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Die Provinz taugt noch immer nicht zur Idylle: Marie Darrieussecq beschreibt in "Das Meer von unten" anschaulich Mittellebens-Tristesse.
Von Niklas Bender
Marie Darrieussecq hat die Gabe, beiläufig Kontinuitäten herzustellen. "Das Meer von unten" führt mehrere Vorgänger fort, und es überrascht, wie der Roman es tut. Der Leser kennt Rose Goyenetche aus "Prinzessinnen": Dort ist sie die beste Freundin der Hauptfigur Solange, die im baskischen Dorf Clèves sexuell erwacht; im aktuellen Roman rückt Rose ins Zentrum, als Pariser Psychologin, Ehefrau und Mutter in einer handfesten Existenzkrise. Aus dem dystopischen Roman "Unser Leben in den Wäldern" schwappen Szenen von staatlicher Verfolgung und Marginalität ins neue Werk herüber. Diese Kontinuitäten sind alles andere als nebensächlich.
Doch zunächst zu Rose, deren Leben "ihrem etwas altmodischen Vornamen" nicht recht entspricht: In vier Abschnitten wird eine Umbruchzeit erzählt. Der Roman setzt mit einer weihnachtlichen Mittelmeerkreuzfahrt ein, die Rose mit ihren Kindern Gabriel, fünfzehn, und Emma, sieben, unternimmt: Sie verspricht sich Erholung, ihre Ehe ist angeschlagen; ihr Mann Christian, das lebende Oxymoron eines altruistischen Immobilienmaklers, hat ein Alkoholproblem. Die Besatzung des Kreuzfahrtschiffs fischt 150 Migranten aus dem Meer, unter ihnen Younès Aboussa, dem Rose Kleider und das Mobiltelefon ihres Sohnes gibt; fortan bleiben sie in Verbindung. Der zweite Abschnitt berichtet die letzten Monate in Paris: Roses Familie zieht aus der dortigen Dreizimmerwohnung in ein Haus in Clèves um, Christians und Roses Heimatort. In Abschnitt drei holt Rose Younès aus Calais ab, wo er sich beim Versuch, auf einen Laster nach England zu gelangen, verletzt hat. Der vierte Abschnitt schildert Younès' Pflege und das gemeinsame Leben in Clèves sowie die Rückfahrt nach Calais; ein Ausblick auf die Zukunft der Familie bildet den Epilog.
Die Handlung ist überschaubar, der Roman zeichnet vor allem das Psychogramm einer Midlife-Crisis: "Sie betrachtet ihren dösenden Mann, seine vom Alkohol verdeckte Schlaflosigkeit. Mit zwanzig hätte sie das nicht ausgehalten. Mit dreißig auch nicht, mit vierzig wollte sie alles hinter sich lassen, jetzt ist sie fünfundvierzig und hat Paris hinter sich gelassen und das ist ihr Leben." Der frankreichtypische Gegensatz zwischen Hauptstadt und Provinz liefert die Grundstruktur: Der Umzug aufs Land soll mehr Platz, weniger Stress und ein besseres Schulumfeld bringen (sprich einen Schulranzen ohne Fäkalien für die Kleine). Und er soll den Verfall einer bröckelnden Ehe aufhalten.
Wir wissen es seit "Madame Bovary": Die Provinz taugt nicht zur Idylle. Zwar sind die Basken heute "weniger maulfaul, weniger rustikal" und Clèves mit 3000 Einwohnern kein Dorf mehr, aber das Setting bedrückt dennoch. Mit Rose trifft der Leser Charaktere aus "Prinzessinnen" wieder, die gealtert sind - selten zu ihrem Vorteil. Arnaud, einst für Solanges sexuelle Initiation zuständig, ist nun "voller Falten, dürr, rot und glänzend". Er arbeitet nicht mehr als Feuerwehrmann, sondern als "Beschwörer" und trinkt mit Christian um die Wette. Ein weiteres Beispiel ist Physiotherapeutin Nathalie, mit der Rose sich überwirft, als sie ihr "Wischiwaschi-Toleranz" gegenüber Younès vorwirft. Beruflich hapert es, die Leute vertrauen auf "Knochenklempner, Hellseherinnen, Heiler, Zauberer, Hexen", nicht auf Psychologen; Christian plagt sich ebenfalls. Und trinkt: "Manchmal findet sie ihn schlafend auf dem Klo, dann zieht sie ihn aus und steckt ihn ins Bett. Manchmal wacht er halb auf und legt sich auf sie, dann entsteht eine Art Minimalkontakt in der Ehenacht. Sie ist so nett, ihn gewähren zu lassen, und vielleicht ist es seinerseits auch eine Nettigkeit." Kurz, "das ursprüngliche Gefühl: Man muss hier weg" ist wieder da.
