Kemal, ein junger Mann aus der Oberschicht Istanbuls, verfällt der Liebe zu einer armen Verwandten - der blutjungen, naiven und wunderschönen Füsun. Was als Affäre begonnen hat, wächst sich bald zu einer Obsession aus, doch das hindert Kemal nicht daran, die Beziehung mit seiner Verlobten fortzuführen. Nach dem rauschenden Verlobungsfest lässt sich die Geliebte nicht mehr blicken. Verzweifelt erkennt Kemal, dass er Füsun über alles liebt. Doch es ist zu spät. Der Nobelpreisträger Orhan Pamuk erzählt in seinem großen Liebesroman von einer Gesellschaftsschicht der Türkei, die in vielem ganz und gar westlich scheint und doch noch traditionelle Züge trägt - ein Kontrast, der subtile Ironie erzeugt.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.02.2010Wer hat, soll nichts bekommen
Orhan Pamuk: Keine Förderung durch die Kulturhauptstadt Istanbul
„Kulturhauptstadt Europas”: Die Istanbuler jubelten, als ihnen der Titel für das Jahr 2010 angetragen wurde. Aber von Anfang an stand die Organisation unter keinem guten Stern. Zweimal wurde der Chef des Organisationskomitees ausgewechselt. Massenhaft traten die künstlerischen Berater zurück. Schließlich war kaum mehr einer übrig, der nicht zur Regierung gehörte. Die Vorwürfe der Zurückgetretenen lauteten auf Korruption, Intransparenz, Provinzialismus. Dabei wird in Istanbul ungleich mehr Geld ausgegeben als in den anderen Kulturhauptstädten Essen und Pecs: Offiziell sind es 374,5 Millionen Lira, umgerechnet etwa 180 Millionen Euro. Die Kunstschaffenden nahmen der Agentur vor allem übel, dass mehr als 70 Prozent der Summe für Bau- und Restaurierungsarbeiten an historischen Moscheen und Palästen ausgegeben werden – viele Projekte wurden zudem nicht an Fachleute vergeben, sondern an Baufirmen, sodass das Unterfangen bald in den Ruch kam, ein Selbstbedienungsladen für regierungsnahe Geschäftsleute zu sein. Ein Ruf, der von der Opposition und der regierungskritischen Presse ausgeschlachtet wurde.
In diesen Mühlen fand sich auch Orhan Pamuk wieder. Sein „Museum der Unschuld”, das er im Stadtteil Cukurcuma baut, sollte eines der wichtigsten Projekte für 2010 sein. Die Organisatoren hatten Pamuk zugesagt, einen Teil der Baukosten zu übernehmen, 750 000 der insgesamt veranschlagten 2,5 Millionen Lira (rund 1,2 Millionen Euro). Von Anfang an regte sich in der Istanbuler Kunst- und Literaturszene – wo staatliche Subventionen unüblich sind – Neid auf den Zuschuss: Wieso sollte, so das Argument, ausgerechnet ein wohlhabender Nobelpreisträger vom Staat bezuschusst werden? „Was ist das für ein nobelpreisgekrönter Schriftsteller, der der Unterstützung des Staates bedarf?” empörte sich Hürriyet-Kolumnist Özdemir Ince, selbst ein recht erfolgloser Dichter.
