Eine Bank wird überfallen und in der Folge die Angestellte Victoria vom Dienst beurlaubt, um ihr traumatisches Erlebnis zu verarbeiten. Eben erst in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, nutzt sie die Zeit, um das Bukarest ihrer Kindheit, aber auch der Gegenwart zu erkunden. Sie begegnet der alten Näherin auf ihrem Podest, dem Bankräuber, ihrem ehemaligen Liebhaber und dem Sohn der ermordeten Nachbarn wieder, während sie im heißesten Sommer seit Jahren im Cabrio durch die Stadt fährt mit ihrem Freund, der ihr einen Heiratsantrag macht.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die Kritik an der Selbsttäuschung der rumänischen Gesellschaft, die Dana Grigorcea in ihrem Roman "Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit" äußert, ließe sich ebenso gut auf ihr eigenes Buch anwenden, wundert sich Christopher Schmidt. Denn trotz einiger Warnungen vor der Unzuverlässigkeit der Erzählerin, einer als Bankerin zurückgekehrten Emigrantin, verschwimmen bei Grigorcea doch Fakt und Fiktion zu dem fantastischen Wirrwarr einer von Anachronismen durchzogenen Gegenwart, das den Blick auf die Wirklichkeit verstellt, erklärt der Rezensent. Gerade hier ist der blinde Fleck wenigstens der Erzählerin, die sich auf die Suche nach ihrer verlorenen Herkunft begibt, in die sie derart fantasierend noch immer ganz verstrickt ist, so Schmidt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.09.2015Hello, Bukarest!
Dana Grigorceas Rumänien-Roman "Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit"
Eine der berührenden, halb komischen, halb traurigen und zugleich absurden Szenen, von denen es in Dana Grigorceas Roman nicht wenige gibt, ist eine historische. Im Jahr 1992 besucht Michael Jackson Bukarest. Als die von der aufgewühlten Menge wie der leibhaftige Erlöser erwartete Pop-Ikone schließlich in Offiziersuniform auf den Balkon des Volkshauses tritt, begrüßt Jackson seine Fans - nachdem er zwei zarte "Huuhs" ins Mikrofon gehaucht hat - mit den Worten: "Hello, Budapest!" Danach ist es, erinnert sich Grigorceas Erzählerin Victoria, totenstill. Rumänien, gebeutelt durch die Jahre des Ceausescu-Regimes, mag den Westen herbeigeträumt haben. Umgekehrt hat es leider in dessen Wahrnehmungshorizont keinen Platz.
Für einen Auszug aus ihrem Roman wurde Dana Grigorcea, geboren 1979 in ebenjenem Bukarest und seit vielen Jahren in Zürich zu Hause, in diesem Jahr mit dem 3sat-Preis bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt ausgezeichnet. Und glücklicherweise erfüllt ihr nun erschienener Roman "Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit" die Erwartungen, die der Wettbewerbsbeitrag geschürt hat.
Victoria kehrt nach Jahren in der Schweiz in ihre rumänische Heimat zurück, um auch hier als Bankerin zu arbeiten, wird aber, nach einem Überfall ihrer Filiale, zu Zwangsurlaub und Gesprächstherapie genötigt. Diese Gespräche mit der reizenden älteren Therapeutin genauso wie die Fahrten mit ihrem Verlobten durch Bukarest werden zum Erzähl- und Erinnerungsanlass. Unzählige Anekdoten, kleine Szenen blitzen auf, ungeordnet, sprudeln aus dem Kontext gerissen hervor, so dass nach und nach ein, wenngleich kaum fixierbares Bild des Vorwende-Rumäniens entsteht, das nicht zuletzt die politischen Gängeleien, die Not, denen die Bewohner ausgesetzt werden, die Gefahren, die den Regime-Gegnern drohten, und die damit einhergehende Angst immer wieder aufscheinen lässt, ohne dass Dana Grigorcea die Trauer und die Wut darüber eigens erwähnen müsste.
Dana Grigorcea vertraut auf das Zufällige, auf die kleine Geschichte, und sie misstraut dem Anspruch auf unverrückbare Wahrheit. Die Vergangenheit hat sie eines Besseren belehrt. Was auf Bildschirmen gezeigt wird oder in Büchern geschrieben steht, hat allzu oft fatal wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Dass der erste Farbfernseher - eine Eigenkonstruktion eines Freundes der Eltern der Erzählerin - sein buntes Bild durch drei über den Bildschirm geklebten Folienstreifen erhält (rot, gelb, blau), ist nur die komischste unter diesen Verzerrungen der Wirklichkeit.