In diese Mittellebens- und Mittelschicht-Tristesse trägt der Migrant Younès einen Funken Lebendigkeit, der das Zeug zur Initialzündung hat. Der Jugendliche zeigt bedingungsloses Vertrauen in Rose und ihre heilenden Hände; mit wechselndem Glück und begrenztem Geschick verfolgt er den Traum von einem besseren Leben in England. Und Rose lernt von Younès - ja, was eigentlich? Nichts Weltbewegendes, vielleicht das Ausscheren aus dem Funktionieren, die kleine Illegalität. Beruflich startet sie durch, als sie Handauflegen in ihr Therapiekonzept übernimmt.
Darrieussecq gelingt es, die enttäuschten Träume einprägsam zu fassen. Dabei verliert sie selten die ironische Distanz zur ihrer gutmenschelnden, aber liebenswürdigen Heldin - ein zentraler Unterschied zu "Man muss die Männer sehr lieben", wo die Schilderung von Solanges Star-Leben in Hollywood durch deren Barbie-Brille blickt. Rose hingegen tapert mutig, tollpatschig und höflich durchs Leben. Man muss über sie lachen, wenn sie sich während der Christmette Cocktails hinter die Binde gießt und dem einen oder anderen Seitensprung leicht torkelnd ausweicht. Ihre menschlichen Grenzen sieht man ohne Hohn und Bitterkeit.
Der Humor hilft: "Passagiere, alle im Greisenalter, verteilten sich schleppend wie arthritische Hummer über das ganze Schiff", heißt es über die Kreuzfahrt. Und ein Sinn für das Poetische: Rose spürt dem Unendlichen nach, sei es "das unermessliche, gleichgültige Meer", das sich im Schiff unter ihr erstreckt, sei es das nächtliche Weltall: "Das Haus dreht sich um sie herum, die Renovierungsarbeiten sind beendet. Dreht sich langsam mit der noch schwärzeren Masse der Bäume in der leeren Nacht." Bestechend ist schließlich ein Genrebild, das der letzten Tankstelle vor dem Kanaltunnel, wo Migranten versuchen, auf Laster zu springen. Nachts sieht Rose die Kassiererin: "Eine flämisch-blonde Erscheinung im Schaufenster. Eingerahmt vom Tresen und von den Verkaufsständern, über ihre Kasse gebeugt, hat sie die konzentrierte, fast schon erhabene Anmutung der Magd über ihrem Milchkrug, der Spitzenklöpplerin an ihrem Arbeitstisch, des Astronoms (!) über seinem Globus." Damit kontrastieren realistische Szenen und historische Bezüge wie die Migrationskrise, der Untergang der Costa Concordia und der Anschlag auf den RER B; sie werden neu sortiert, rufen aber die jüngere Vergangenheit auf.
Zweimal wurde Darrieussecq der Vorwurf gemacht, abgeschrieben zu haben: Marie NDiaye hat ihr "Nachäfferei" vorgeworfen, Camille Laurens "psychisches Plagiat". Der Clèves-Zyklus - denn der zeichnet sich nach und nach ab - beweist, dass Darrieussecq ihrer stilistischen Wandelbarkeit zum Trotz ein ureigenes Universum baut. "Das Meer von unten" zeigt es von seiner überzeugenden Seite. Man darf gespannt sein, wie es weitergeht: "Fabriquer une femme" (Eine Frau herstellen), im Januar in Frankreich erschienen, bietet ein Wiedersehen mit Solange und Rose.
Marie Darrieussecq: "Das Meer von unten".
Roman.
Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Secession Verlag, Berlin 2024. 186 S., geb., 25,- Euro.
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