Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Michael Köhlmeiers Roman "Das Mädchen mit dem Fingerhut" macht aus dem Flüchtlingsthema eine höchst ambivalente Märchenparabel.
Zu den wichtigen Kunstgriffen des Erzählens gehört die Einstellung des Realienpegels, also die Sättigung eines Textes mit Informationen, empirischen Sachverhalten, Wer-wo-was-Wissen. Wird der Pegel hoch angesetzt, kommt Doku-Fiktion heraus, eine Reportage oder ein tatsachengesättigter Roman, der mit seiner realistischen Konkretion das Unwahrscheinlichste verbürgen kann - wie Michael Köhlmeiers Epos "Abendland". Wird er niedrig eingestellt, verflüchtigt sich das Erzählte aus den festen Koordinaten von Raum und Zeit, bekommt dadurch aber die Reize des Mythischen und Märchenhaften - wie Köhlmeiers neuer und sehr viel schmalerer Roman "Das Mädchen mit dem Fingerhut".
Es spricht für das hohe handwerkliche Können dieses Autors, dass er mit solchen Variationen zu arbeiten versteht und sich zudem nicht auf einen Stil festlegen lässt, sondern die Schreibweise den Erfordernissen anpasst: ein komplexer, elaborierter Satzbau in "Abendland", ein schlichter, zurückgenommener, andeutender Duktus in "Das Mädchen mit dem Fingerhut". Dass sich Michael Köhlmeier lange Jahre profiliert hat als saalfüllender Nacherzähler von Mythen und Märchen, ist da natürlich kein Nachteil.
Sechs Jahre alt ist das Mädchen, Yiza womöglich ihr Name. Geflohen oder zugewandert ist sie in eine vermutlich mitteleuropäische Stadt, mitten in einem kalten, schneereichen Winter. Ein "Onkel" schickt sie zum Betteln und holt sie abends ab. Und warnt sie vor dem Wort "Polizei". Fast alles in der ungewohnten Umgebung ist dem Mädchen fremd und kaum verständlich, sogar ein süßer Genuss, von dem Kinder sonst selten genug bekommen: "Sie mochte nicht, wie Schokolade roch, auch die Farbe mochte sie nicht, auch nicht, dass sie hart war wie ein Holz." Von welchem Stern voller Bitterstoffe ist dieses Mädchen auf die Erde gefallen?
Eines Abends kommt der "Onkel" nicht, und das Mädchen ist auf sich selbst angewiesen. Sie verläuft sich in der Stadt, wo sie die Sprache der Menschen nicht versteht, leidet Hunger, friert, und weil sie einmal beobachtet hat, wie Frauen "gute Sachen" aus einem Container gefischt haben, klettert sie bald in einen solchen Container, nährt und wärmt sich im Müll. Über Nacht schneit es. Schlafend wird sie am nächsten Tag im Windfang eines Kaffeehauses gefunden und erst zur Polizei, dann in ein Kinderheim gebracht, wo sie viel Zuwendung sprachlos und ungerührt über sich ergehen lässt. Trotzdem flieht sie bald aus dem Kinderheim, mit zwei halbwüchsigen Jungen, von denen einer, Arian, ihr einen Fingerhut schenkt, der zum Zeichen ihrer Verbundenheit wird.
Die Mechanismen des Mitleids sind ein Grundmotiv des kleinen Romans. Arian gewinnt beim Betteln in der U-Bahn die Erkenntnis, dass man mit stumm ausstreckten Händen wenig Geld bekommt, die Worte "Aspirin, bitte" aber zu einer erklecklichen Summe verhelfen. Ein niedliches sechsjähriges Mädchen ist eine Mitleidsfee, das Helferinstinkte zuverlässig auslöst; gerade deshalb wirkt Andersens Märchen vom erfrierenden kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern ja so erschütternd. Yiza ist eine durch Fieberfröste gehende Verwandte der Andersen-Figur. Weil sie zuverlässig Gefühle der Anteilnahme und Rührung triggert und überall zum "Liebling" wird, rückt das Mitleid aber auch ins Zwielicht. Was ist von einem moralischen Affekt zu halten, auf den Jugendliche wie Arian nicht mehr rechnen können, weil sie wegen üppig gewachsener Augenbrauen oder erstem Bartschatten auf den Wangen aus dem angeborenen Reiz-Reaktions-Schema fallen?
Weniger von den Geschichten unbegleiteter Flüchtlinge im heutigen Europa hat sich Michael Köhlmeier inspirieren lassen als von Berichten über die "Wolfskinder" am Ende des Zweiten Weltkriegs - Kriegswaisen, die sich in den von Flucht, Vertreibung und Hungersnot geprägten Gebieten des Ostens jahrelang allein durchschlugen, verwahrlosten und Banden bildeten. Zu solchen wölfisch-amoralischen Überlebenskämpfern entwickeln sich auch Yiza und die beiden Jungen. Sie klauen, betteln und brechen in Häuser ein, unter anderem in das eines Paares, das keine Kinder, aber ein Wohnzimmer voller Puppen hat. Diese Passagen werden nach einer Weile problematisch - weder sind die Kinder sonderlich sympathisch, noch kommt man ihnen durch Introspektion näher (Märchen sparen die Innenwelt der Figuren aus, setzen mehr auf Symbolik als auf Psychologie). Auch die Handlung gewinnt wenig Zug, sondern irrt mit den Kindern durch die kalten Tage, protokolliert ihre mal einfallsreichen, mal befremdlichen Versuche, trockene Plätze, Nahrung, Wärme und Schlaf zu finden und gelegentlich der Polizei zu entkommen.
