Das Hotel Metropol in Moskau ist seit der Oktoberrevolution 1917 Wohnsitz für hohe Beamte der sowjetischen Regierung. Auch Ljudmila Petruschewskajas Familie bolschewistischer Intellektueller wohnt dort. Nach ihrer Geburt 1938 verbringt sie in dessen Art-déco-Pracht ihre ersten Jahre, bis nahe Verwandte den Stalinschen Säuberungen zum Opfer fallen, verhaftet und hingerichtet werden. Als Kind von sogenannten Volksfeinden lebt sie fortan am Rande der Gesellschaft. Im Zweiten Weltkrieg wird die Familie evakuiert. Ljudmila hungert, schläft in Güterwaggons oder unter dem Tisch einer Gemeinschaftswohnung und besucht lange keine Schule. Von der Mutter verlassen, drängt es sie zu einem Leben in Freiheit. Wie Édith Piaf singt sie auf Höfen Lieder, erzählt Geschichten und spielt bettelnd Oliver Twist. In Ferienlagern und Kinderheimen erobert sie sich als Außenseiterin mit ihrem Naturtalent Respekt. Wie das Kind sich mit unbändiger Fantasie gegen die Welt zur Wehr setzt, darin liegen die Wurzeln für die Unangepasstheit der großen Schriftstellerin, die später so viele Menschen mit ihren Geschichten bezaubert.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.08.2019Lied vom Hunger in den Hinterhöfen
Die große russische Autorin Ljudmila Petruschewskaja erzählt von ihrer Kindheit in heute
unvorstellbar gewalttätigen Verhältnissen: „Das Mädchen vom Hotel Metropol“
VON CATHRIN KAHLWEIT
Das Hotel Metropol ist ein ehemaliges Art-Deco-Hotel, in dem internationale Wirtschaftsbosse und korrupte Oligarchen, aber auch nostalgiesüchtige Touristen gern absteigen, wenn sie in Moskau Station machen. Kürzlich war das Metropol, das in Blickweite des Kreml liegt, Bühne für einen Politthriller, der unter dem Namen „Moscopoli“ Furore machte: Ein Abgesandter des rechtspopulistischen italienischen Innenministers Matteo Salvini hatte dort mit unbekannten russischen Geldgebern darüber verhandelt, wie Moskau die Lega Nord verdeckt – und natürlich illegal – finanzieren könnte. Kein Ort wäre für dieses konspirative Treffen besser geeignet gewesen als das Metropol mit seiner großen und traurigen Geschichte.
Heute kostet ein Zimmer dort knapp 300 Euro pro Nacht, die Bäder sind in Marmor gehalten, die Einrichtung ist plüschig-samten, eine Mischung aus Stilmöbeln und schweren Sesseln. Als Ljudmila Petruschewskaja im Metropol aufwuchs, war das große Haus heruntergekommen, aufgeteilt in winzige Wohneinheiten, Herberge für hohe sowjetische Beamte und Regierungsmitglieder. Das Hotel war 1918, ein Jahr nach der Oktoberrevolution, verstaatlicht worden, die Zimmer fungierten als Wohnungsersatz für die Nomenklatura.
Der wunderbare Roman „Ein Gentleman in Moskau“ von Amor Towles, in dem der Autor den so eleganten wie feinsinnigen Grafen Rostov, der von den Bolschewiken zum lebenslangen Hausarrest im Metropol verurteilt worden war, bei seinem Niedergang beobachtet und begleitet, spielt in den 20ern in der berühmten Herberge.
Petruschewskaja ist 1938 geboren; ihre Urgroßvater wohnte aber schon seit 1921 im Metropol, und in ihren ersten Lebensmonaten durften Mutter und Kind beim Djedja, beim Uropa wohnen – so lange zumindest, bis gleich mehrere Familienmitglieder dem stalinistischen Terror zum Opfer fielen und die Familie kollektiv zu so genannten Volksfeinden wurde. Verbannt, ausgestoßen.
