebt immer noch seine Schwester Vittoria, die nach fünf Jahren von der Schule abging und als Putzfrau arbeitet. Der Neubürger verachtete die Zurückgebliebene, sie wiederum hasst die Arroganz des Aufsteigers.
Der Vater gefällt sich in salonmarxistischen Tiraden, aber mit wirklicher Armut, gar in der eigenen Familie, will er nichts zu tun haben. Armut ist bei ihm ein moralisches Laster, denn wer fleißig lernt und sich kultiviert benimmt, kann es schaffen. Kein Wunder, dass die pubertierende Tochter Giovanna sich als Rebellions- und Identifikationsobjekt ausgerechnet die verhasste Schwester aussucht.
Bei Vittoria lernt sie ein völlig anderes Leben kennen: drastisch und dramatisch, wild und vital, voll latenter und manifester Gewalt. Vittoria flucht und schimpft – im Dialekt, dem Sozialmarker Italiens –, sie macht ihrer braven Nichte in aller Deutlichkeit klar, was harter Sex bedeutet (und dass ohne den „das Leben nichts ist“), aber dieser Sex mit dem verheirateten Enzo erscheint auch als Glutkern einer tragisch-rührenden Liebesgeschichte. Kurz: Giovanna ist fasziniert, sie verfällt dieser Tante, weil sie sich in ihr wiedererkennt. Im Gegenzug zerbricht die Fassade des wohlanständigen Elternhauses: Der Vater erscheint ihr nun als Schwätzer und Blender.
Überall Lüge und Heuchelei: Da macht Giovanna gern mit und wechselt als eine Art Doppelagentin geschmeidig zwischen beiden Milieus, Rione Alto und Zona Industriale (das beschreibt die Autorin so detailliert, dass man ihren Schritten auf einem Stadtplan folgen kann: Erneut ist Neapel die heimliche Heldin des Buches).
Die pubertierende Giovanna findet sich unansehnlich, andererseits entgeht ihr nicht, welche Wirkung sie auf Männer ausübt, und probiert sie bei diversen „Kandidaten“ des Armenviertels aus. Sie lernt den Thrill der Gefahr kennen und ihre Ekelgrenze. Das heftig riechende Gemächt eines Halbstarken – das ist eben etwas anderes als das vertraut-verschwitzte nächtliche Gefummel mit der Kindheitsfreundin. Gehören „erwachsener“ Sex und Gewalt etwa zusammen? „Männer wollen nur das Eine“, hatte die Tante gewarnt, „Alle Männer sind Schweine“ die Freundin. Das hält Giovanna nicht davon ab, ihr sexuelles Potenzial auszureizen, im Gegenteil. Bei einer Ausfahrt mit einem Quartiersmafioso erscheint dieser ihr plötzlich „wie ein strahlend heller Dämon, der mit beiden Händen meinen Kopf packen und mich zuerst gewaltsam küssen und mich dann so lange gegen das Autofenster schmettern würde, bis er mich getötet hätte“.
Wie die Autorin solche Abgründe in der scheinbar naiven Erinnerungsprosa der 15-Jährigen aufscheinen lässt (geschrieben, so wird an einigen wenigen Stellen suggeriert, von einer viel älteren Giovanna), darin ist Elena Ferrante auch hier wieder ganz groß. Sie inszeniert Vitalität und Bedrohlichkeit, Verführung und Aggression wie sich kreuzende Wellen, auf denen Giovanna experimentier- und risikofreudig, bewusst-unbewusst dahinsurft.
„Bis heute beschäftigt mich die Frage, wie unser Gehirn Strategien entwickelt und durchsetzt, ohne sich zu offenbaren.“ Giovanna, und das gehört zum Prozess der Reifung, gelingt es zunehmend, die Strategien, die sie einsetzt, zu analysieren. Indem sie beobachtet, wie sie sich verhält, lernt sie sich kennen. So bin ich also, beschließt sie: auch mal böse, raffiniert, intrigant, „mit einem heftigen Verlangen nach Verworfenheit“. Aber auch mit der Fähigkeit, auf die Belange anderer Rücksicht zu nehmen: Giovanna lässt die Scheinmoral des Elternhauses hinter sich und entwickelt eine Moral höherer Ordnung. Indem sie nicht in die Falle einer romantischen, aber zerstörerischen Liebe tappt, lässt sie auch Vittoria, die das vorgelebt hatte, hinter sich. Die Tante bleibt eine Identifikationsfigur des Übergangs.
