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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Zum Fürchten: Siebzehn mysteriöse Kriminalstorys nach berühmten Werken
Wer nicht einschlafen kann, sollte eine der Kurzgeschichten in diesem Band lesen, um sich so mit Sicherheit wilde Träume einzuhandeln. Was die Einbildungskraft der darin versammelten Schriftsteller an exquisiten Phantasien zu berühmten Kunstwerken aufbietet, besitzt bemerkenswerte Klasse. Weil diese Storys ihre Vorlagen nehmen, um anschließend als literarische Kleinodien zu glänzen, kommt es gar nicht erst zu ambitionierten Bildbeschreibungen, die nur so vor Metaphern triefen. Sondern zu unerhörten Geschehnissen, als öffneten sich die Türen in die unsichtbare dritte Dimension hinter den Bildern. Deren Auswahl reicht von Hieronymus Bosch oder Katsushika Hokusai bis zu Jean Renoir oder Georgia O'Keeffe. Und immer geht es seltsam bis gewalttätig zu, mysteriös bis letal - stets mit stilistischer Eleganz.
Die Vorstellungskraft wird gekitzelt von schleichendem Horror, der Schrecken kommt auf Samtpfoten, und er krallt sich in die Seelen. Wie bei Joyce Carol Oates, die sich in die Kulisse von Balthus' Gemälde "Die schönen Tage" (das eigentlich im Smithsonian in Washington hängt) begibt. Ein elfjähriges Mädchen von der Upper East Side in New York, vernachlässigt von ihren Eltern, versinkt im Metropolitan Museum vor einem Bild in der Welt eines "Meisters", dessen Schloss "Le grand chalet des âmes perdues" irgendwo in Osteuropa liegt, hinter den Karpaten, einst die Heimat des Grafen Dracula, der aber gar nicht erwähnt wird. Ganz anders folgt Warren Moore, Autor und Anglistikprofessor, der Fährte, die Salvador Dalís "Der Apotheker von Ampurdan auf der Suche nach absolut nichts" (heute im Folkwang Museum in Essen) hinterlassen hat - oder eben haben könnte, in seiner Sehnsucht nach einer Frau, "deren Augen von der Farbe in der Wüste gefundenen Glases" waren.
Der Herausgeber von "Das Mädchen mit dem Fächer" - diesem Gemälde von Paul Gauguin (ebenfalls im Folkwang Museum), das dem Band den Titel gibt - widmet Nicholas Christopher seine Story - der amerikanische Schriftsteller Lawrence Block. Neben vielen Kurzgeschichten hat er mehr als fünfzig Bücher geschrieben, vor allem Kriminalromane. Sie haben ihm, unter anderen Ehrungen, den "Grand Master Award" eingebracht, die höchste Auszeichnung der "Mystery Writers of America". Von Block erschien 2017 auf Deutsch "Nighthawks", mit siebzehn Storys amerikanischer Autoren zu Gemälden von Edward Hopper. Jetzt legt er nach mit wieder siebzehn Kurzgeschichten, diesmal geht es um die Werke verschiedener Künstler. Ihnen nähern sich die Verfasser in ganz unterschiedlichem Duktus, den die Übersetzungen von Frauke Czwikla perfekt im Deutschen abbilden.
Die schiere Katastrophe der physischen Anverwandlung eines Künstlers wie auch seiner Psyche exerziert David Morrell, der Erfinder von "Rambo", in "Orange steht für Qual, Blau für Wahnsinn". Ausgehend von Van Goghs "Zypressen" (im Metropolitan Museum in New York), lässt er seinen Ich-Erzähler unter die Haut eines Malers namens Van Dorn kriechen, mit fatalen Konsequenzen. Schlimm treibt es auch Thomas Pluck; seine mystery story ist von Jean-Léon Gérômes Gemälde "Die Wahrheit kommt aus dem Brunnen" (im Musée Anne-de-Beaujeu in Moulins) inspiriert. Es beginnt harmlos; da ist eine Gruppe von Archäologen mit ihrer Ausgrabung im tiefsten Bayern beschäftigt. In einem Loch mit Abfall finden sich menschliche Relikte: "Die Schädel waren von geübter Hand aufgebrochen worden." Manches deutet auf Überreste eines Matriarchats hin, einer Muttergottheit womöglich. Die Wahrheit am Schluss übersteigt auch kühnste Erwartungen; das frühneuhochdeutsche Wort Blutrunst wird Gestalt.
Ans Ende hat Lawrence Block eine eigene Story gestellt, die sich an den David des Michelangelo in Florenz knüpft, sattsam sophistiziert und im wahrsten Sinne kaltblütig. Gepflegter Ennui bei der Betrachtung von Meisterwerken geht freilich anders. Ein sehr kultivierter Spaß ist der Band aber für alle, die Kunst schon immer für eine gefährliche Angelegenheit halten, in Bild und Schrift. Also für das Beste, was sie leisten kann - nicht nur gegen das Einschlafen.
ROSE-MARIA GROPP
Lawrence Block (Hrsg.): "Das Mädchen mit dem
Fächer". Stories nach
berühmten Kunstwerken.
Aus dem Englischen von Frauke Czwikla. Verlag Droemer Knaur, München 2018. 352 S., geb., 17 farb. Abb., 29,99 [Euro].
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