Das war auch Petruschewskajas Kinder-Schicksal: Sie wurde eine Ausgestoßene. Mit ähnlichen Worten stimmt die mittlerweile 81-jährige, in ihrer Heimat verehrte und geliebte Autorin, Malerin, Sängerin und Poetin die Leser auch auf ihre Memoiren ein: „In meinen Erzählungen, Romanen und Theaterstücken verleihe ich jenen Menschen eine Stimme, die im Abseits stehen und nicht gehört werden.“ Bis zum heutigen Tag, schreibt sie in ihren Erinnerungen, akzeptiere sie die humanistischen Prinzipien ihrer revolutionären Vorfahren. Aber sie hasse jede Ideologie und jede Gewalt.
Petruschewskaja hat nach einer Kindheit und Jugend, die nach heutigen Maßstäben unerträglich, unvorstellbar und gewalttätig war, eine für sowjetische Verhältnisse erstaunliche Karriere gemacht. Sie hat an der Lomonossov-Universität Journalismus studiert, für die berühmte Literatur-Zeitschrift Nowij Mir, für Fernsehen und Radio gearbeitet. Einer der beliebtesten Trickfilme des Landes, das „Märchen der Märchen“, stammt aus ihrer Feder, sie hat Theaterstücke und Drehbücher geschrieben, die in 30 Sprachen übersetzt wurden.
Dass ihre Arbeiten zeitweilig verboten waren, gehörte in der UdSSR der Siebziger und Achtziger unter Literaten fast zum guten Ton, Petruschewskaja hat sich davon nie beeindrucken lassen. Sie war und ist eine furchtlose Frau, die gut erzählt, gut zuhört, die sich gut und gern vermarktet. Wer je gesehen hat, wie die alte Dame, in bodenlangem Rock, mit breiter Hutkrempe und viel Schmuck behängt, Chansons singt oder Kabaretteinlagen aufführt, der stutzt, staunt, lacht – und bewundert sie. Chupze hat sie und Charme.
Gelernt ist gelernt: Auf den Hinterhöfen in der Verbannung sang und tanzte sie für einen Kanten Brot, weil es daheim nichts gab. Eine kleine, russische Edith Piaf sei sie gewesen, schreibt sie, und gebettelt habe sie wie Oliver Twist. Sie hat überlebt. Nach der Lektüre ihrer Memoiren fragt man sich, wie.
Teile der Familie, darunter der Djedja und die Mama, waren nach Kubyschew, heute wieder in Samara unbenannt, verschickt worden. Aber die Mama hielt es nicht lange dort. Sie hatte sich zum Studium nach Moskau beworben, die Volksfeinde unter ihren Angehörigen verschwiegen, war in einem luftigen Sommerkleid in einen Zug gestiegen – und jahrelang nicht wiedergekommen. Der Papa, ein Taugenichts, hatte sich kurz nach der Geburt davongemacht; er schickte manchmal etwas Geld.
„Mama hat mir einmal erzählt, dass sie die höhere Bildung meinetwegen brauchte“, endet das Kapitel, in dem Petruschewskaja in ihrem ganz eigenen, lakonischen, bisweilen sarkastischen und doch immer poetischen Ton vom traumatischen Verlust der Mutter schreibt. „Sonst hätte sie unsere Familie nicht ernähren können. Das ganze Leben hat sie sich mir gegenüber gerechtfertigt, die Arme.“ Die Härte in der Erinnerung richtet sich hier hörbar auch gegen die Autorin selbst. Gut möglich, dass sie sich nur so durchschlagen konnte.
Nach der abrupten Abreise der Mutter und auch nach der Rückkehr des Urgroßvaters nach Moskau blieb die kleine Ljudmila mit ein paar alten Tanten zurück. Man hungert gemeinsam, die Tanten kochten Kartoffelschalen aus und lagen ansonsten mit Hungerödemen im Bett.