Giovanna wird erwachsen, und wie sie es wird, bestimmt sie selbst. Am Ende sehen wir die Heldin mit einer Freundin, die Schriftstellerin werden will. Nach Venedig abreisen. Am Horizont zeichnet sich ein neues Frauengespann ab. Wohin Elena Ferrante es lenken wird, werden wir hoffentlich in ihrem nächsten Roman erfahren. Denn das Ende dieses Buches ist so offen wie das Leben, das vor Giovanna liegt.
Elena Ferrante: Das lügenhafte Leben der Erwachsenen. Roman. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 414 Seiten, 24 Euro.
Ferrante inszeniert Verführung
und Aggression
wie sich kreuzende Wellen
Nacht in Neapel: Die pubertierende Giovanna findet sich unansehnlich, andererseits entgeht ihr nicht, welche Wirkung sie auf Männer ausübt, und probiert sie bei diversen Kandidaten im Armenviertel aus.
Foto: mauritius images / Daniel Kempf-Seifried
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Elena Ferrantes Roman „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ erzählt von
Bildung und Desillusionierung am Beispiel der 15-jährigen Neapolitanerin Giovanna
VON MARTIN EBEL
Die große Frage in Bezug auf Elena Ferrantes neuen Roman „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ lautet natürlich, ob er dem Vergleich mit der Neapel-Tetralogie „Meine geniale Freundin“ standhält, dem vierbändigen Weltbestseller mit zwölf Millionen verkauften Exemplaren, Übersetzungen in 50 Sprachen und einer HBO-Serienverfilmung. Und die Antwort lautet: Er kann.
Der neue Roman weist unverkennbar ferrantesche Züge und Qualitäten auf und ist doch ganz anders. Nicht ein halbes Jahrhundert umspannt er, nur zwei Jahre in den 1990ern; diesmal auch kein Großaufgebot diverser Familien eines Armenviertels in Neapel, keine spannungsvolle Frauenfreundschaft im Zentrum, sondern eine einzige Mädchenfigur, die am Anfang fast 13 und am Ende 16 Jahre alt ist. Eine Pubertätsgeschichte also, ein Erziehungs-, Erkenntnis- und Desillusionsroman, nur erzähltechnisch, aber nicht psychologisch etwa schlichter gestrickt als das Vorgängerquartett.
Giovanna heißt die Heldin, wohlerzogene Tochter zweier Gymnasiallehrer. Andrea, der bewunderte Vater, brilliert außerdem als politischer Essayist, die Mutter Nella korrigiert nebenher Liebesromane. Die Kleinfamilie wohnt im Rione Alto, einem Viertel der Arrivierten mit weitem Blick über die herrliche Bucht. Die vertikale Topografie Neapels bildet die soziale Schichtung ab: Der Rione Alto und der benachbarte Stadtteil Vomero sind oben; unten, etwa in der „Zona industriale“, wohnt das Elend. Dort kommt Giovannas Vater her, und dort lebt immer noch seine Schwester Vittoria, die nach fünf Jahren von der Schule abging und als Putzfrau arbeitet. Der Neubürger verachtete die Zurückgebliebene, sie wiederum hasst die Arroganz des Aufsteigers.
Der Vater gefällt sich in salonmarxistischen Tiraden, aber mit wirklicher Armut, gar in der eigenen Familie, will er nichts zu tun haben. Armut ist bei ihm ein moralisches Laster, denn wer fleißig lernt und sich kultiviert benimmt, kann es schaffen. Kein Wunder, dass die pubertierende Tochter Giovanna sich als Rebellions- und Identifikationsobjekt ausgerechnet die verhasste Schwester aussucht.
Bei Vittoria lernt sie ein völlig anderes Leben kennen: drastisch und dramatisch, wild und vital, voll latenter und manifester Gewalt. Vittoria flucht und schimpft – im Dialekt, dem Sozialmarker Italiens –, sie macht ihrer braven Nichte in aller Deutlichkeit klar, was harter Sex bedeutet (und dass ohne den „das Leben nichts ist“), aber dieser Sex mit dem verheirateten Enzo erscheint auch als Glutkern einer tragisch-rührenden Liebesgeschichte. Kurz: Giovanna ist fasziniert, sie verfällt dieser Tante, weil sie sich in ihr wiedererkennt. Im Gegenzug zerbricht die Fassade des wohlanständigen Elternhauses: Der Vater erscheint ihr nun als Schwätzer und Blender.