Auf diesem Bildschirm sehen die Eltern auch, wie die kleine Victoria auserwählt ist, Elena Ceausescu, die sich gern nur "die Mutter" nennen ließ, auf einer Parade Blumen zu überreichen. Das Konterfei dieser Mutter hängt im Zimmer des Mädchens und zeigt eine Frau, schön wie eine Fee, mit leuchtenden, großen Augen. In natura stellt sich das etwas anders dar. Hinter Victoria flattert ein Meer von roten Fahnen, vor ihr steht eine alte Frau mit Kartoffelnase, dem das Mädchen selbstverständlich den Blumenstrauß verweigert. Der Zeremonie tut das keinen Abbruch: Die sehr unfeenhafte Genossin Mutter reißt die Blumen an sich, von Victorias Kopfschütteln bleibt nur das fröhliche Schwingen ihrer Zöpfe und auf dem "Farbfernseher", vor dem die ganze Familie gebannt sitzt, ein blauer Blumenstrauß.
Es ist nur konsequent, dass Dana Grigorcea angesichts der Erfahrung dieses Auseinanderfallens von Realität und deren Darstellung in ihrem Roman das poetologische Prinzip der kleinen Form wählt, aus der sich langsam, aber nie endgültig ein Großes und Ganzes zusammensetzt. Und womöglich fällt das Erzählen, wo man nicht explizit verurteilen muss, auch ein wenig leichter. Was Dana Grigorcea jedoch zu erzählen hat, wird dadurch keineswegs weniger existentiell. Dass ihre Poesie zudem immerzu von leisem Humor grundiert wird, kann man kaum genug feiern. Hello, Bukarest!
WIEBKE POROMBKA
Dana Grigorcea: "Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit". Roman.
Dörlemann Verlag,
Zürich 2015. 263 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dana Grigorceas Rumänien-Roman "Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit"
Eine der berührenden, halb komischen, halb traurigen und zugleich absurden Szenen, von denen es in Dana Grigorceas Roman nicht wenige gibt, ist eine historische. Im Jahr 1992 besucht Michael Jackson Bukarest. Als die von der aufgewühlten Menge wie der leibhaftige Erlöser erwartete Pop-Ikone schließlich in Offiziersuniform auf den Balkon des Volkshauses tritt, begrüßt Jackson seine Fans - nachdem er zwei zarte "Huuhs" ins Mikrofon gehaucht hat - mit den Worten: "Hello, Budapest!" Danach ist es, erinnert sich Grigorceas Erzählerin Victoria, totenstill. Rumänien, gebeutelt durch die Jahre des Ceausescu-Regimes, mag den Westen herbeigeträumt haben. Umgekehrt hat es leider in dessen Wahrnehmungshorizont keinen Platz.
Für einen Auszug aus ihrem Roman wurde Dana Grigorcea, geboren 1979 in ebenjenem Bukarest und seit vielen Jahren in Zürich zu Hause, in diesem Jahr mit dem 3sat-Preis bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt ausgezeichnet. Und glücklicherweise erfüllt ihr nun erschienener Roman "Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit" die Erwartungen, die der Wettbewerbsbeitrag geschürt hat.
Victoria kehrt nach Jahren in der Schweiz in ihre rumänische Heimat zurück, um auch hier als Bankerin zu arbeiten, wird aber, nach einem Überfall ihrer Filiale, zu Zwangsurlaub und Gesprächstherapie genötigt. Diese Gespräche mit der reizenden älteren Therapeutin genauso wie die Fahrten mit ihrem Verlobten durch Bukarest werden zum Erzähl- und Erinnerungsanlass. Unzählige Anekdoten, kleine Szenen blitzen auf, ungeordnet, sprudeln aus dem Kontext gerissen hervor, so dass nach und nach ein, wenngleich kaum fixierbares Bild des Vorwende-Rumäniens entsteht, das nicht zuletzt die politischen Gängeleien, die Not, denen die Bewohner ausgesetzt werden, die Gefahren, die den Regime-Gegnern drohten, und die damit einhergehende Angst immer wieder aufscheinen lässt, ohne dass Dana Grigorcea die Trauer und die Wut darüber eigens erwähnen müsste.
