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Die deutsche Erinnerungskultur befindet sich in einer Epochenwende: Nationalsozialismus und Holocaust liegen mehr als sechzig Jahre zurück und die junge Generation sieht sich mit neuen Herausforderungen wie Globalisierung und Klimawandel konfrontiert. Ein historischer Diskurs, der nur auf die Dämonisierung des Bösen setzt, verfehlt sein Ziel: Orientierung für unsere Gegenwart zu bieten, um eine Basis für zukünftiges Handeln zu schaffen. Trotz der großen Erfolge der historischen Bildung braucht die Erinnerungskultur eine Modernisierung, denn nur eine gründliche Renovierung in thematischer wie…mehr

Produktbeschreibung
Die deutsche Erinnerungskultur befindet sich in einer Epochenwende: Nationalsozialismus und Holocaust liegen mehr als sechzig Jahre zurück und die junge Generation sieht sich mit neuen Herausforderungen wie Globalisierung und Klimawandel konfrontiert. Ein historischer Diskurs, der nur auf die Dämonisierung des Bösen setzt, verfehlt sein Ziel: Orientierung für unsere Gegenwart zu bieten, um eine Basis für zukünftiges Handeln zu schaffen. Trotz der großen Erfolge der historischen Bildung braucht die Erinnerungskultur eine Modernisierung, denn nur eine gründliche Renovierung in thematischer wie vermittelnder Hinsicht macht sie zeitgemäß - als produktive Instanz politischer und historischer Bildung für die Demokratie des 21. Jahrhunderts. Dana Giesecke und Harald Welzer entwickeln erstmals einen Ausstellungsort neuen Typs: das Haus der menschlichen Möglichkeiten. Es lädt zur aktiven Aneignung sowohl der negativen als auch der positiven Potenziale des Menschen ein und eröffnet mögliche Antworten auf eine Kernfrage unserer Gegenwart: Wie lässt sich das heute erreichte zivilisatorische Niveau gegen künftige Gefährdungen sichern?
Autorenporträt
Dana Giesecke ist wissenschaftliche Leiterin von FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit. Sie ist Diplom-Soziologin und Master of Science Communication and Marketing; von 2005 bis 2011 leitete sie die Geschäftsstelle der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Harald Welzer ist Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research in Essen, Professor für Transformationsdesign und -vermittlung an der Universität Flensburg sowie Geschaftsführender Vorstand von FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Hermann Theissen bespricht zwei Bücher, die sich mit der deutschen Geschichte befassen: Peter Steinbachs "Geschichte im politischen Kampf" und "Das Menschenmögliche" von Dana Giesecke und Harald Welzer. Giesecke und Welzer durchleuchten in ihrem Buch kritisch die deutsche Erinnerungskultur, berichtet Theissen, der von der Art und Weise, wie die Soziologin und der Sozialpsychologe vorgehen, sehr angetan ist. Die Autoren argumentieren, viele Diskussionen seien sehr wichtig gewesen, um die Ignoranz gegenüber den Leiden der Opfer zu beenden. Der Umstand, dass inzwischen kaum noch jemand den nationalsozialistischen Terror leugne, verändere aber die Ansprüche an eine Erinnerungskultur und fordere ihre Renovierung, fasst der Rezensent zusammen. Wenn der Nationalsozialismus nicht als erratisches Ereignis sondern als soziale Möglichkeit begriffen werde, die unter bestimmten Umständen "von einer Gesellschaft gewählt wurde", müsse sich die Erinnerungspolitik vom Pathos befreien und sich konkret mit den Voraussetzungen menschlichen Handelns befassen, wenn sie wirklich präventiv sein wolle.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.10.2012