Anfang Februar hatte Orhan Pamuk genug: Er zog sein Museum, das im Sommer hätte Eröffnung feiern sollen, aus dem Programm zurück. Sekib Avdagic, der Präsident der „2010”-Agentur zeigte sich unmittelbar danach untröstlich. „Ich habe Pamuk schon einmal angerufen und 25 Minuten lang mit ihm gesprochen. Ich konnte ihn damals mit viel Mühe überreden, weiter mitzumachen. Aber als die Zeitungen mit ihren Angriffen gegen ihn fortfuhren, hat er seine Teilnahme aufgegeben. Wir sind machtlos.” Die erste Rate des Zuschusses war Anfang des Jahres schon auf Pamuks Konto eingegangen. Orhan Pamuk erklärte, er habe das Geld samt Zinsen schon zurücküberwiesen. Die Bauarbeiten am „Museum der Unschuld” gehen unterdessen zügig weiter.KAI STRITTMATTER
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Orhan Pamuk: Keine Förderung durch die Kulturhauptstadt Istanbul
„Kulturhauptstadt Europas”: Die Istanbuler jubelten, als ihnen der Titel für das Jahr 2010 angetragen wurde. Aber von Anfang an stand die Organisation unter keinem guten Stern. Zweimal wurde der Chef des Organisationskomitees ausgewechselt. Massenhaft traten die künstlerischen Berater zurück. Schließlich war kaum mehr einer übrig, der nicht zur Regierung gehörte. Die Vorwürfe der Zurückgetretenen lauteten auf Korruption, Intransparenz, Provinzialismus. Dabei wird in Istanbul ungleich mehr Geld ausgegeben als in den anderen Kulturhauptstädten Essen und Pecs: Offiziell sind es 374,5 Millionen Lira, umgerechnet etwa 180 Millionen Euro. Die Kunstschaffenden nahmen der Agentur vor allem übel, dass mehr als 70 Prozent der Summe für Bau- und Restaurierungsarbeiten an historischen Moscheen und Palästen ausgegeben werden – viele Projekte wurden zudem nicht an Fachleute vergeben, sondern an Baufirmen, sodass das Unterfangen bald in den Ruch kam, ein Selbstbedienungsladen für regierungsnahe Geschäftsleute zu sein. Ein Ruf, der von der Opposition und der regierungskritischen Presse ausgeschlachtet wurde.
In diesen Mühlen fand sich auch Orhan Pamuk wieder. Sein „Museum der Unschuld”, das er im Stadtteil Cukurcuma baut, sollte eines der wichtigsten Projekte für 2010 sein. Die Organisatoren hatten Pamuk zugesagt, einen Teil der Baukosten zu übernehmen, 750 000 der insgesamt veranschlagten 2,5 Millionen Lira (rund 1,2 Millionen Euro). Von Anfang an regte sich in der Istanbuler Kunst- und Literaturszene – wo staatliche Subventionen unüblich sind – Neid auf den Zuschuss: Wieso sollte, so das Argument, ausgerechnet ein wohlhabender Nobelpreisträger vom Staat bezuschusst werden? „Was ist das für ein nobelpreisgekrönter Schriftsteller, der der Unterstützung des Staates bedarf?” empörte sich Hürriyet-Kolumnist Özdemir Ince, selbst ein recht erfolgloser Dichter.
Anfang Februar hatte Orhan Pamuk genug: Er zog sein Museum, das im Sommer hätte Eröffnung feiern sollen, aus dem Programm zurück. Sekib Avdagic, der Präsident der „2010”-Agentur zeigte sich unmittelbar danach untröstlich. „Ich habe Pamuk schon einmal angerufen und 25 Minuten lang mit ihm gesprochen. Ich konnte ihn damals mit viel Mühe überreden, weiter mitzumachen. Aber als die Zeitungen mit ihren Angriffen gegen ihn fortfuhren, hat er seine Teilnahme aufgegeben. Wir sind machtlos.” Die erste Rate des Zuschusses war Anfang des Jahres schon auf Pamuks Konto eingegangen. Orhan Pamuk erklärte, er habe das Geld samt Zinsen schon zurücküberwiesen. Die Bauarbeiten am „Museum der Unschuld” gehen unterdessen zügig weiter.KAI STRITTMATTER
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.09.2008Auf der Suche nach der verlorenen Stadt
Orhan Pamuks Roman "Das Museum der Unschuld" verewigt das Istanbul der siebziger Jahre, erfindet eine Gestalt der Weltliteratur und erzählt die bewegende Geschichte einer unglücklichen Liebe.
Von Andreas Kilb
Auf dem Tiefpunkt seines Lebens- und Liebeswegs kämpft der Museumsgründer Kemal Basmaci mit einem kleinen Jungen um ein Kindertaschentuch. Kemal hat das Tuch, an dem der Geruch seiner großen Liebe Füsun haftet, am Silvesterabend des Jahres 1982 beim Bingospielen mit Füsun und ihren Eltern gewonnen, und nun möchte er es seiner wachsenden Sammlung von Gegenständen einverleiben, die ihn an die Geliebte und sein verlorenes Glück mit ihr erinnern. Aber Ali, der Nachbarsjunge, hat ebenfalls ein Auge auf den Spielgewinn geworfen und lässt sich nicht abwimmeln. Hinter dem Rücken von Füsuns Familie, die am Fenster steht und in den herabströmenden Regen schaut, ringen die beiden, ein erwachsener Mann und ein Kind, um ein Stück helles Leinen, bis der Schwächere schließlich nachgibt. Es ist eine jener kleinlichen, peinlichen Alltagsszenen, hinter denen sich die wirklich tragischen Geschichten verbergen. Eine davon, reich an Tragik wie an Peinlichkeiten, erzählt dieser Roman.