Dana Grigorcea vertraut auf das Zufällige, auf die kleine Geschichte, und sie misstraut dem Anspruch auf unverrückbare Wahrheit. Die Vergangenheit hat sie eines Besseren belehrt. Was auf Bildschirmen gezeigt wird oder in Büchern geschrieben steht, hat allzu oft fatal wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Dass der erste Farbfernseher - eine Eigenkonstruktion eines Freundes der Eltern der Erzählerin - sein buntes Bild durch drei über den Bildschirm geklebten Folienstreifen erhält (rot, gelb, blau), ist nur die komischste unter diesen Verzerrungen der Wirklichkeit.
Auf diesem Bildschirm sehen die Eltern auch, wie die kleine Victoria auserwählt ist, Elena Ceausescu, die sich gern nur "die Mutter" nennen ließ, auf einer Parade Blumen zu überreichen. Das Konterfei dieser Mutter hängt im Zimmer des Mädchens und zeigt eine Frau, schön wie eine Fee, mit leuchtenden, großen Augen. In natura stellt sich das etwas anders dar. Hinter Victoria flattert ein Meer von roten Fahnen, vor ihr steht eine alte Frau mit Kartoffelnase, dem das Mädchen selbstverständlich den Blumenstrauß verweigert. Der Zeremonie tut das keinen Abbruch: Die sehr unfeenhafte Genossin Mutter reißt die Blumen an sich, von Victorias Kopfschütteln bleibt nur das fröhliche Schwingen ihrer Zöpfe und auf dem "Farbfernseher", vor dem die ganze Familie gebannt sitzt, ein blauer Blumenstrauß.
Es ist nur konsequent, dass Dana Grigorcea angesichts der Erfahrung dieses Auseinanderfallens von Realität und deren Darstellung in ihrem Roman das poetologische Prinzip der kleinen Form wählt, aus der sich langsam, aber nie endgültig ein Großes und Ganzes zusammensetzt. Und womöglich fällt das Erzählen, wo man nicht explizit verurteilen muss, auch ein wenig leichter. Was Dana Grigorcea jedoch zu erzählen hat, wird dadurch keineswegs weniger existentiell. Dass ihre Poesie zudem immerzu von leisem Humor grundiert wird, kann man kaum genug feiern. Hello, Bukarest!
WIEBKE POROMBKA
Dana Grigorcea: "Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit". Roman.
Dörlemann Verlag,
Zürich 2015. 263 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.09.2015Erinnerung als Rutschpartie
Dana Grigorcea flaniert an den Abgründen der rumänischen Geschichte
Victoria heißt die Ich-Erzählerin im zweiten Roman der in Rumänien geborenen und in der Schweiz lebenden Dana Grigorcea. Und siegreich ging auch die Autorin aus dem diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt hervor, wo sie mit einer Auskopplung aus ihrem Buch den 3sat-Preis gewann. Obwohl der Roman insgesamt nicht ganz hält, was der im Hinblick auf die Vortragssituation geschickt kompilierte Auszug versprochen hat, ist er an thematischer Relevanz, Erzählwitz und literarischer Durchtriebenheit den auf Performanz getrimmten „Germanisten-Pornos“ (so Preisträgerin Nora Gomringer), die in Klagenfurt den Ton angaben, klar überlegen.
Wie die Autorin ist auch ihre Protagonistin Victoria Ende der Siebzigerjahre geboren und irgendwann nach der Wende in den Westen gegangen. Als Bank-Direktorin und also im Tross der kapitalistischen Siegermächte kehrt sie in das Bukarest der Gegenwart zurück, wo sie in der restituierten elterlichen Wohnung im Regierungsbezirk Cotroceni Quartier bezieht. Zu Beginn der Handlung wird ihre Bank, in der man selbst die Sammelbüchse für den Tierschutz aus Angst vor Dieben versteckt, von einem Rentner überfallen. Dass die Erzählerin dem alten Mann später ganz selbstverständlich immer wieder bei verschiedenen gesellschaftlichen Anlässen begegnet, ist hier Teil der satirisch aufgefassten postsozialistischen Normalität.
