Ex-Inspektor Louis Kehlweiler sitzt auf Bank 102 an der Pariser Place de la Contrescarpe, als sein Blick auf einen winzigen weißen Gegenstand fällt, ein blankgewaschenes Knöchelchen, so scheint es. Man muß schon Kehlweilers blühende Phantasie haben, um daran etwas Ungewöhnliches zu finden. Doch nach wenigen Tagen hat er dank seiner alten, nicht immer ganz legalen Beziehungen heraus, daß es sich um den kleinen Zeh einer Frau handelt, der von einem Hund verdaut worden ist. Eine dazugehörige Leiche gibt es allerdings nicht im ganzen Arrondissement - dafür eine Menge Hundehalter, die zu beobachten und deren Gewohnheiten herauszufinden Kehlweiler sich vornimmt. Mit Hilfe der drei wissenschaftlich tätigen, wenn auch arbeitslosen junge Historiker Mathias, Marc und Lucien stößt er schließlich auf einen Pitbull-Besitzer und leidenschaftlichen Sammler alter Schreibmaschinen, der allwöchentlich zwischen Paris und der Bretagne pendelt. Und in Port-Nicolas, einem trostlosen bretonischen Hafenstädtchen, ist in der Tat vor wenigen Tagen eine Frau von der Steilküste gestürzt. »Knochentrocken selbst in den absurdesten Momenten und voller Wahnsinns-Typen.« Frankfurter Rundschau »Mörderisch menschlich, mörderisch gut.« Frankfurter Rundschau
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.07.2002Ein Kollege von Sherlock Holmes
Ich will ein Bier: Bei Fred Vargas haben Verbrechen keine Chance
Louis oder Ludwig Kehlweiler, der Held in den Romanen von Fred Vargas, einer französisch schreibenden Archäologin, ist Deutschfranzose. Außer seinen wechselnden Gesichtsausdrücken, einmal anziehend-weich, ein andermal "gotisch" hart und furchteinflößend, ist er an seiner ständig wiederkehrenden Phrase "Ich will ein Bier" zu erkennen, mit der der Roman nach seinen extravaganten Eskapaden in die französische Provinz und die Vichy-Vergangenheit auch gemütlich endet. Mit solchen volkstümlichen Gepflogenheiten ähnelt er eher dem Kommissar Maigret, der sich in allen Volksschichten wohl fühlt, als dem hochmütigen Sherlock Holmes. Kehlweiler ist volkstümlich. Am liebsten sind ihm altmodische Cafés, in denen die sozialen Klassen ungetrennt verkehren, und seine Gehilfen sind wie er Außenseiter der bürgerlichen Gesellschaft, eine alte Nutte mit goldenem Herzen, ein verkrachter, aber freiheitsliebender Mediävist, ein barfüßiger Prähistoriker, der wie seine Studienobjekte, die Vormenschen, über primitive Instinkte verfügt, der hört, sieht und riecht, wo andere nicht das geringste wahrnehmen, und außerdem noch über gewaltige Körperkräfte verfügt.
Wie Maigret ist Kehlweiler nichts Menschliches fremd. Ihm ist egal, ob jemand bettelarm oder reich, hetero- oder homosexuell ist, Rang und Ansehen hat oder nicht, dieser oder jener ethnischen Gruppe angehört. Er haßt nur eines: das Verbrechen, den ungesühnten Mord. Wenn die offiziellen Behörden längst aufgegeben haben, hält er zäh an dem Fall fest, dem er einmal Aufmerksamkeit geschenkt hat. Ungleich Maigret und dem venezianischen Commissario Brunetti ist er nämlich nicht bei der Polizei, sondern arbeitet auf eigene Faust. Den staatlich bestallten Verbrecherjägern ist er haushoch überlegen: darin ähnelt er Sherlock Holmes. Allerdings hat er seine Freunde bei der Polizei, die ihn mit Informationen versorgen, jedoch nur in den unteren Rängen, die höheren Chargen verachtet er und weist ihnen gerne Inkompetenz nach, wie Brunetti. Im Gegensatz zu Maigret und wie Sherlock Holmes ist er unverheiratet, und ein nicht geringes Nebeninteresse wird durch seine Beziehungen zu den ihm begegnenden Frauen erweckt, die er nicht nur nach detektivischen Gesichtspunkten beurteilt. Überhaupt erfährt man mehr über ihn, seine persönlichen Umstände und seine Herkunft als über die meisten Helden der Kriminalliteratur; etwa, daß er am Ende des Zweiten Weltkriegs als Sohn eines desertierten deutschen Soldaten und einer französischen Freiheitskämpferin geboren ist. Daher auch sein Abscheu vor dem Rechtsradikalismus. Bevor man ihn freilich der "political correctness" beschuldigt, sollte man sich überlegen, ob deren Gegenteil, die "political incorrectness", nicht noch schlimmer ist.