In seinem Erinnerungsbuch "Istanbul" (F.A.Z. vom 18. November 2006), lässt Orhan Pamuk am Istanbuler Großbürgertum der sechziger und siebziger Jahre, zu dem auch seine eigene Familie gehörte, kaum ein gutes Haar. Die türkischen Nabobs, schreibt er, wirkten nicht wie selbstbewusste Kaufleute, sondern eher wie Spekulanten, die durch Bestechung der richtigen Leute im rechten Augenblick ein Vermögen gemacht hatten. "Das einzige, was die furchtsamen, prosaischen Neureichen Istanbuls nun tun konnten, um ihrem Vermögen zu etwas mehr Legitimität zu verhelfen, war ganz einfach, sich selbst europäischer zu geben, als sie es tatsächlich waren." Genau aus der Mitte dieses Milieus stammt Pamuks Romanheld Kemal. Seine Sippe ist mit Bekleidungs- und Bettwäschefirmen reich geworden, er selbst hat (wie Orhan Pamuk) einige Zeit in Amerika verbracht und westliche Lebensgewohnheiten angenommen. Als die Geschichte einsetzt, im Frühling des Jahres 1976, steht er vor der Verlobung mit einer hauptstädtischen Schönheit namens Sibel, deren Familienvermögen das seine ergänzen wird. Um Sibel eine Freude zu machen, kauft er ihr in einer Boutique im Nisantasi-Viertel eine Handtasche. Da geschieht das Unerwartete.
Das Unerwartete ist, wie oft in bürgerlichen Lebensläufen, die Liebe. Sie ereilt Kemal in Gestalt der schönen Verkäuferin Füsun, die zugleich eine entfernte und verarmte Verwandte von ihm ist. Kemal lockt Füsun in eine leerstehende Wohnung, die seiner Familie gehört, und eine leidenschaftliche Affäre beginnt. Aber der Fabrikantensohn kann sich nicht entschließen, seine Verlobung abzusagen und das Mädchen zu heiraten. Er möchte alles auf einmal haben: die reiche Gattin und die arme Geliebte, das Istanbul der Champagnerparties und das Istanbul der Hinterhöfe. Und so verliert er alles nacheinander. Füsun verlässt ihn, und Kemal selbst, von unheilbarer Sehnsucht gepeinigt, trennt sich von seiner Verlobten, zieht sich aus der Jeunesse dorée zurück und vergräbt sich in seinem leeren Liebesnest, das für ihn immer mehr zum Museum seiner verflossenen Seligkeiten wird.
Als Kemal Füsun nach einem Jahr wiedertrifft, ist sie mit dem Drehbuchautor Feridun verheiratet. Aber unser Held denkt gar nicht daran, von seinem Liebesobjekt zu lassen. Statt sich eine neue Braut zu suchen, wird er zum allabendlichen Stammgast in der Wohnung im Kleineleuteviertel Çukurcuma, in dem Füsun mit ihren Eltern und ihrem Ehemann lebt; und statt dem dicklichen, eingebildeten Feridun aus dem Weg zu gehen, gründet Kemal eine Filmgesellschaft und finanziert Feriduns Kinodebüt. Während in den Straßen Istanbuls linke und rechte Extremisten aufeinander schießen, geht er mit Füsun und Feridun in die Sommerkinos am Ufer des Bosporus und sieht sich die Melodramen über gefallene Mädchen und entsagende Liebhaber an, in denen die Türkei ihre Moralvorstellungen abbildet (und in denen sich auch Kemals Schicksal auf vertrackte Weise spiegelt). Und während das türkische Staatsfernsehen über Lutschbonbonfestivals berichtet und die Drahtzieher des Militärputsches von 1980 feiert, stiehlt Kemal in aller Stille die Porzellanhunde, die auf dem Fernseher seiner Liebsten stehen, um sie seiner rasant wachsenden Sammlung von Füsun-Memorabilia einzuverleiben.