Gegen Ende kommt aber doch Spannung auf. Yiza wird krank und von ihrem fürsorglichen Kumpan Arian getrennt. Sie landet, so ließe sich deuten, in der Villa einer Mitleidshexe, einer weiteren Repräsentantin der Welt des kinderlosen Wohlstands. Die Hexe sagt: "Meine Kleine, jetzt wird alles gut." Sie badet das Mädchen und beginnt einen forschen Willkommenskurs: "Heute schläfst du. Dann essen wir gemeinsam ... Dann ziehst du die neuen Sachen an ... Dann lernst du meine Sprache. Dann leben wir zusammen." Und: "Sag Oma zu mir ... Das ist leichter als Renate." Sie sperrt das Kind ein, mit besten Absichten, versteht sich. Nein, sie will es nicht fressen, es geht um symbolische Einverleibung. Aber dann kommt Arian zurück. Wie es sich für ein Märchen gehört, schlägt er die Mitleidshexe tot. Falls man doch eher zu einer realistischen Lesart geneigt ist, wird man denken: Unbegleitete Flüchtlingskinder sollte man auf keinen Fall unterschätzen. Wölfe sind gefährlich, Wolfskinder auch - eine "Horde von Zerlumpten, die bereits zu alt sind für Mitleid und Rührung".
Michael Köhlmeiers Märchenparabel läuft nicht auf eine einsinnige Moral hinaus, sondern betreibt ein hintergründiges Spiel mit den Ambivalenzen, die uns in Zeiten der Flüchtlingskrise alle beschäftigen und quälen. Es ist eine einfach erzählte Geschichte, man hat sie schnell gelesen, aber sie gibt lange zu denken.
WOLFGANG SCHNEIDER
Michael Köhlmeier:
"Das Mädchen mit dem
Fingerhut". Roman.
Hanser Verlag, München 2016. 140 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Michael Köhlmeiers jüngster Roman 'Das Mädchen mit dem Fingerhut' trifft den Kern dessen, was als 'Flüchtlingskrise' die Debatten antreibt. Er ist das Buch der Stunde, ohne mit der vordergründigen Brisanz des Themas zu flirten. ... Er verleiht seiner Geschichte archaische Wucht und zugleich die dunkle Zartheit eines Märchens." Gerhard Melzer, Neue Zürcher Zeitung, 21.05.16
"Das Staccato von Michael Köhlmeiers Prosa geht unter die Haut. Sein Roman ist ein gehetztes Stück Literatur, auf das Wesentliche konzentriert." Susanne Schaber, Die Presse, 19.03.16
"Ein wunderbarer Text, eine wunderbare Geschichte." Luzia Braun, ZDF Das blaue Sofa, 18.03.16
"Michael Köhlmeiers Märchenparabel betreibt ein hintergründiges Spiel mit den Ambivalenzen, die uns in Zeiten der Flüchtlingskrise alle beschäftigen und quälen. Es ist eine einfach erzählte Geschichte, man hat sie schnell gelesen, aber sie gibt lange zu denken." Wolfgang Schneider, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.03.16
"Köhlmeier hat eine so spannende wie brisante Geschichte geschrieben." Thomas Borchert, Eßlinger Zeitung, 12.03.16
"Er hat ein Gespür für die Urkräfte des Erzählens, die aus der Stille kommen und zeitlos wirken." Insa Wilke, Süddeutsche Zeitung, 08.03.16
"Handwerklich ein kleines Meisterstück, wie immer bei diesem begnadeten Schriftsteller." Antje Weber, Süddeutsche Zeitung, 25.02.16
"Atmosphärisch dicht beschreibt Köhlmeier in seinem Roman ein Leben am Rande der Gesellschaft. ... Eine ganz leise Geschichte. ... Voller Schönheit und Poesie wird hier der unbezwingbare Überlebenswille von Kindern beschrieben. Eine ganz berührende Geschichte." Annemarie Stoltenberg, NDR Kultur, 16.02.16
"Die großen Leerstellen, die Michael Köhlmeier lässt, die Sog- und Songhaftigkeit des Textes, sind die große Stärke dieses ungewöhnlichen Romans. Er passt in unsere Zeit und formuliert sehr deutlich, was es heißt, in einer Welt vollkommen fremd zu sein." Martina Kothe, NDR Kultur, 06.02.16
"Michael Köhlmeiers 'Das Mädchen mit dem Fingerhut' ist ein Roman über Liebe, Verwahrlosung und das Böse. Es ist eine Parabel über die Schwierigkeit, das Gute zu wollen und es auch zu tun. Ein Text, den man nicht vergisst." Verena Auffermann, Deutschlandradio Kultur, 04.02.16
"Berührend wie Charles Dickens. ... Man merkt, dass man in den Händen eines erstklassigen Erzählers ist. ... Ein starker Text." Denis Scheck, ARD Druckfrisch, 24.01.16