Sherlock Holmes ähnelt Kehlweiler am meisten durch seine unheimliche Gabe der Deduktion, die aus unscheinbaren Indizien schreckliche Zusammenhänge ableitet und aufklärt. Das kommt daher, daß er mit beiden Seiten seines Gehirns arbeitet, der rationalen, des kalten Kalküls fähigen und der divinatorischen, die ahnt und dumpf empfindet, ihn aber auf die rechte Fährte bringt. Durch ein winziges Knöchelchen, das er mit seinen Luchsaugen in einem halb vom Regen weggewaschenen Hundehaufen entdeckt, wird ein weit entfernt von Paris, in der Bretagne, geschehener Unfall zu einem Mord, den Kehlweiler mit verblüffendem Scharfsinn rekonstruiert und durch den nicht nur weit zurückliegende, unerkannte Untaten ans Tageslicht gezerrt, sondern neue, in der Zukunft liegende verhindert werden. Verfitzt mit diesen Ermittlungen sind alte Liebesgeschichten und während der NS-Zeit an Mitgliedern der Résistance verübte Verbrechen. Und so wird dieser Krimi sogar noch zum Polit-Thriller, der sich schürzende Knoten wird zu einem gewaltigen Knäuel, das Louis in einer seitenlangen Rede entwirrt. Auch dieser Erhellungsbericht gehört zu den Traditionen des Genres.
Es wäre töricht, die Verfasser von Detektivromanen wegen solcher Vorgegebenheiten zu verachten, ebenso wie es töricht wäre, etwa Hals-Nasen-Ohren-Ärzte geringer zu schätzen als die Ausüber einer anderen medizinischen Sparte. Wie Ärzte sind Krimiautoren Spezialisten, die als Professionelle nicht danach beurteilt werden sollten, was sie schreiben, sondern wie gut sie es machen. Wenn sie interessante Fälle konstruieren wie Frau Vargas, anziehende Gestalten einführen, Einblicke in ein Milieu vermitteln, fesselnde Gespräche erfinden, Anteilnahme und Spannung erzeugen und vielleicht sogar einen Schuß humaner Weltanschauung dazutun, dann erfüllen sie die Möglichkeiten, die in ihrem Fach stecken, und dürfen darin als Meister gelten.
EGON SCHWARZ
Fred Vargas: "Das Orakel von Port-Nicolas". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Tobias Scheffel. Aufbau-Verlag, Berlin 2001. 285 S., geb., 18,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ich will ein Bier: Bei Fred Vargas haben Verbrechen keine Chance
Louis oder Ludwig Kehlweiler, der Held in den Romanen von Fred Vargas, einer französisch schreibenden Archäologin, ist Deutschfranzose. Außer seinen wechselnden Gesichtsausdrücken, einmal anziehend-weich, ein andermal "gotisch" hart und furchteinflößend, ist er an seiner ständig wiederkehrenden Phrase "Ich will ein Bier" zu erkennen, mit der der Roman nach seinen extravaganten Eskapaden in die französische Provinz und die Vichy-Vergangenheit auch gemütlich endet. Mit solchen volkstümlichen Gepflogenheiten ähnelt er eher dem Kommissar Maigret, der sich in allen Volksschichten wohl fühlt, als dem hochmütigen Sherlock Holmes. Kehlweiler ist volkstümlich. Am liebsten sind ihm altmodische Cafés, in denen die sozialen Klassen ungetrennt verkehren, und seine Gehilfen sind wie er Außenseiter der bürgerlichen Gesellschaft, eine alte Nutte mit goldenem Herzen, ein verkrachter, aber freiheitsliebender Mediävist, ein barfüßiger Prähistoriker, der wie seine Studienobjekte, die Vormenschen, über primitive Instinkte verfügt, der hört, sieht und riecht, wo andere nicht das geringste wahrnehmen, und außerdem noch über gewaltige Körperkräfte verfügt.