Überall Lüge und Heuchelei: Da macht Giovanna gern mit und wechselt als eine Art Doppelagentin geschmeidig zwischen beiden Milieus, Rione Alto und Zona Industriale (das beschreibt die Autorin so detailliert, dass man ihren Schritten auf einem Stadtplan folgen kann: Erneut ist Neapel die heimliche Heldin des Buches).
Die pubertierende Giovanna findet sich unansehnlich, andererseits entgeht ihr nicht, welche Wirkung sie auf Männer ausübt, und probiert sie bei diversen „Kandidaten“ des Armenviertels aus. Sie lernt den Thrill der Gefahr kennen und ihre Ekelgrenze. Das heftig riechende Gemächt eines Halbstarken – das ist eben etwas anderes als das vertraut-verschwitzte nächtliche Gefummel mit der Kindheitsfreundin. Gehören „erwachsener“ Sex und Gewalt etwa zusammen? „Männer wollen nur das Eine“, hatte die Tante gewarnt, „Alle Männer sind Schweine“ die Freundin. Das hält Giovanna nicht davon ab, ihr sexuelles Potenzial auszureizen, im Gegenteil. Bei einer Ausfahrt mit einem Quartiersmafioso erscheint dieser ihr plötzlich „wie ein strahlend heller Dämon, der mit beiden Händen meinen Kopf packen und mich zuerst gewaltsam küssen und mich dann so lange gegen das Autofenster schmettern würde, bis er mich getötet hätte“.
Wie die Autorin solche Abgründe in der scheinbar naiven Erinnerungsprosa der 15-Jährigen aufscheinen lässt (geschrieben, so wird an einigen wenigen Stellen suggeriert, von einer viel älteren Giovanna), darin ist Elena Ferrante auch hier wieder ganz groß. Sie inszeniert Vitalität und Bedrohlichkeit, Verführung und Aggression wie sich kreuzende Wellen, auf denen Giovanna experimentier- und risikofreudig, bewusst-unbewusst dahinsurft.
„Bis heute beschäftigt mich die Frage, wie unser Gehirn Strategien entwickelt und durchsetzt, ohne sich zu offenbaren.“ Giovanna, und das gehört zum Prozess der Reifung, gelingt es zunehmend, die Strategien, die sie einsetzt, zu analysieren. Indem sie beobachtet, wie sie sich verhält, lernt sie sich kennen. So bin ich also, beschließt sie: auch mal böse, raffiniert, intrigant, „mit einem heftigen Verlangen nach Verworfenheit“. Aber auch mit der Fähigkeit, auf die Belange anderer Rücksicht zu nehmen: Giovanna lässt die Scheinmoral des Elternhauses hinter sich und entwickelt eine Moral höherer Ordnung. Indem sie nicht in die Falle einer romantischen, aber zerstörerischen Liebe tappt, lässt sie auch Vittoria, die das vorgelebt hatte, hinter sich. Die Tante bleibt eine Identifikationsfigur des Übergangs.
Giovanna wird erwachsen, und wie sie es wird, bestimmt sie selbst. Am Ende sehen wir die Heldin mit einer Freundin, die Schriftstellerin werden will. Nach Venedig abreisen. Am Horizont zeichnet sich ein neues Frauengespann ab. Wohin Elena Ferrante es lenken wird, werden wir hoffentlich in ihrem nächsten Roman erfahren. Denn das Ende dieses Buches ist so offen wie das Leben, das vor Giovanna liegt.
Elena Ferrante: Das lügenhafte Leben der Erwachsenen. Roman. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 414 Seiten, 24 Euro.
Ferrante inszeniert Verführung
und Aggression
wie sich kreuzende Wellen
Nacht in Neapel: Die pubertierende Giovanna findet sich unansehnlich, andererseits entgeht ihr nicht, welche Wirkung sie auf Männer ausübt, und probiert sie bei diversen Kandidaten im Armenviertel aus.
Foto: mauritius images / Daniel Kempf-Seifried
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»Allen, die noch nie ein Ferrante-Buch gelesen haben, kann ich sagen: Lesen Sie dieses hier, erleben Sie, wie sie hineingezogen werden in eine Welt voller Geheimnisse und Dramen, im Neapel der Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts.« Christoph Amend ZEITmagazin-Newsletter 20200907