Es ist eine Geschichte über Klassenunterschiede, Geschlechterrollen und Doppelmoral, die da im Gewand einer Liebestragikomödie erzählt wird - und zugleich eine Alltagsgeschichte der siebziger Jahre in der Türkei. Denn die Liebesfetische, die Kemal von seinen Beutezügen in Çukurcuma zurückbringt (und durch anderswo erworbene Gegenstände ergänzt), sind nicht bloß privater Krimskrams, sie bilden den verdinglichten Abdruck einer Epoche, die sich, wenn man diesem Buch glauben darf, mehr als andere in den Dingen offenbart hat: in den Fingerhüten, Zigarrenschachteln, Likörflaschen und Parfumflakons, die noch ganz "türkisch", und den Damenschuhen, Feuerzeugen und Kinoplakaten, die schon "europäisch" anmuten; in den Fotos von Bosporusfähren, Schulklassen und noch unverbauten Hügeln am Stadtrand von Istanbul; in den Uhren, die mal ein arabisches, mal ein westliches Zifferblatt haben und manchmal beide zugleich. Weil aber das Museum, das der liebeskranke Kemal - ein Schmerzmittel, das er regelmäßig nimmt, heißt "Paradison" - der Nachwelt hinterlässt, weder historisch noch politisch korrekt, sondern auf geradezu freche Weise persönlich ist, heißt es weder nach der Stadt, in der es steht, noch nach der Entstehungszeit seiner Exponate, sondern nach dem, wonach sein Schöpfer sich am meisten sehnt: "Das Museum der Unschuld".
Die Meisterschaft des Romans gleichen Titels zeigt sich freilich weniger in den Beschreibungen der Sammlungsstücke (die bei genauem Hinsehen reichlich knapp und prosaisch ausfallen) oder den Skizzen der ziellos feiernden, zwischen Orient und Europa, osmanischen Traditionen und europäischen Ambitionen schwankenden Haute volée Istanbuls (auch wenn das knapp fünfzigseitige Kapitel über Kemals Verlobungsfeier zum Besten gehört, was Orhan Pamuk je geschrieben hat). Sie zeigt sich vor allem in der Figur, in der all die Motive, Bilder und Reminiszenzen zusammentreffen, in Kemal Basmaci. Oft, und nicht immer zu Unrecht, ist Orhan Pamuk vorgehalten worden, seine Bücher gefielen sich in den Raffinessen ihrer Konstruktion, statt lebendige Menschen zu zeichnen, sie stellten das Können des Erzählers über die Kunst der Erzählung; und tatsächlich lastet noch in "Schnee", Pamuks Roman von 2002, das Symbolische und Wortspielerische schwer auf den handelnden Personen. Für den Kollektomanen Kemal, der es bei seinen Studienreisen auf geschlagene 5723 Museumsbesuche bringt, gilt dieser Vorwurf nicht mehr. Er ist ein Held aus Fleisch und Blut, dessen Leidensgeduld und Liebeszähigkeit nichts Gekünsteltes hat, ein Bruder des Erinnerungs-Artisten Marcel aus der "Suche nach der verlorenen Zeit" und des unglücklichen Erotikers Florentino Ariza aus "Die Liebe in den Zeiten der Cholera" - eine echte Gestalt der Weltliteratur. Und so hat es etwas rührend Verspieltes und Verschrobenes, wenn Orhan Pamuk am Ende der Geschichte seine Figur in die Arme nimmt und ihre Ich-Erzählung als die literarische Fiktion entlarvt, die sie ohnehin ist - und wenn er nun sogar das "Museum der Unschuld" selbst im Çukurcuma-Viertel von Istanbul aufbaut, in derselben Wohnung, in der sein Roman spielt (F.A.Z. vom 30. August).