Victoria aber wird fürs Erste beurlaubt und hat nun viel Zeit, durch das Viertel zu streifen, in dem sie aufgewachsen ist, wobei sich Erlebtes mit Erinnertem vermischt, aber ebenso mit Erträumtem und nur Herbeifantasiertem. Denn der Boden von „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“, so der Titel des Romans, ist nicht weniger rutschig als das von Lindenblüten verklebte Straßenpflaster. Dass Victoria sich von ihrem Verlobten gerne nicht in irgendeinem Auto, sondern in einem Aston Martin DB 5, einem veritablen James-Bond-Mobil, durch die Stadt kutschieren lässt, mag eine Anspielung auf ihre verborgenen Talente sein. Als Kind verhalf sie dank ihres phänomenalen Zahlengedächtnisses der Familie zu kostenlosen Busfahrten, indem sie die Ziffern auf den abgestempelten Tickets auswenig lernte. Victoria sei zur Securitate-Agentin geboren, stellt ihre Mutter fest.
In der Gegenwart aber ist sie als Agentin in eigener Sache im Einsatz. Auf der Suche nach der abgerissenen Verbindung zu ihrer Herkunft blickt sie auf ein Rumänien, in dem sich äußerlich alles, innerlich so gut wie nichts verändert hat. Anstelle des abgelösten kommunistischen Regimes teilen nun mafiöse Raubritter das Land untereinander auf. Der Alltag ist heute wie damals von unsentimentalem Durchwursteln mit spitzen Ellbogen bestimmt. Schon zu Zeiten Ceauşescus dämmerte das gehobene Cotroceni-Milieu, dem die Erzählerin entstammt, in einer eskapistischen Blase dahin und behauptete trotzig sein bourgeoises Selbstbild.
„Basse classe“ lautete von jeher die stehende Redewendung, mit der die Mutter als unpassend empfundenen Umgang disqualifizierte, Ehrgeiz gilt hier als „zu proletarisch“, und „die Kommunisten“, das sind immer die anderen. Im Übrigen schwelgt man in Schlagerseligkeit und trifft sich zu nostalgischen Fernsehabenden – wie überhaupt die Atmosphäre des Romans an alte französische Filme mit Alain Delon oder Jean-Paul Belmondo gemahnt.
Dass Rumänien in einer Zeitschleife festhängt, ist eines der Leitmotive des Romans. Einerseits ist da von „flachen Hierarchien“ und „Teambuilding“ die Rede, und die Straßencafés, in denen die Ray-Ban-Sonnenbrillen protzig auf den Bistrotischen liegen, sind wie überall mit „Aperol Spritz“ verseucht, andererseits ist es, ganz altmodisch, eine „Kaltmamsell“, die das Mode-Getränk serviert. In einem Kapitel erinnert sich Victoria an den ausgestorbenen Beruf der „Remailleuse“, die Laufmaschen in Seidenstrümpfen „repassierte“, also ausbesserte. Die Laufmasche gehört zu einem ganzen Arsenal defizitärer, vor allem medialer Technik, in deren Unvollkommenheit sich die verzerrte Wahrnehmung Rumäniens auf seine Geschichte und ihre „Unpässlichkeiten“ spiegelt.
Für die Mixtapes der ABBA-begeisterten kleinen Victoria beispielsweise existiert zwar – quasi als Sicherungskopie – eine CD, aber kein Gerät, um sie abzuspielen. Und einen Farbfernseher hat sich Rapineau, Freund der Familie und gar nicht so heimlicher Liebhaber der Mutter, selber gebastelt, indem er den Bildschirm mit bunten Folien beklebte. Dass dieser Rapineau später erschlagen wird, erwähnt Grigorcea nur beiläufig – und macht doch stets deutlich, welche Abgründe sich auftun unter den Boulevards, über die ihr Roman parliert und flaniert.
In einer Szene von gespenstischer Komik verirren sich die Kinder, die gerade den Grafen von Monte Christo gelesen haben, in den Gemäuern des Gefängnisses Doftana, in dem einst die politischen Gefangenen inhaftiert waren. Es ist der Tag, an dem sie in Anwesenheit des Ehepaars Ceauşescu bei den JungenPionieren aufgenommen werden. Ein Mitschüler steckt in den schmiedeeisernen Handfesseln fest und wird nach vergeblichen Versuchen der Lehrerin, ihn mit Spucke und Gewalt zu befreien, einfach zurückgelassen.
Jahre später steht nicht mehr der Staatspräsident auf dem Balkon des Parlamentspalasts, sondern der per Hubschrauber eingeflogene Michael Jackson, und er trägt, als wäre er ein historischer Wiedergänger, die Uniform der königlichen Garde. Als er jedoch die wartende Menschenmenge, die ihn wie einem Erlöser zujubelt, begrüßt, verwechselt er die Städte und ruft „Hello, Budapest! I love you!“ ins Mikro. Es ist der hochsymbolische Beginn der enttäuschten Hoffnungen nach der Wende.