Politische Rhetorik
und hohle Floskeln
Wie sollen die Deutschen mit ihrer Geschichte umgehen?
Ein Rückblick und ein paar vernünftige Vorschläge
VON HERMANN THEISSEN
In seiner Studie über Geschichtsrhetorik in der Politik zeigt Peter Steinbach, dass historische Bezugnahmen in der politischen Auseinandersetzung nur im Ausnahmefall zur Wahrheitsfindung beitragen. Historische Argumente befeuern vor allem Stimmungen, appellieren an Gefühle und zielen auf moralische Legitimierung politischer Entscheidungen.
  Der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand hat die Konjunkturen historisierender Rhetorik in der Politik und politische Interventionen von Historikern material- und kenntnisreich dargestellt. Er hat auf die problematische Produktion von Geschichtsbildern in den Medien verwiesen und Franz Schnabels Aufgabenbestimmung des Historikers als „großer Zerstörer“ unterstützt, der aufgerufen sei, Urteile und Bewertungen immer neu infrage zu stellen.
  Wirklich spannend wird die kleine Schrift aber erst, wenn sie auf die Achtzigerjahre zu sprechen kommt, die Steinbach als Höhepunkt und Scheitern gouvernementaler Geschichtspolitik im Nachkriegsdeutschland beschreibt. 1986 hatte Michael Stürmer, Lieblingshistoriker des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, verkündet, dass die Zukunft nur gewinne, „wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet“.
  Ganz im Sinn dieses Programms hatte Helmut Kohl versucht, die von ihm propagierte „geistig-moralische Wende“ mit geschichtspolitischen Initiativen zu unterfüttern. Dazu gehörten die großen Museums- und Ausstellungspläne, dazu gehörten aber vor allem Bemühungen, Gedenktage politisch zu instrumentalisieren und die Deutung der Vergangenheit zur Regierungsaufgabe zu machen. Als Höhepunkt dieses Projekts sollte vierzig Jahre nach Kriegsende die Formierung der „selbstbewussten Nation“ abgeschlossen und durch eine symbolische „Versöhnung über die Gräber hinweg“ besiegelt werden. Bekanntlich ist dieser auf Relativierung zielende Versuch auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg grandios und vor den Augen der Welt gescheitert.
  Die Tatsache, dass in dem Eifelstädtchen auch Angehörige der Waffen-SS beerdigt sind, belebte die Diskussion über „Opfer und Täter“ und beförderte die gesellschaftliche Verständigung darüber, dass die gesamte Zeit des Nationalsozialismus „nur unter Bezug auf die langfristig geplante und zielstrebig industriemäßig betriebene Ermordung der Juden Europas bewertet werden konnte“. Die jahrelange Diskussion führte schließlich dazu, dass mittlerweile auch die Deserteure der Wehrmacht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt sind.
  Auch Dana Giesecke und Harald Welzer stellen in ihrem Plädoyer für die „Renovierung der deutschen Erinnerungskultur“ fest, dass „der erinnerungspolitisch größte Skandal der Nachkriegsgeschichte“, nämlich die Ignoranz gegenüber den Leiden der Opfer, heute nicht mehr bestehe. Es habe Jahrzehnte gedauert, aber heute sei die Massenvernichtung zentraler und nicht bezweifelter Bestandteil der deutschen „Erinnerungskultur“, was diese wiederum zum Auslaufmodell gemacht habe.
  Da niemand mehr den nationalsozialistischen Terror leugne, sei das „Pathos der erinnerungskulturellen“ Floskeln, die ihren Höhepunkt in der „gegenstandslos gewordenen Behauptung“ fänden, man müsse „gegen das Vergessen“ ankämpfen, inzwischen „abgestanden“.
  Giesecke und Welzer disqualifizieren die „historisch entkernte Frömmigkeit“ des Gedenkens, wie der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, es nennt, als „Diktatur der Vergangenheit“, die Lernprozesse eher behindere als befördere. Ihr setzen sie die Forderung nach konsequenter Historisierung des Nationalsozialismus entgegen, was auch impliziert, dass der Holocaust nicht mehr als „erratisches Geschichtsereignis“, als ein mit nichts vergleichbarer Ausdruck des „absoluten Bösen“ enthistorisiert werden solle. Stattdessen müsse er „als eine soziale Möglichkeit“ gesehen werden, „die unter spezifischen Bedingungen von einer Gesellschaft gewählt wurde“. Doch komme man, so die Autoren, mit der zur Liturgie ausgedünnten Formel der pathetisch aufgeladenen Erinnerung schon deshalb nicht mehr weiter, weil sie jungen Leuten nicht mehr viel sagt.