Aber so musste es wohl sein bei einem Buch, das beinahe eine Bekenntnisschrift ist. Man braucht gar nicht unbedingt das Kapitel "Erste Liebe" in Pamuks Istanbul-Band zu studieren, das von der siebzehnjährigen "schwarzen Rose" erzählt, die der junge Orhan in seinem Atelier malte und küsste, bis das Mädchen auf ein Internat in der Schweiz geschickt wurde, um zu erkennen, wie tief "Das Museum der Unschuld" in die Biographie seines Autors verstrickt ist. Es genügt, die Passagen zu lesen, in denen Pamuk über sein Lieblingswort "hüzün" schreibt, jene spezifisch türkische Form der Melancholie, die man am besten mit einem Marlene-Dietrich-Zitat als "Heimweh nach dem Traurigsein" übersetzt: Sie klingen, als hätte Kemal sie verfasst. "Hüzün" ist das, was der Großbürgerssohn in seiner Liebe zu dem Ladenmädchen zu empfinden lernt: ein Gefühl, das die ganze Stadt Istanbul, ihre Geschichte und ihre Bewohner mit einschließt. Wie ein Geruch haftet es an den größten wie an den kleinsten Dingen. Manchmal sogar an einem Taschentuch.
- Orhan Pamuk: "Das Museum der Unschuld". Roman. Aus dem Türkischen übersetzt von Gerhard Meier. Carl Hanser Verlag, München 2008. 576 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Orhan Pamuks Roman "Das Museum der Unschuld" verewigt das Istanbul der siebziger Jahre, erfindet eine Gestalt der Weltliteratur und erzählt die bewegende Geschichte einer unglücklichen Liebe.
Von Andreas Kilb
Auf dem Tiefpunkt seines Lebens- und Liebeswegs kämpft der Museumsgründer Kemal Basmaci mit einem kleinen Jungen um ein Kindertaschentuch. Kemal hat das Tuch, an dem der Geruch seiner großen Liebe Füsun haftet, am Silvesterabend des Jahres 1982 beim Bingospielen mit Füsun und ihren Eltern gewonnen, und nun möchte er es seiner wachsenden Sammlung von Gegenständen einverleiben, die ihn an die Geliebte und sein verlorenes Glück mit ihr erinnern. Aber Ali, der Nachbarsjunge, hat ebenfalls ein Auge auf den Spielgewinn geworfen und lässt sich nicht abwimmeln. Hinter dem Rücken von Füsuns Familie, die am Fenster steht und in den herabströmenden Regen schaut, ringen die beiden, ein erwachsener Mann und ein Kind, um ein Stück helles Leinen, bis der Schwächere schließlich nachgibt. Es ist eine jener kleinlichen, peinlichen Alltagsszenen, hinter denen sich die wirklich tragischen Geschichten verbergen. Eine davon, reich an Tragik wie an Peinlichkeiten, erzählt dieser Roman.
In seinem Erinnerungsbuch "Istanbul" (F.A.Z. vom 18. November 2006), lässt Orhan Pamuk am Istanbuler Großbürgertum der sechziger und siebziger Jahre, zu dem auch seine eigene Familie gehörte, kaum ein gutes Haar. Die türkischen Nabobs, schreibt er, wirkten nicht wie selbstbewusste Kaufleute, sondern eher wie Spekulanten, die durch Bestechung der richtigen Leute im rechten Augenblick ein Vermögen gemacht hatten. "Das einzige, was die furchtsamen, prosaischen Neureichen Istanbuls nun tun konnten, um ihrem Vermögen zu etwas mehr Legitimität zu verhelfen, war ganz einfach, sich selbst europäischer zu geben, als sie es tatsächlich waren." Genau aus der Mitte dieses Milieus stammt Pamuks Romanheld Kemal. Seine Sippe ist mit Bekleidungs- und Bettwäschefirmen reich geworden, er selbst hat (wie Orhan Pamuk) einige Zeit in Amerika verbracht und westliche Lebensgewohnheiten angenommen. Als die Geschichte einsetzt, im Frühling des Jahres 1976, steht er vor der Verlobung mit einer hauptstädtischen Schönheit namens Sibel, deren Familienvermögen das seine ergänzen wird. Um Sibel eine Freude zu machen, kauft er ihr in einer Boutique im Nisantasi-Viertel eine Handtasche. Da geschieht das Unerwartete.