Ljudmila wurde zum Kriegskind ohne Halt. Ging kurz in den Kindergarten, kurz zur Schule, aber dann war dafür kein Geld mehr da. Filzstiefel gab es nicht, an warme Kleider war nicht zu denken. Lief auch im Winter barfuß, und als sie auf der Jagd nach Brot in ein Teerbad fiel und ihre letzten Kleider nicht mehr benutzbar waren, band sie das Hemd zwischen den Beinen zusammen und ging ohne Höschen hinaus. Was sollte sie auch sonst tun? Sie machte sich über die Höfe davon, lebte auf der Straße. Verwilderte. „In dieser Welt der Straße gab es keine Zeit für Träume. Es gab nur Fliehen, Verstecken oder, wenn sie dich fingen, Geschrei und Prügelei.“
Sie habe Hunger ertragen können, schreibt Petruscheswakaj, aber Unfreiheit nicht. Irgendwann kam ihre Mutter zurück, holte sie ab. Sie fand ein Kind vor, dessen gesamte Schulbildung aus den Liedern bestand, die Ljudmila singen konnte, und den Gogol-Novellen, die ihr die alten Tanten erzählt hatten. Die Mutter schickte sie in Kinderheime, Erziehungsheime und Ferienheime, damals nichts Ungewöhnliches im sozialistischen Bildungssystem – im Kollektiv sollte sie lernen, und im Kollektiv sollte sie weniger hungern.
Aber das Kind, das auf der Straße aufgewachsen war, war weitgehend unbeschulbar. Das Mädchen schlug sich durch, auch mit Gewalt, entzog sich jedem Gruppenzwang, wurde aus jeder Gruppe hinausgedrängt, in die sie mit ihrem unbändigen Freiheitswillen nicht passte. Wie sollte es mit ihr weitergehen? „Erziehung ist ein Kampf unlösbarer Widersprüche“, schreibt sie. „Wenn man mich fragt, worüber ich in meinen Erzählungen und Stücken schreibe, antworte ich: über unlösbare Probleme. Im Prinzip sind die wirklichen Probleme alle unlösbar.
Wirkliche Probleme – das Kind Ljudmila löste sie mit unbändigem Überlebenswillen, und manchmal gab es Momente des Glücks. Einmal, als sie singend in den Höfen bettelte, schenkte ihr eine mitleidige Frau einen grünen Pullover. Was für eine Gabe, was für wertvolles Stück, was für eine Überwältigung. Sie ertrug die gute Tat kaum. „In diesen Hof bin ich nie wieder gegangen. Wir meiden die Orte, an denen es uns schlecht geht, heißt es bei Spinoza. Aber manchmal ist auch das Gegenteil der Fall: Manchmal kannst du das Gute nicht ertragen, das man Dir erwiesen hat.“
Manchmal ist auch die Lektüre dieser Memoiren nur zu ertragen, weil Petruschewskaja die bittersten Momente und Erfahrungen mit einer Lakonie erzählt, die keine großen Gefühle aufkommen lässt. Wie sie zurück in Moskau mit der Mutter in einer Komunalka, einer Gemeinschaftswohnung, lebte, in der sie sich selbst ein Bett bauten und die Nachbarn voller Missgunst noch die letzten Reste von Kultur und Menschlichkeit mitsamt dem Bett zerstörten. Wie sie beim Dedja unter dem Tisch schliefen, weil der Tisch als Dach immer noch besser war als gar kein Schutz, wie sie, ein Kind noch, nur knapp einer Gruppenvergewaltigung seelisch verhärteter Mitschüler entkam – alles das erzählt die erfahrene Autorin Ljudmila Petruschewskaja, als schreibe sie über eine andere. Sie baut gekonnt Cliffhanger an den Enden der jeweiligen Kapitel, baut Spannung auf, als habe sie das Drehbuch eines fremden, aufsehenerregenden Lebens verfasst.
Wie sie doch noch Karriere gemacht, eine eigene Stimme gefunden, sich ein Leben in einem System politischer Unterdrückung erobert hat? Mithilfe von anderen, die überlebt hatten wie sie. Kollegen, Kollektive, Freunde. „Sie waren meine Meister. Menschen der alten Schule mit stählernem Durchhaltevermögen.“
Ljudmila Petruschewskaja: Das Mädchen vom Hotel Metropol. Roman eine Kindheit. Aus dem Russischen von Antje Leetz. Schöffling & Co, Frankfurt 2019. 280 Seiten, 24 Euro.
