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Hans Mommsen stellte in Berlin seine letzte Studie zum Judenmord vor
Kein Stuhl blieb frei im großen Saal der Berliner Gedenkstätte "Topographie des Terrors", die zum Gespräch mit Hans Mommsen über sein Lebenswerk und sein neues Buch geladen hatte. Geschrieben hat es der 84 Jahre alte Gelehrte in einem von schwerer Krankheit dominierten Jahr. Er wirkt gebrechlich, als er mühsam die Stufen zum Podium hochsteigt, haut dann seinen Gehstock zwischen Manuskript und Mikrofon auf den Tisch und lässt seinen Gesprächspartner Götz Aly ausrichten, dass sein Zustand derzeit "nicht besonders sportlich" sei. Der streitbare Hans Mommsen, der ganze Historikergenerationen mit seiner Forschung, aber auch als begnadeter Lehrer beeinflusst hat, wirkt an diesem Abend eher milde, dabei hellwach und unendlich geduldig, wenn er später noch die verquerste Frage aus dem Publikum beantwortet. Zufrieden darf er feststellen, dass seine komplexe Erklärung des Judenmordes, die sich einfachen, entlastenden Festlegungen immer verweigert hat, Früchte trägt. Was er seit den siebziger Jahren beharrlich vertritt, gegen alle Widerstände, gehört inzwischen zum Allgemeinwissen.
Noch einmal hat der große Historiker seine Studien zum Judenmord unter dem NS-Regime zusammengefasst, die einzelnen Bausteine der Ausgrenzung und Ausschaltung der deutschen Juden bis zu ihrer völligen Enteignung beschrieben; mitten in einer bis dahin kultivierten, zivilisierten Gesellschaft, die sich im "Halbdunkel" der unscharfen Begriffe einrichtete und diese völlige Entrechtung ohne nennenswerten Widerstand hinnahm. Vorstufen des Holocaust, die Deportationen und das Morden ermöglichten.
Warum konnte das geschehen und unter welchen Bedingungen - diese Frage steht noch einmal im Vordergrund von Mommsens letztem Werk "Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa" (Wallstein Verlag). Es analysiert in knappen Kapiteln die "kumulative Radikalisierung" der Mitläufer, des emotionsfrei und effizient arbeitenden riesigen Beamtenapparates, der Militärs und Politiker und die Rolle Adolf Hitlers, die, daran hält Mommsen fest, für die Ausführung dieses beispiellosen Massenmordes nicht entscheidend gewesen sei. Mommsens Gesamtinterpretation des komplexen Geschehens lässt keine letztgültige Antwort auf seine Ausgangsfrage zu. Doch erklärt sie, wie es zum Holocaust kommen konnte, dessen grauenvolle Einzelheiten der Propagandaapparat hinter "auffälligen Tarnbegriffen" wie "Sonderbehandlung" oder "Durchschleusung" habe verharmlosen müssen. Für Hunderttausende beteiligte Vollstrecker genauso wie für die eigene Bevölkerung, die zwar bald vom eigenen Kriegsleid absorbiert war, doch dies für die "Nichtwahrnehmung" des Verschwindens der Nachbarn brauchte. Wenig mehr als zweihundert Seiten hat Hans Mommsen benötigt, um seine beeindruckende Lebensleistung zusammenzufassen, die in Jahrzehnten entstanden ist.
Götz Aly erinnerte noch einmal an den Anfang, als sich Hans Mommsen fast allein, zumindest in Deutschland, aufmachte, den Judenmord in den Fokus der Zeitgeschichtsforschung zu rücken. Aly zitierte eine Besprechung mit dem Fischer Verlag aus dem Jahr 1962, als die Großen des Fachs im Institut für Zeitgeschichte ein komplexes Werk zur jüngeren deutschen Geschichte - von der Zwischenkriegszeit über den Krieg bis zur Nachkriegszeit - planten. Zehn konkrete Kapitel waren damals mit Autoren festgelegt. Den Judenmord sollte kein einziges behandeln.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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