Das Unerwartete ist, wie oft in bürgerlichen Lebensläufen, die Liebe. Sie ereilt Kemal in Gestalt der schönen Verkäuferin Füsun, die zugleich eine entfernte und verarmte Verwandte von ihm ist. Kemal lockt Füsun in eine leerstehende Wohnung, die seiner Familie gehört, und eine leidenschaftliche Affäre beginnt. Aber der Fabrikantensohn kann sich nicht entschließen, seine Verlobung abzusagen und das Mädchen zu heiraten. Er möchte alles auf einmal haben: die reiche Gattin und die arme Geliebte, das Istanbul der Champagnerparties und das Istanbul der Hinterhöfe. Und so verliert er alles nacheinander. Füsun verlässt ihn, und Kemal selbst, von unheilbarer Sehnsucht gepeinigt, trennt sich von seiner Verlobten, zieht sich aus der Jeunesse dorée zurück und vergräbt sich in seinem leeren Liebesnest, das für ihn immer mehr zum Museum seiner verflossenen Seligkeiten wird.
Als Kemal Füsun nach einem Jahr wiedertrifft, ist sie mit dem Drehbuchautor Feridun verheiratet. Aber unser Held denkt gar nicht daran, von seinem Liebesobjekt zu lassen. Statt sich eine neue Braut zu suchen, wird er zum allabendlichen Stammgast in der Wohnung im Kleineleuteviertel Çukurcuma, in dem Füsun mit ihren Eltern und ihrem Ehemann lebt; und statt dem dicklichen, eingebildeten Feridun aus dem Weg zu gehen, gründet Kemal eine Filmgesellschaft und finanziert Feriduns Kinodebüt. Während in den Straßen Istanbuls linke und rechte Extremisten aufeinander schießen, geht er mit Füsun und Feridun in die Sommerkinos am Ufer des Bosporus und sieht sich die Melodramen über gefallene Mädchen und entsagende Liebhaber an, in denen die Türkei ihre Moralvorstellungen abbildet (und in denen sich auch Kemals Schicksal auf vertrackte Weise spiegelt). Und während das türkische Staatsfernsehen über Lutschbonbonfestivals berichtet und die Drahtzieher des Militärputsches von 1980 feiert, stiehlt Kemal in aller Stille die Porzellanhunde, die auf dem Fernseher seiner Liebsten stehen, um sie seiner rasant wachsenden Sammlung von Füsun-Memorabilia einzuverleiben.
Es ist eine Geschichte über Klassenunterschiede, Geschlechterrollen und Doppelmoral, die da im Gewand einer Liebestragikomödie erzählt wird - und zugleich eine Alltagsgeschichte der siebziger Jahre in der Türkei. Denn die Liebesfetische, die Kemal von seinen Beutezügen in Çukurcuma zurückbringt (und durch anderswo erworbene Gegenstände ergänzt), sind nicht bloß privater Krimskrams, sie bilden den verdinglichten Abdruck einer Epoche, die sich, wenn man diesem Buch glauben darf, mehr als andere in den Dingen offenbart hat: in den Fingerhüten, Zigarrenschachteln, Likörflaschen und Parfumflakons, die noch ganz "türkisch", und den Damenschuhen, Feuerzeugen und Kinoplakaten, die schon "europäisch" anmuten; in den Fotos von Bosporusfähren, Schulklassen und noch unverbauten Hügeln am Stadtrand von Istanbul; in den Uhren, die mal ein arabisches, mal ein westliches Zifferblatt haben und manchmal beide zugleich. Weil aber das Museum, das der liebeskranke Kemal - ein Schmerzmittel, das er regelmäßig nimmt, heißt "Paradison" - der Nachwelt hinterlässt, weder historisch noch politisch korrekt, sondern auf geradezu freche Weise persönlich ist, heißt es weder nach der Stadt, in der es steht, noch nach der Entstehungszeit seiner Exponate, sondern nach dem, wonach sein Schöpfer sich am meisten sehnt: "Das Museum der Unschuld".