Wie Maigret ist Kehlweiler nichts Menschliches fremd. Ihm ist egal, ob jemand bettelarm oder reich, hetero- oder homosexuell ist, Rang und Ansehen hat oder nicht, dieser oder jener ethnischen Gruppe angehört. Er haßt nur eines: das Verbrechen, den ungesühnten Mord. Wenn die offiziellen Behörden längst aufgegeben haben, hält er zäh an dem Fall fest, dem er einmal Aufmerksamkeit geschenkt hat. Ungleich Maigret und dem venezianischen Commissario Brunetti ist er nämlich nicht bei der Polizei, sondern arbeitet auf eigene Faust. Den staatlich bestallten Verbrecherjägern ist er haushoch überlegen: darin ähnelt er Sherlock Holmes. Allerdings hat er seine Freunde bei der Polizei, die ihn mit Informationen versorgen, jedoch nur in den unteren Rängen, die höheren Chargen verachtet er und weist ihnen gerne Inkompetenz nach, wie Brunetti. Im Gegensatz zu Maigret und wie Sherlock Holmes ist er unverheiratet, und ein nicht geringes Nebeninteresse wird durch seine Beziehungen zu den ihm begegnenden Frauen erweckt, die er nicht nur nach detektivischen Gesichtspunkten beurteilt. Überhaupt erfährt man mehr über ihn, seine persönlichen Umstände und seine Herkunft als über die meisten Helden der Kriminalliteratur; etwa, daß er am Ende des Zweiten Weltkriegs als Sohn eines desertierten deutschen Soldaten und einer französischen Freiheitskämpferin geboren ist. Daher auch sein Abscheu vor dem Rechtsradikalismus. Bevor man ihn freilich der "political correctness" beschuldigt, sollte man sich überlegen, ob deren Gegenteil, die "political incorrectness", nicht noch schlimmer ist.
Sherlock Holmes ähnelt Kehlweiler am meisten durch seine unheimliche Gabe der Deduktion, die aus unscheinbaren Indizien schreckliche Zusammenhänge ableitet und aufklärt. Das kommt daher, daß er mit beiden Seiten seines Gehirns arbeitet, der rationalen, des kalten Kalküls fähigen und der divinatorischen, die ahnt und dumpf empfindet, ihn aber auf die rechte Fährte bringt. Durch ein winziges Knöchelchen, das er mit seinen Luchsaugen in einem halb vom Regen weggewaschenen Hundehaufen entdeckt, wird ein weit entfernt von Paris, in der Bretagne, geschehener Unfall zu einem Mord, den Kehlweiler mit verblüffendem Scharfsinn rekonstruiert und durch den nicht nur weit zurückliegende, unerkannte Untaten ans Tageslicht gezerrt, sondern neue, in der Zukunft liegende verhindert werden. Verfitzt mit diesen Ermittlungen sind alte Liebesgeschichten und während der NS-Zeit an Mitgliedern der Résistance verübte Verbrechen. Und so wird dieser Krimi sogar noch zum Polit-Thriller, der sich schürzende Knoten wird zu einem gewaltigen Knäuel, das Louis in einer seitenlangen Rede entwirrt. Auch dieser Erhellungsbericht gehört zu den Traditionen des Genres.
Es wäre töricht, die Verfasser von Detektivromanen wegen solcher Vorgegebenheiten zu verachten, ebenso wie es töricht wäre, etwa Hals-Nasen-Ohren-Ärzte geringer zu schätzen als die Ausüber einer anderen medizinischen Sparte. Wie Ärzte sind Krimiautoren Spezialisten, die als Professionelle nicht danach beurteilt werden sollten, was sie schreiben, sondern wie gut sie es machen. Wenn sie interessante Fälle konstruieren wie Frau Vargas, anziehende Gestalten einführen, Einblicke in ein Milieu vermitteln, fesselnde Gespräche erfinden, Anteilnahme und Spannung erzeugen und vielleicht sogar einen Schuß humaner Weltanschauung dazutun, dann erfüllen sie die Möglichkeiten, die in ihrem Fach stecken, und dürfen darin als Meister gelten.
