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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Unter dem Brennglas der Isolation: Tamara Bachs meisterliches Kinderbuch "Das Pferd ist ein Hund"
Wenn man so will, ist dies das erste bemerkenswerte Buch über den Lockdown. Von einem neuartigen Virus, das die Menschheit bedroht, ist zwar an keiner Stelle die Rede. Dafür ist es Winter und draußen so dermaßen kalt, dass Jungen und Alten dringend empfohlen wird, ihre gut geheizten Wohnungen nicht zu verlassen. Jeden Morgen werden im Radio neue Kälterekorde vermeldet, die Schulen geben den Kindern kältefrei. Und wer dachte, die Tiefwetterlage würde sich nach ein, zwei Tagen verziehen, der irrt sich.
So wird das Mietshaus, in dem die Ich-Erzählerin Clara wohnt, zu einem Mikrokosmos, dessen Bewohner, Beziehungen und Besonderheiten in der neu erzwungenen Innerlichkeit unters Brennglas geraten. Wer passt wann auf welche Kinder auf? Muss Mama sich mit ihrem oder Papa sich mit seinem Chef "auseinandersetzen", um ein paar Tage im Homeoffice zu bleiben? Wann haben die Kinder "Englisch online"? Wie ist das WLAN-Passwort? Das sind die vertrauten Fragen, die in dem neuen Buch von Tamara Bach verhandelt werden, die wieder einmal zeigt, warum sie mit ihren bislang fast ein Dutzend Kinder- und vor allem Jugendromanen alles gewonnen hat, was es in dieser literarischen Sparte zu holen gibt. Schon ihr Debütroman "Marsmädchen" (2003) wurde, wie der Carlsen Verlag hervorhebt, "als noch unveröffentlichtes Manuskript" mit dem Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet. Ihre Bücher "Was vom Sommer übrig blieb" (2012), "Marienbilder" (2014) und "Vierzehn" (2016) waren alle entweder für diverse Preise nominiert oder haben sie gleich gewonnen. Erst in diesem Jahr wurde der 1976 geborenen Autorin für ihr "beeindruckendes literarisches Werk" der James Krüss Preis zuerkannt.
Was ihr jüngstes Buch so beeindruckend macht, ist das besondere Zusammenspiel zwischen seiner vermeintlich einfachen Sprache und seinen komplexen Themen. Die Ich-Erzählerin Clara dürfte elf oder zwölf Jahre alt sein, mit ihren Augen blicken wir auf die Menschen in ihrer Umgebung. Auf ihre Mutter, den Stiefvater Gregor, die jüngere Halbschwester Luze und auf Vincent, der etwas älter ist und ein Stockwerk über ihr wohnt. "Vincent ist der schönste Junge auf der Welt", erzählt Clara und denkt an seine grünen Augen, "die sehen aus wie mit Filzstift ausgemalt". Auch seine Locken haben es ihr angetan, "die sind so korkenzieherig". Mit der umgangssprachlichen Syntax und den unbefangenen Wortneuschöpfungen orientiert sich der literarische Stil an der kindlichen Wahrnehmung. Die oft kristallklaren Metaphern verleihen ihm dabei eine Poesie, die diese Wahrnehmung empfänglich für viele Dinge macht, die sich eigentlich jenseits der Welt des Kindes abspielen. Clara spürt genau, wenn schlechte Stimmung in der Küche heraufzieht, weil Gregor lieber ins blubbernde Teewasser auf dem Herd starrt, als mit der Mutter auf Augenhöhe zu besprechen, wer bei den Kindern bleibt. Und Clara weiß auch, was in solchen Fällen zu tun ist.
Von außen betrachtet entsteht dabei der Eindruck, dass sie mehr Verantwortung übernimmt, als sie sollte. Wie hinreißend sie sich um ihre nicht minder hinreißende Schwester kümmert, die sich mit dem Lesenlernen schwertut; wie sie sich, bei aller Liebe, vor dem schönen Vincent aufbaut, als der von seinem Vater runtergebracht wird, um mit Clara und Luze die kalte Zeit zu verbringen, und sich sofort anschickt, mit präpubertärer Pose auf die beiden Mädchen herabzublicken; wie sie den verschlossenen Vincent dann doch ins Boot holt, bis aus den drei Kindern eine richtig gute Truppe wird; und auch wie sie die Störgeräusche im Klassenchat ihres Handys beiseiteschiebt und das Telefon einfach weglegt - all das macht sie zu einer Heldin, die vor allem deswegen zum Vorbild taugt, weil sie sich treu bleibt. Sie hört in sich hinein. Als einmal ihr leiblicher Vater anruft, sogar über Facetime, sodass sie ihn sehen kann, wird sie traurig, weil es so schwierig ist, ihm in wenigen Sätzen zu erklären, wie das Leben drinnen und ohne Schule ist. Dann verkriecht sie sich in ihrem Bett und schläft ein. Schläft fast einen ganzen Tag und hört die Mutter der besorgten Halbschwester wunderbar doppeldeutig zuflüstern: "Sie wächst."
Dabei kann auch Clara die Erwachsenen sehr gut lesen. Nicht nur die eigenen Eltern. Die Nachbarn, die gemeinsam eine schöne Hausgemeinschaft bilden und sich im Haus-Chat über alles Mögliche austauschen, sind vor dem kindlichen Blick nicht gefeit. Schon gar nicht, als die drei ein "Schulprojekt" erfinden, bei dem sie einen Dokumentarfilm über ihr Haus drehen müssen. Alle sollen mitmachen: Wo kommst du her? Wie bist du in diesem Haus gelandet? Wo willst du noch hin? Die Fragen sind einfach, aber schwer zu beantworten. Vor allem wenn man sie Erwachsenen stellt.
Im Laufe der Dreharbeiten lernen die Kinder das Haus, seine Bewohner und deren Geschichten kennen. Sie lernen, dass es unterschiedliche Arten gibt, die Fragen an sich heranzulassen. Gar nicht, so wie Vincents Vater, der sich hinter Allerweltsträumen verbirgt ("Fürs Alter könnte ich mir die Provence vorstellen"). Ein bisschen, wie die neu zugezogene Solveig, deren Wangen sogar rot werden ("Und Umstände haben es erlaubt, endlich den Schritt zu machen"). Oder viel mehr, als man erwartet hätte, wie das alte Ehepaar, mit dem nie jemand aus dem Haus-Chat ins Gespräch gekommen war, das aber nun seine ganze Liebesgeschichte offenbart, während die drei Kinder mit offenen Mündern vor ihm sitzen. So öffnen sich im tiefsten Winter die Türen. Man blickt in Wohnungswelten voller Fehl und Tadel und fühlt sich als Leser doch in ihnen geborgen. Was weniger an den Eltern liegt, die immer gleich weg sind, wenn die Handys piepsen. Es liegt vielmehr an Clara, Luze und Vincent, die nicht aufhören zu versuchen, die Welt, in der sie leben, besser zu machen, als sie ist. Und die auf diese Weise mitreißende Kräfte entwickeln. LENA BOPP
Tamara Bach: "Das Pferd ist ein Hund". Roman.
Carlsen Verlag, Hamburg 2021. 240 S., geb., 12,- Euro. Ab 10 J.
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