Die Meisterschaft des Romans gleichen Titels zeigt sich freilich weniger in den Beschreibungen der Sammlungsstücke (die bei genauem Hinsehen reichlich knapp und prosaisch ausfallen) oder den Skizzen der ziellos feiernden, zwischen Orient und Europa, osmanischen Traditionen und europäischen Ambitionen schwankenden Haute volée Istanbuls (auch wenn das knapp fünfzigseitige Kapitel über Kemals Verlobungsfeier zum Besten gehört, was Orhan Pamuk je geschrieben hat). Sie zeigt sich vor allem in der Figur, in der all die Motive, Bilder und Reminiszenzen zusammentreffen, in Kemal Basmaci. Oft, und nicht immer zu Unrecht, ist Orhan Pamuk vorgehalten worden, seine Bücher gefielen sich in den Raffinessen ihrer Konstruktion, statt lebendige Menschen zu zeichnen, sie stellten das Können des Erzählers über die Kunst der Erzählung; und tatsächlich lastet noch in "Schnee", Pamuks Roman von 2002, das Symbolische und Wortspielerische schwer auf den handelnden Personen. Für den Kollektomanen Kemal, der es bei seinen Studienreisen auf geschlagene 5723 Museumsbesuche bringt, gilt dieser Vorwurf nicht mehr. Er ist ein Held aus Fleisch und Blut, dessen Leidensgeduld und Liebeszähigkeit nichts Gekünsteltes hat, ein Bruder des Erinnerungs-Artisten Marcel aus der "Suche nach der verlorenen Zeit" und des unglücklichen Erotikers Florentino Ariza aus "Die Liebe in den Zeiten der Cholera" - eine echte Gestalt der Weltliteratur. Und so hat es etwas rührend Verspieltes und Verschrobenes, wenn Orhan Pamuk am Ende der Geschichte seine Figur in die Arme nimmt und ihre Ich-Erzählung als die literarische Fiktion entlarvt, die sie ohnehin ist - und wenn er nun sogar das "Museum der Unschuld" selbst im Çukurcuma-Viertel von Istanbul aufbaut, in derselben Wohnung, in der sein Roman spielt (F.A.Z. vom 30. August).
Aber so musste es wohl sein bei einem Buch, das beinahe eine Bekenntnisschrift ist. Man braucht gar nicht unbedingt das Kapitel "Erste Liebe" in Pamuks Istanbul-Band zu studieren, das von der siebzehnjährigen "schwarzen Rose" erzählt, die der junge Orhan in seinem Atelier malte und küsste, bis das Mädchen auf ein Internat in der Schweiz geschickt wurde, um zu erkennen, wie tief "Das Museum der Unschuld" in die Biographie seines Autors verstrickt ist. Es genügt, die Passagen zu lesen, in denen Pamuk über sein Lieblingswort "hüzün" schreibt, jene spezifisch türkische Form der Melancholie, die man am besten mit einem Marlene-Dietrich-Zitat als "Heimweh nach dem Traurigsein" übersetzt: Sie klingen, als hätte Kemal sie verfasst. "Hüzün" ist das, was der Großbürgerssohn in seiner Liebe zu dem Ladenmädchen zu empfinden lernt: ein Gefühl, das die ganze Stadt Istanbul, ihre Geschichte und ihre Bewohner mit einschließt. Wie ein Geruch haftet es an den größten wie an den kleinsten Dingen. Manchmal sogar an einem Taschentuch.
- Orhan Pamuk: "Das Museum der Unschuld". Roman. Aus dem Türkischen übersetzt von Gerhard Meier. Carl Hanser Verlag, München 2008. 576 S., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Bewegt, und immer wieder "unnennbar ergriffen" beschreibt Rezensent Walter van Rossum die Welt von Orhan Pamuks neuem Roman, der aus seiner Sicht eine "große Liebesgeschichte" sowie ein "wunderbarer Beleg" dafür ist, wie man mit den Mitteln des Romans der Welt "ihren Reichtum, ihre Komplexität und ihre schwierige Schönheit" zurückgeben kann, ohne in die dümmlichen ideologischen Raster gegenwärtiger Realitätsbewältigung zu verfallen. Glutkern des Romans sei seine Bewusstmachung der "Vergesellschaftung" der Gefühle bis in ihre intimsten Regungen, was Pamuk an der Geschichte eines unglücklichen Dreiecksverhältnisses verhandele, eines Mannes, der zwei Frauen liebt. Auch das titelgebende wie symbolische Museum der Unschuld, das der Protagonist für seine Liebe errichtet und mit Gegenständen bestückt, findet der Rezensent als Romanmotiv wie als darüber hinaus gehendes Bild für Istanbul und den Tumult der Gefühle seiner Bürger zwischen Tradition und Moderne geradezu kongenial.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein Liebesroman, ein großartiger und trauriger." Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 13.09.08
