Schwebend leicht und doch mit existenzieller Wucht erzählt Przemek Zybowski in seinem Romandebüt von Diktatur, Flucht und einem Leben zwischen den Welten. "Das pinke Hochzeitsbuch" handelt von der Verlassenheit eines Jungen, die zugleich die Verlassenheit eines ganzen Landes ist - und von dem Versuch, die Bruchstücke der Vergangenheit zusammenzufügen.
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Wie ordnet man ein durcheinandergeratenes Leben? Przemek Zybowskis Debütroman "Das pinke Hochzeitsbuch"
Babcia nimmt wie immer kein Blatt vor den Mund. "Zu den Kreuzrittern? Noch schlimmer! Wahnsinnige! Zu den Helmuts, do Helmutów, do Szwabów, do Hitlerowców, do Gestapowców, ihr seid komplett wahnsinnig geworden", wettert die Großmutter am Telefon. Am anderen Ende der Leitung: ihre Hals über Kopf mit dem Ehemann in die Bundesrepublik geflohene Tochter. "Und was ist mit eurem Sohn?" Der siebenjährige Anhelli steht nämlich neben Babcia in Radomsko südwestlich von Lodz. Vor ihm liegt ein schlimmes Jahr in einem Polen, in dem General Jaruzelski gerade das Kriegsrecht aufgehoben hat - ein Jahr, das nicht zu enden scheint.
Przemek Zybowski hat mit Babcia und Anhelli ein starkes Paar in den Mittelpunkt seines Debütromans gestellt. Die Großmutter kämpft wie eine Löwin um das Wohl des zurückgelassenen Enkels. Er wird erst ein Jahr später zu den Eltern stoßen - und noch Jahrzehnte später allein sein, auch wenn er längst einen Mercedes fährt wie der Vater und Arzt ist wie dieser: Kontakt hat Anhelli, der sich in Deutschland Markus nennt, nur mit seinen Patienten. Als Babcia, in den Dreißigerjahren aus Frankreich eingewandert, gestorben ist, treffen Markus und die Eltern in Radomsko wieder aufeinander. Zybowski erzählt in stetem Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit von der schwärenden Wunde eines erschütterten Weltvertrauens.
Der Siebenjährige will die verschwundenen Eltern nicht am Telefon sprechen. Er sieht, wie seltsam sich Babcia verhält, wie sie in den Hörer schreit, dass dem mithörenden Geheimdienst UB die Ohren schmerzen dürften, wie sie alles hinwirft und auf dem Speicher hektisch hin- und herläuft. Der Enkel schlägt derweil Fliegen tot, glaubt sich von einem Göttervogel auserwählt und weiß schon nicht mehr, wie die Gesichter seiner Eltern aussehen. Die Verlassenheit hat begonnen.
Jahrzehnte später begegnen sich Eltern und Sohn in der Wohnung der Toten und streben sofort auseinander. Markus/Anhelli bleibt allein in Babcias Küche zurück, weiteren Verwandten und aufsteigenden Erinnerungen ausgesetzt. Und dem bohrenden Zweifel, ob die Chronologie seiner Erinnerungen stimmt.
Einst schrieb der Evangelist Markus die Worte des Apostels Paulus getreulich auf, nur nicht in der richtigen Reihenfolge. Der Psychiater, Theaterautor und Schauspieler Zybowski nutzt den Freibrief von höchster Stelle weidlich, um pointierte Episoden zu erzählen und sie sogleich mit dem Zweifel zu infizieren. Das Erzählen soll ein durcheinandergeratenes und in Stücke zerbrochenes Leben ordnen.
Anfangs sieht es reizvoll abenteuerlich aus. Der Priester soll den Jungen versteckt im Kofferraum eines Autos über die Grenze zu den Eltern schmuggeln. Dann erteilt der Geheimdienst UB die Erlaubnis zur ordnungsgemäßen Ausreise, zieht jedoch die frisch ausgestellten Reisepässe für Oma und Enkel bald wieder ein, worauf die Volksrepublikflüchtlinge einen Geheimdienstler einschalten, der ihnen einen Gefallen schuldet. Anhelli erwehrt sich derweil der Zudringlichkeiten einer Cousine und probiert mit dem Nachbarsmädchen eine der Stellungen im pinken Hochzeitsbuch aus. Später, als Student der Medizin in Deutschland schreibt er einen zwischen Anklage und Liebeserklärung schwankenden Brief an den Vater. Doch ob sich all das zugetragen hat und wann, weiß der erwachsene Markus nicht so recht und gesteht sich ein: "Der Rest ist erfunden."
Er ist gut erfunden. Eine emotionale Extremsituation für ein Kind, das mit fantastisch-magischen Wahrnehmungen reagiert, ein unzuverlässiger Erzähler, dazu die deutsch-polnische Geschichte vom Zweiten Weltkrieg und der NS- Judenermordung bis zur Endphase des Kalten Kriegs - die Ingredienzen für einen erfolgreichen Debütroman hat Zybowski beisammen. Wohl nicht aus Kalkül: Er teilt mit Markus/Anhelli die Herkunft aus Polen, die Übersiedlung in die BRD in den Achtzigerjahren und den Arztberuf.
Zybowski erzählt prägnant und dialogstark. Arg knallchargenhaft fallen allerdings die Rechtfertigungen der Eltern aus: "Wir sind gefahren, weil wir wollten, einfach so", behauptet der von den unausgesprochenen Vorwürfen des Sohnes genervte Vater, "aus purer Lust . . ." Die Verknüpfung der familiären Schuldgefühle mit den historischen misslingt leider völlig: In den USA, überlegt Markus, wäre das "Opfer des Sohns" für Haus und Auto sofort aufgefallen. "Erst die Flucht in das Land der Täter macht diese Sache komplex genug, um ihn mit Zweifeln und Schuldgefühlen kaltzustellen. Doch die Schuldgefühle sollten hinter dem glänzenden Blech verblassen." Warum aber sollte Markus Schuldgefühle wegen der deutschen NS-Geschichte verspüren, die dann ein von den Eltern ersehnter Mercedes verblassen lässt?
In der Wohnung der toten Großmutter sieht Markus als einziger Schriftzeichen an der Wand. Er schreibt die Buchstaben erst ab, dann ritzt und schabt er welche in den Putz. Die Eltern wühlen derweil in Babcias Hinterlassenschaften herum und vergessen darüber ein zweites Mal den in seine staubige Arbeit vertieften Sohn. Das teilweise selbst verfasste Menetekel höhlt die Wand aus, bis sie schwankend einstürzt. In einem starken Debüt bietet Przemek Zybowski dem Schrecken des Verlassenseins mit erstaunlichen phantastischen Einfällen Paroli. JÖRG PLATH
Przemek Zybowski:
"Das pinke
Hochzeitsbuch".
Roman.
Luchterhand
Literaturverlag, München 2022. 224 S., geb., 22,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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