Eine kleine, russische Édith Piaf
sei sie gewesen, und gebettelt
habe sie wie Oliver Twist
Sie hat doch noch eine eigene
Stimme gefunden, mithilfe von
anderen, die überlebt hatten
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbaut, war das Hotel Metropol in Moskau Unterkunft sowjetischer Beamter, nachdem die bolschewistische Führung die Stadt wieder zur Hauptstadt erklärt hatte. Ljudmila Petruschewskaja ist dort aufgewachsen.
Foto: De Agostini via Getty Images
Die Schriftstellerin Ljudmila Petruschewskaja lebt in Moskau.
Foto: imago / ITAR-TASS
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Die große russische Autorin Ljudmila Petruschewskaja erzählt von ihrer Kindheit in heute
unvorstellbar gewalttätigen Verhältnissen: „Das Mädchen vom Hotel Metropol“
VON CATHRIN KAHLWEIT
Das Hotel Metropol ist ein ehemaliges Art-Deco-Hotel, in dem internationale Wirtschaftsbosse und korrupte Oligarchen, aber auch nostalgiesüchtige Touristen gern absteigen, wenn sie in Moskau Station machen. Kürzlich war das Metropol, das in Blickweite des Kreml liegt, Bühne für einen Politthriller, der unter dem Namen „Moscopoli“ Furore machte: Ein Abgesandter des rechtspopulistischen italienischen Innenministers Matteo Salvini hatte dort mit unbekannten russischen Geldgebern darüber verhandelt, wie Moskau die Lega Nord verdeckt – und natürlich illegal – finanzieren könnte. Kein Ort wäre für dieses konspirative Treffen besser geeignet gewesen als das Metropol mit seiner großen und traurigen Geschichte.
Heute kostet ein Zimmer dort knapp 300 Euro pro Nacht, die Bäder sind in Marmor gehalten, die Einrichtung ist plüschig-samten, eine Mischung aus Stilmöbeln und schweren Sesseln. Als Ljudmila Petruschewskaja im Metropol aufwuchs, war das große Haus heruntergekommen, aufgeteilt in winzige Wohneinheiten, Herberge für hohe sowjetische Beamte und Regierungsmitglieder. Das Hotel war 1918, ein Jahr nach der Oktoberrevolution, verstaatlicht worden, die Zimmer fungierten als Wohnungsersatz für die Nomenklatura.
Der wunderbare Roman „Ein Gentleman in Moskau“ von Amor Towles, in dem der Autor den so eleganten wie feinsinnigen Grafen Rostov, der von den Bolschewiken zum lebenslangen Hausarrest im Metropol verurteilt worden war, bei seinem Niedergang beobachtet und begleitet, spielt in den 20ern in der berühmten Herberge.
Petruschewskaja ist 1938 geboren; ihre Urgroßvater wohnte aber schon seit 1921 im Metropol, und in ihren ersten Lebensmonaten durften Mutter und Kind beim Djedja, beim Uropa wohnen – so lange zumindest, bis gleich mehrere Familienmitglieder dem stalinistischen Terror zum Opfer fielen und die Familie kollektiv zu so genannten Volksfeinden wurde. Verbannt, ausgestoßen.
Das war auch Petruschewskajas Kinder-Schicksal: Sie wurde eine Ausgestoßene. Mit ähnlichen Worten stimmt die mittlerweile 81-jährige, in ihrer Heimat verehrte und geliebte Autorin, Malerin, Sängerin und Poetin die Leser auch auf ihre Memoiren ein: „In meinen Erzählungen, Romanen und Theaterstücken verleihe ich jenen Menschen eine Stimme, die im Abseits stehen und nicht gehört werden.“ Bis zum heutigen Tag, schreibt sie in ihren Erinnerungen, akzeptiere sie die humanistischen Prinzipien ihrer revolutionären Vorfahren. Aber sie hasse jede Ideologie und jede Gewalt.