"Pamuk ist nicht nur das aufschlussreiche Porträt einer türkischen Gesellschaft Mitte der siebziger Jahre geglückt, sondern eine Deutung von deren Selbstverständnis zwischen westlicher Freizügigkeit und osmanischer Tradition." Peter Henning, Spiegel online, 10.09.08
"Die Türkei braucht einen Erzähler wie Orhan Pamuk - aber den brauchen ja längst Leser auf der ganzen Welt." Jürgen Berger, Die Tageszeitung, 13.09.08
"Nie war Wehmut komischer, selten Liebesschmerz so lapidar und so unsterblich, und schon lange kein Roman mehr so weise." Sabine Vogel, Berliner Zeitung, 10.09.08
"Eine zarte, poetische, mit gleich viel Witz und Melancholie entworfene Liebesgeschichte." Angela Schader, Neue Zürcher Zeitung, 09.09.08
"Mit seinem neuen Roman setzt Pamuk sein großes Istanbul-Projekt fort und beschert seinem Heimatland einen künftigen Klassiker." Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.08.08
"Aufmerksam und liebevoll wendet sich Orhan Pamuk der jüngeren Vergangenheit zu und ist doch keinen Augenblick sentimental." Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 14.10.06
"Pamuks Roman verewigt das Istanbul der siebziger Jahre, erfindet eine Gestalt der Weltliteratur und erzählt die bewegende Geschichte einer unglücklichen Liebe." Andreas Kilb, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.09.08
"Pamuks Roman ist zweierlei: eine Liebesgeschichte und ein Istanbul-Roman, der dem Istanbul und seiner bürgerlichen Gesellschaft der siebziger Jahre ein kleines Denkmal setzt." Gerrit Bartels, Der Tagesspiegel, 10.09.08
"Pamuks Roman ist eine Erkundung der Befindlichkeit in einem Land, einer Stadt, die allein schon durch ihre geografische Lage zum Austragungsort der Spannungen zwischen Orient und Okzident, zwischen Tradition und Moderne bestimmt scheinen." Angela Schader, Neue Zürcher Zeiung, 09.09.08
"Pamuk ist nicht nur das aufschlussreiche Porträt einer türkischen Gesellschaft Mitte der siebziger Jahre geglückt, sondern eine Deutung von deren Selbstverständnis zwischen westlicher Freizügigkeit und osmanischer Tradition." Peter Henning, Spiegel online, 10.09.08
"Die Türkei braucht einen Erzähler wie Orhan Pamuk - aber den brauchen ja längst Leser auf der ganzen Welt." Jürgen Berger, Die Tageszeitung, 13.09.08
"Nie war Wehmut komischer, selten Liebesschmerz so lapidar und so unsterblich, und schon lange kein Roman mehr so weise." Sabine Vogel, Berliner Zeitung, 10.09.08
"Eine zarte, poetische, mit gleich viel Witz und Melancholie entworfene Liebesgeschichte." Angela Schader, Neue Zürcher Zeitung, 09.09.08
"Mit seinem neuen Roman setzt Pamuk sein großes Istanbul-Projekt fort und beschert seinem Heimatland einen künftigen Klassiker." Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.08.08
"Aufmerksam und liebevoll wendet sich Orhan Pamuk der jüngeren Vergangenheit zu und ist doch keinen Augenblick sentimental." Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 14.10.06
"Pamuks Roman verewigt das Istanbul der siebziger Jahre, erfindet eine Gestalt der Weltliteratur und erzählt die bewegende Geschichte einer unglücklichen Liebe." Andreas Kilb, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.09.08
"Pamuks Roman ist zweierlei: eine Liebesgeschichte und ein Istanbul-Roman, der dem Istanbul und seiner bürgerlichen Gesellschaft der siebziger Jahre ein kleines Denkmal setzt." Gerrit Bartels, Der Tagesspiegel, 10.09.08
"Pamuks Roman ist eine Erkundung der Befindlichkeit in einem Land, einer Stadt, die allein schon durch ihre geografische Lage zum Austragungsort der Spannungen zwischen Orient und Okzident, zwischen Tradition und Moderne bestimmt scheinen." Angela Schader, Neue Zürcher Zeiung, 09.09.08