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Unter den wichtigen Gegenwartsautoren ist er einer der stillsten. Jetzt hat der Österreicher seinen fünften Roman geschrieben. Und spätestens jetzt sollte man Paulus Hochgatterer lesen.
Von Felicitas von Lovenberg
Es ist alles da - aber man sieht es nicht gleich. Es wird alles gesagt - aber nicht ausgesprochen. Niemand ist unversehrt - aber manche Risse offenbart erst die Zeit. Ein Kommissar, dem die Liebe zum Sternenhimmel und zur fischvollen Ruhe des Sees vertrauter ist als die zu seiner Freundin Marlene; ein Psychiater, den seine Patienten in der Klinik weniger beunruhigen als zu Hause sein Sohn und seine leidenschaftlich musizierende Frau; eine Lehrerin, die ein Verhältnis mit einem verhaltensauffälligen Benediktinermönch hat, und ein Mädchen, das in einem Haus lebt, in dem extrem verstörende Dinge vor sich gehen: willkommen in der Welt des Paulus Hochgatterer.
Obwohl der achtundvierzigjährige österreichische Schriftsteller jetzt mit "Das Matratzenhaus" bereits seinen fünften Roman vorlegt und auch schon mit zahlreichen Preisen bedacht wurde, ist Hochgatterer hierzulande noch immer ein allzu wenigen Lesern bekannter Autor. Vielleicht liegt es daran, dass man seine Werke zwar leicht lesen, aber schwer vergessen kann, denn wenn sie enden, sind die beunruhigenden Geschichten, die sie erzählen, keineswegs vorbei. Möglicherweise hängt es aber auch damit zusammen, dass Hochgatterer, der als vielbeschäftigter Kinderpsychologe in Wien lebt, kaum Zeit hat für Interviews, Auftritte und wochenlange Lesereisen, mithin ohne die öffentlichen Insignien einer heutigen Schriftstellerexistenz auskommt.
Im Zentrum von Hochgatteres Werk stehen Menschen, häufig Jugendliche, deren Verhalten keiner Norm gehorcht, sondern die Grenzen des Erwartbaren, oft auch des Verträglichen überschreitet - auch, wenn Hochgatterer selbst das nie so plump und selbstgewiss ausdrücken würde. Für diesen Autor ist die sogenannte Normalität nur eine Behauptung. Denn die Menschen verraten sich auch und gerade in ihrem Bemühen um Anpassung.
Sein neuer Roman ist eine Rückkehr. Nicht nur den Psychiater Raffael Horn und den Kommissar Ludwig Kovacs, sondern auch die fiktive niederösterreichische Kleinstadt Furth am See kennen Hochgatterer-Leser bereits aus seinem letzten Roman, "Die Süße des Lebens" (2006). Doch während der Autor damals noch eine Kriminalgeschichte erzählen wollte, ist "Das Matratzenhaus" allenfalls ein Roman, der kriminalistische Züge trägt - und es bleibt dem Detektiv im Leser überlassen, das Puzzle zusammenzusetzen. Aber nicht nur in Gestalt zweier Haupt- und einiger Nebenfiguren schließt "Das Matratzenhaus" an "Die Süße des Lebens" an, sondern auch in der Struktur. Erneut wird der Roman aus der kapitelweise wechselnden Sicht von vier Protagonisten erzählt. Psychiater Horn und Kommissar Kovacs arbeiten, jeder auf seinem Gebiet, an einem rätselhaften Fall: Mehrere Kinder sind misshandelt worden, können oder dürfen aber nicht sagen, wer sie geschlagen hat. Einer spricht von der "Schwarzen Glocke" - und wer da an ein priesterliches Habit denkt, liegt bei Paulus Hochgatterer, der sich auch mit religiösem Wahn auskennt, zwar nicht ganz falsch, ist aber trotzdem auf dem Holzweg. Doch es geschehen noch mehr Dinge: Ein junger Mann stirbt bei einem Sturz vom Gerüst; ein anderer versucht, sich aufzuhängen; eine Sechzehnjährige hat sich so viele Schnitte zugefügt, dass ihr ganzer Körper mit Narben bedeckt ist. Später wird jemand einen Kindergarten verwüsten und einen Wagen in das Schaufenster eines Spielzeuggeschäfts fahren. In Furth möchte man nicht jung sein.