  Das ist kein Geschichtsrevisionismus, ist es schon deshalb nicht, weil Giesecke und Welzer die Auseinandersetzung mit Revisionsversuchen und den langen Kampf um die Anerkennung der Opfer zum Bestandteil ihres Erinnerungsprogramms machen. In ihrem Vorschlag werden der Nationalsozialismus und dessen kommunikative Bearbeitung zu Lernfeldern für die Auseinandersetzung mit einer tödlich radikalisierten Ausgrenzungsgesellschaft. Eine solche Umjustierung der Erinnerung würde nicht mehr das monumentale Grauen der Vernichtungslager ins Zentrum der Auseinandersetzung setzen, „sondern das unspektakuläre, alltäglichere Bild einer Gesellschaft, die zunehmend verbrecherisch wird oder, genauer gesagt, normativ umcodiert, was als erwünscht und verwerflich, gut und schlecht, ordnungsgemäß oder kriminell gilt“.
  Für die Gedenkstätten folgert aus all dem, dass sie eine neue Vorstellung ihrer Besucher entwickeln müssen: Nicht mehr als passive Rezipienten, die ergriffen sein sollen, sondern als mehr oder weniger aufgeklärte Zeitgenossen müssen sie gesehen werden, die ihre Vorstellungsbilder und ihr Vorwissen überprüfen und modifizieren wollen. Der geforderte Perspektivenwechsel bedeutet auch, dass die Beteiligung an der nationalsozialistischen Gewalt nicht allein als moralisch empörendes Verhalten simplifiziert werden darf, sondern gezeigt werden muss, dass sich die Täter, Helfer, Zuschauer und Wegschauer in Übereinstimmung mit dem normativen System der NS-Gesellschaft wussten.
  Mit Blick auf die Zukunft und im Sinne von Prävention, wäre es somit ungemein wichtig, Biografien und Lebensumstände von Menschen zu präsentieren, die sich ihr sittliches Unterscheidungsvermögen erhalten konnten, ihre Handlungsspielräume erkannten und gegen das System und seinen Terror nutzten.
  Diese Erkenntnis führt unmittelbar zu dem Vorschlag, in den Giesecke und Welzer ihre Kritik der Erinnerungskultur münden lassen. Die Soziologin und der Sozialpsychologe, die gemeinsam auch das Projekt „FUTURZWEI – Stiftung Zukunftsfähigkeit“ betreiben, wollen „Geschichte als Potenzial“ erfahrbar machen und fordern deshalb „Ein Haus der menschlichen Möglichkeiten“. Ein Haus, das der Besucher nach dem Vorbild der „Science Centers“ als Lern- und Erfahrungsort bei der Suche nach den Voraussetzungen und Bedingungen menschlichen Handelns nutzen kann, ein Ort, an dem das „Wahrnehmen, Ausmessen und Nutzen von Handlungsspielräumen“ sichtbar und „die sozialen Mechanismen und Bedingungen, die zu Irrtümern, Fehlentwicklungen und Katastrophen führen“ erkennbar werden.
  Was damit genau gemeint sein soll, bleibt in den Ausführungen der Autoren noch sehr unbestimmt. Nimmt man aber die Forderung nach dem „Nie wieder!“ ernst, dann ist hier ein Weg zur Renovierung der Erinnerungskultur vorgezeichnet, den es sich zu gehen lohnen könnte – nicht nur in Anbetracht der ja auch im Alltagsbewusstsein weit entwickelten Historisierung des Nationalsozialismus, sondern auch im Hinblick auf die weiterhin bestehenden Gefahren gesellschaftlicher Ausgrenzungen.
  
Dana Giesecke, Harald Welzer : Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur. Edition Körber Stiftung, Hamburg, 2012. 187 Seiten, 15 Euro.
  
Peter Steinbach: Geschichte im politischen Kampf. Wie historische Argumente die öffentliche Meinung manipulieren. Dietz Verlag, 2012. 163 Seiten, 16,90 Euro.
  
Hermann Theißen ist Redakteur für Zeitgeschichte und Zeitkritik beim Deutschlandfunk.
Westdeutsche Geschichtspolitik
erlebte unter Kanzler Kohl in den
80er-Jahren ihren Höhepunkt
Historisch entkernte Frömmigkeit
des Gedenkens: Sie erklärt nichts
und sagt jungen Leuten nichts
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