EGON SCHWARZ
Fred Vargas: "Das Orakel von Port-Nicolas". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Tobias Scheffel. Aufbau-Verlag, Berlin 2001. 285 S., geb., 18,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Buch für Tüftler
Religionsunterricht betreiben, nennt die alte Marthe, die Hure, das Flipperspiel. Und neben Kreuzworträtsel lösen und eine ruhige Kugel schieben passiert erst mal nicht viel. Im zweiten Kapitel spricht ein Mörder über seine perfekten Morde. Wir sind in einem Krimi, aha.
Im dritten Kapitel geht es um die nummerierten Banken. Der deutsche Leser fragt sich, die Geldbanken oder die Sitzbanken.
Erst im vierten Kapitel betritt der Exkommissar Kehlweiler das Hauptkommissariat mit einem Verdacht.
Ein Buch für Tüftler, die zwischen den Zeilen der witzigen, ausschweifenden Dialoge nach einem Fall suchen können oder ein Buch für Frankreichliebhaber, die die umständliche Art zu erzählen lieben.
Frankreich-Urlaub der ganz besonderen Art
Der Fall wird gelöst, auch wenn er sich anfangs nur auf ein weißes winziges Fundstück beschränkt und einige falsche Fährten, wobei die Dialoge und Begegnungen das größte Verwirrspiel ausmachen.
Am Schluß gesteht nicht der Mörder, sondern der Exkommissar Kehlweiler breitet seine Beobachtungskunst aus, da hinzusehen, wo sonst keiner hinschaut. Es geht um eine geheimnisvolle Totenmaschine, um einen Hund, der einen Zeh im Maul trägt und sonstige verzwickte Angelegenheiten.
Kein Buch für ungeduldige Leser, die sich von Spannung fesseln lassen wollen.
Wer es gemütlich mag und verschrobene Typen liebt kann hier auf preiswerte Art Urlaub bei französischen Originalen machen.
(K. Ara, www.krimi-forum.de)
Religionsunterricht betreiben, nennt die alte Marthe, die Hure, das Flipperspiel. Und neben Kreuzworträtsel lösen und eine ruhige Kugel schieben passiert erst mal nicht viel. Im zweiten Kapitel spricht ein Mörder über seine perfekten Morde. Wir sind in einem Krimi, aha.
Im dritten Kapitel geht es um die nummerierten Banken. Der deutsche Leser fragt sich, die Geldbanken oder die Sitzbanken.
Erst im vierten Kapitel betritt der Exkommissar Kehlweiler das Hauptkommissariat mit einem Verdacht.
Ein Buch für Tüftler, die zwischen den Zeilen der witzigen, ausschweifenden Dialoge nach einem Fall suchen können oder ein Buch für Frankreichliebhaber, die die umständliche Art zu erzählen lieben.
Frankreich-Urlaub der ganz besonderen Art
Der Fall wird gelöst, auch wenn er sich anfangs nur auf ein weißes winziges Fundstück beschränkt und einige falsche Fährten, wobei die Dialoge und Begegnungen das größte Verwirrspiel ausmachen.
Am Schluß gesteht nicht der Mörder, sondern der Exkommissar Kehlweiler breitet seine Beobachtungskunst aus, da hinzusehen, wo sonst keiner hinschaut. Es geht um eine geheimnisvolle Totenmaschine, um einen Hund, der einen Zeh im Maul trägt und sonstige verzwickte Angelegenheiten.
Kein Buch für ungeduldige Leser, die sich von Spannung fesseln lassen wollen.
Wer es gemütlich mag und verschrobene Typen liebt kann hier auf preiswerte Art Urlaub bei französischen Originalen machen.
(K. Ara, www.krimi-forum.de)
»Die Krimis der Französin Fred Vargas gehören mit Sicherheit zu den poetischsten des Genres. « STERN 20070308