Das erlebt auch die Lehrerin Stella, die sich um die Kinder in ihrer Klasse mindestens so viele Gedanken macht wie um ihre Beziehung zu Bruder Joseph Bauer, der den Religionsunterricht erteilt, manisch mit dem iPod "His Holy Bobness" Dylan hört und sich auch von ihr eine eine Art der Rettung erhofft: "Er sagt ab und zu, dass die Vertreibung des Wahnsinns total einfach sei, er müsse sie nur von oben bis unten spüren, möglichst viele Quadratzentimeter Körperkontakt." Und dann ist da noch das dreizehnjährige indische Mädchen, das sich für japanische Kampfmesser interessiert, seine Adoptivmutter bei sich nur "die Verrückte" nennt und den Vater nur "ihn" und "er". Eine Weile hat sie eine jüngere Schwester, die ebenfalls adoptiert ist. Als sie von einem Sprachkurs zurückkehrt und die Jüngere fort ist, heißt es, man habe sie zurückgeschickt, es sei nicht mehr gegangen. So wird es auch der Lehrerin und dem Psychiater mitgeteilt.
Während die Horn und Kovacs gehörenden Passagen im Präteritum, gleichsam musternd zurückgelehnt erzählt sind, spielen jene der Lehrerin und des Mädchens in der Gegenwart. Hier steht die Unmittelbarkeit des Erlebten und Gedachten im Vordergrund, während der Psychiater und der Kommissar starke Beobachter ihrer Mitmenschen sind - und dennoch aufgrund ihres Hanges, Situationen und Menschen einzuordnen, bisweilen Wesentliches verpassen. Es sind diese Feinheiten der Erzählweise, die Hochgatterers Literatur so ungewöhnlich machen. Der Autor enthält sich jeglichen Urteils. Ausnahmslos alles wird aus der Perspektive der Figuren mitgeteilt - und die ist zwangsläufig parteiisch, eigensinnig, getrübt. Ob die Lehrerin, der Psychiater oder der Kommissar - von ihren eigenen Problemen und Unzulänglichkeiten ganz zu schweigen, haben sie alle beruflich ständig mit Menschen zu tun, die etwas vor ihnen zu verbergen suchen. Auch das Mädchen entdeckt ein Geheimnis.
Was so entsteht, in vier Einzelporträts vor gemeinsamem Hintergrund, ist das Bild einer Gesellschaft, in der sich die Probleme berühren, aber der Einzelne meist zu beschäftigt ist, es zu merken. Und je näher sich die Figuren kommen und die Hinweise mehren, desto unschärfer wird zugleich das Bild des Verbrechens, um das sie alle kreisen - und mit dem sie nach dem letzten Kapitel vielleicht überhaupt nur werden umgehen können, weil jeder von ihnen ein Liebender ist. Auch wenn keine der Beziehungen leicht oder gar unbeschwert wäre, so ist es doch die Verankerung, die jeden Einzelnen vor dem Durchdrehen bewahrt. Was geschehen kann, wenn dieser Halt wegbricht - wie bei dem Mädchen, das seine Schwester verliert, dem Mann, dem seine Frau vor elf Jahren durch einen Unfall effektiv genommen wurde, oder auch Horns Sohn Tobias, der seinen ausgezogenen großen Bruder vermisst und sich in unbemerktem Maße um die kranke Familienkatze sorgt -, wäre mit dem Begriff Übersprungshandlung nur unzureichend beschrieben. Es sind die unscheinbaren, kleinen Dinge, die die Personen miteinander verbinden, flüchtige Bekanntschaft, die Landschaft am See, ein Faible für die Farbe Gelb, Liebe zur Musik.
Es gibt viele Ebenen, auf denen sich dieser ungemein dichte, sorgfältig komponierte Roman lesen lässt, und die der Handlung ist noch die schlichteste davon. Am Ende bleibt manches rätselhaft, was sich bei erneuter, vorgewarnter Lektüre indes sofort erschließt. Aber Hochgatterer geht es nicht um die Lösung eines Falls, weder medizinisch noch kriminalistisch. Was sein Werk vermittelt, ist ein geschärftes Bewusstsein dafür, wie fragil die Scharniere sind, die das Innerste im Zaum halten. Und das beunruhigende Gefühl, dass es nicht an Zeichen fehlt, sondern an der Fähigkeit, sie auch zu sehen.
Paulus Hochgatterer: "Das Matratzenhaus". Roman. Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, Wien 2010. 294 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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"Er ist der David Lynch unter den deutschsprachigen Erzählern." Hubert Winkels, 3sat Kulturzeit, 23.02.10
"Es gibt viele Ebenen, auf denen sich dieser ungemein dichte, sorgfältig komponierte Roman lesen lässt... Was sein Werk vermittelt, ist ein geschärftes Bewusstsein dafür, wie fragil die Scharniere sind, die das Innerste in Zaum halten. Spätestens jetzt sollte man Paulus Hochgatterer lesen." Felicitas von Lovenberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.02.10