Petruschewskaja hat nach einer Kindheit und Jugend, die nach heutigen Maßstäben unerträglich, unvorstellbar und gewalttätig war, eine für sowjetische Verhältnisse erstaunliche Karriere gemacht. Sie hat an der Lomonossov-Universität Journalismus studiert, für die berühmte Literatur-Zeitschrift Nowij Mir, für Fernsehen und Radio gearbeitet. Einer der beliebtesten Trickfilme des Landes, das „Märchen der Märchen“, stammt aus ihrer Feder, sie hat Theaterstücke und Drehbücher geschrieben, die in 30 Sprachen übersetzt wurden.
Dass ihre Arbeiten zeitweilig verboten waren, gehörte in der UdSSR der Siebziger und Achtziger unter Literaten fast zum guten Ton, Petruschewskaja hat sich davon nie beeindrucken lassen. Sie war und ist eine furchtlose Frau, die gut erzählt, gut zuhört, die sich gut und gern vermarktet. Wer je gesehen hat, wie die alte Dame, in bodenlangem Rock, mit breiter Hutkrempe und viel Schmuck behängt, Chansons singt oder Kabaretteinlagen aufführt, der stutzt, staunt, lacht – und bewundert sie. Chupze hat sie und Charme.
Gelernt ist gelernt: Auf den Hinterhöfen in der Verbannung sang und tanzte sie für einen Kanten Brot, weil es daheim nichts gab. Eine kleine, russische Edith Piaf sei sie gewesen, schreibt sie, und gebettelt habe sie wie Oliver Twist. Sie hat überlebt. Nach der Lektüre ihrer Memoiren fragt man sich, wie.
Teile der Familie, darunter der Djedja und die Mama, waren nach Kubyschew, heute wieder in Samara unbenannt, verschickt worden. Aber die Mama hielt es nicht lange dort. Sie hatte sich zum Studium nach Moskau beworben, die Volksfeinde unter ihren Angehörigen verschwiegen, war in einem luftigen Sommerkleid in einen Zug gestiegen – und jahrelang nicht wiedergekommen. Der Papa, ein Taugenichts, hatte sich kurz nach der Geburt davongemacht; er schickte manchmal etwas Geld.
„Mama hat mir einmal erzählt, dass sie die höhere Bildung meinetwegen brauchte“, endet das Kapitel, in dem Petruschewskaja in ihrem ganz eigenen, lakonischen, bisweilen sarkastischen und doch immer poetischen Ton vom traumatischen Verlust der Mutter schreibt. „Sonst hätte sie unsere Familie nicht ernähren können. Das ganze Leben hat sie sich mir gegenüber gerechtfertigt, die Arme.“ Die Härte in der Erinnerung richtet sich hier hörbar auch gegen die Autorin selbst. Gut möglich, dass sie sich nur so durchschlagen konnte.
Nach der abrupten Abreise der Mutter und auch nach der Rückkehr des Urgroßvaters nach Moskau blieb die kleine Ljudmila mit ein paar alten Tanten zurück. Man hungert gemeinsam, die Tanten kochten Kartoffelschalen aus und lagen ansonsten mit Hungerödemen im Bett.
Ljudmila wurde zum Kriegskind ohne Halt. Ging kurz in den Kindergarten, kurz zur Schule, aber dann war dafür kein Geld mehr da. Filzstiefel gab es nicht, an warme Kleider war nicht zu denken. Lief auch im Winter barfuß, und als sie auf der Jagd nach Brot in ein Teerbad fiel und ihre letzten Kleider nicht mehr benutzbar waren, band sie das Hemd zwischen den Beinen zusammen und ging ohne Höschen hinaus. Was sollte sie auch sonst tun? Sie machte sich über die Höfe davon, lebte auf der Straße. Verwilderte. „In dieser Welt der Straße gab es keine Zeit für Träume. Es gab nur Fliehen, Verstecken oder, wenn sie dich fingen, Geschrei und Prügelei.“
Sie habe Hunger ertragen können, schreibt Petruscheswakaj, aber Unfreiheit nicht. Irgendwann kam ihre Mutter zurück, holte sie ab. Sie fand ein Kind vor, dessen gesamte Schulbildung aus den Liedern bestand, die Ljudmila singen konnte, und den Gogol-Novellen, die ihr die alten Tanten erzählt hatten. Die Mutter schickte sie in Kinderheime, Erziehungsheime und Ferienheime, damals nichts Ungewöhnliches im sozialistischen Bildungssystem – im Kollektiv sollte sie lernen, und im Kollektiv sollte sie weniger hungern.
Aber das Kind, das auf der Straße aufgewachsen war, war weitgehend unbeschulbar. Das Mädchen schlug sich durch, auch mit Gewalt, entzog sich jedem Gruppenzwang, wurde aus jeder Gruppe hinausgedrängt, in die sie mit ihrem unbändigen Freiheitswillen nicht passte. Wie sollte es mit ihr weitergehen? „Erziehung ist ein Kampf unlösbarer Widersprüche“, schreibt sie. „Wenn man mich fragt, worüber ich in meinen Erzählungen und Stücken schreibe, antworte ich: über unlösbare Probleme. Im Prinzip sind die wirklichen Probleme alle unlösbar.
Wirkliche Probleme – das Kind Ljudmila löste sie mit unbändigem Überlebenswillen, und manchmal gab es Momente des Glücks. Einmal, als sie singend in den Höfen bettelte, schenkte ihr eine mitleidige Frau einen grünen Pullover. Was für eine Gabe, was für wertvolles Stück, was für eine Überwältigung. Sie ertrug die gute Tat kaum. „In diesen Hof bin ich nie wieder gegangen. Wir meiden die Orte, an denen es uns schlecht geht, heißt es bei Spinoza. Aber manchmal ist auch das Gegenteil der Fall: Manchmal kannst du das Gute nicht ertragen, das man Dir erwiesen hat.“
Manchmal ist auch die Lektüre dieser Memoiren nur zu ertragen, weil Petruschewskaja die bittersten Momente und Erfahrungen mit einer Lakonie erzählt, die keine großen Gefühle aufkommen lässt. Wie sie zurück in Moskau mit der Mutter in einer Komunalka, einer Gemeinschaftswohnung, lebte, in der sie sich selbst ein Bett bauten und die Nachbarn voller Missgunst noch die letzten Reste von Kultur und Menschlichkeit mitsamt dem Bett zerstörten. Wie sie beim Dedja unter dem Tisch schliefen, weil der Tisch als Dach immer noch besser war als gar kein Schutz, wie sie, ein Kind noch, nur knapp einer Gruppenvergewaltigung seelisch verhärteter Mitschüler entkam – alles das erzählt die erfahrene Autorin Ljudmila Petruschewskaja, als schreibe sie über eine andere. Sie baut gekonnt Cliffhanger an den Enden der jeweiligen Kapitel, baut Spannung auf, als habe sie das Drehbuch eines fremden, aufsehenerregenden Lebens verfasst.
Wie sie doch noch Karriere gemacht, eine eigene Stimme gefunden, sich ein Leben in einem System politischer Unterdrückung erobert hat? Mithilfe von anderen, die überlebt hatten wie sie. Kollegen, Kollektive, Freunde. „Sie waren meine Meister. Menschen der alten Schule mit stählernem Durchhaltevermögen.“
Ljudmila Petruschewskaja: Das Mädchen vom Hotel Metropol. Roman eine Kindheit. Aus dem Russischen von Antje Leetz. Schöffling & Co, Frankfurt 2019. 280 Seiten, 24 Euro.
Eine kleine, russische Édith Piaf
sei sie gewesen, und gebettelt
habe sie wie Oliver Twist
Sie hat doch noch eine eigene
Stimme gefunden, mithilfe von
anderen, die überlebt hatten
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbaut, war das Hotel Metropol in Moskau Unterkunft sowjetischer Beamter, nachdem die bolschewistische Führung die Stadt wieder zur Hauptstadt erklärt hatte. Ljudmila Petruschewskaja ist dort aufgewachsen.
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"Petruschewskajas sowjetische Erinnerungen funkeln in prägnanten, leuchtendbunten Szenen und schmieden aus dem Schmerz ihrer Generation kristallklare, lachende Prosa."
New York Times Book Review
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