Dana Grigorceas Technik der literarischen Überblendungvon Fakten und Fiktionen wirkt immer dann überzeugend, wenn es ihr gelingt, die Selbstfiktionalisierung der rumänischen Gesellschaft zu entlarven. Problematisch ist jedoch, dass die Autorin sich das märchenhafte Fabulieren, das ihre Figuren so vollendet beherrschen, auch selbst zu eigen macht. Trotz eingestreuter Hinweise, die den unzuverlässigen Status des Erzählten hervorheben, reproduziert sie damit formal das, was sie inhaltlich kritisiert. Letztlich ist ihre narrative Strategie daher eher Teil des Problems als Teil der Lösung. Was man nach der Lektüre des Romans besser versteht, ist vor allem, weshalb man den Balkan nicht versteht. Das titelgebende Primärgefühl der Schuldlosigkeit, das die Erzählerin für sich in Anspruch nimmt, lässt sich bestenfalls als Ironie auffassen. Denn auch dieser feingewirkte Roman hat eine Laufmasche. Doch für Erinnerungslücken gibt es keine Remailleuse.
CHRISTOPHER SCHMIDT
Als Michael Jackson „Hello“
sagte, verabschiedeten sich die
Hoffnungen nach der Wende
Dana Grigorcea.
Foto: Ayse Yavas
Dana Grigorcea: Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit. Roman. Dörlemann Verlag, Zürich 2015. 264 Seiten,
22 Euro. E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Dana Grigorcea flaniert an den Abgründen der rumänischen Geschichte
Victoria heißt die Ich-Erzählerin im zweiten Roman der in Rumänien geborenen und in der Schweiz lebenden Dana Grigorcea. Und siegreich ging auch die Autorin aus dem diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt hervor, wo sie mit einer Auskopplung aus ihrem Buch den 3sat-Preis gewann. Obwohl der Roman insgesamt nicht ganz hält, was der im Hinblick auf die Vortragssituation geschickt kompilierte Auszug versprochen hat, ist er an thematischer Relevanz, Erzählwitz und literarischer Durchtriebenheit den auf Performanz getrimmten „Germanisten-Pornos“ (so Preisträgerin Nora Gomringer), die in Klagenfurt den Ton angaben, klar überlegen.
Wie die Autorin ist auch ihre Protagonistin Victoria Ende der Siebzigerjahre geboren und irgendwann nach der Wende in den Westen gegangen. Als Bank-Direktorin und also im Tross der kapitalistischen Siegermächte kehrt sie in das Bukarest der Gegenwart zurück, wo sie in der restituierten elterlichen Wohnung im Regierungsbezirk Cotroceni Quartier bezieht. Zu Beginn der Handlung wird ihre Bank, in der man selbst die Sammelbüchse für den Tierschutz aus Angst vor Dieben versteckt, von einem Rentner überfallen. Dass die Erzählerin dem alten Mann später ganz selbstverständlich immer wieder bei verschiedenen gesellschaftlichen Anlässen begegnet, ist hier Teil der satirisch aufgefassten postsozialistischen Normalität.
Victoria aber wird fürs Erste beurlaubt und hat nun viel Zeit, durch das Viertel zu streifen, in dem sie aufgewachsen ist, wobei sich Erlebtes mit Erinnertem vermischt, aber ebenso mit Erträumtem und nur Herbeifantasiertem. Denn der Boden von „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“, so der Titel des Romans, ist nicht weniger rutschig als das von Lindenblüten verklebte Straßenpflaster. Dass Victoria sich von ihrem Verlobten gerne nicht in irgendeinem Auto, sondern in einem Aston Martin DB 5, einem veritablen James-Bond-Mobil, durch die Stadt kutschieren lässt, mag eine Anspielung auf ihre verborgenen Talente sein. Als Kind verhalf sie dank ihres phänomenalen Zahlengedächtnisses der Familie zu kostenlosen Busfahrten, indem sie die Ziffern auf den abgestempelten Tickets auswenig lernte. Victoria sei zur Securitate-Agentin geboren, stellt ihre Mutter fest.
In der Gegenwart aber ist sie als Agentin in eigener Sache im Einsatz. Auf der Suche nach der abgerissenen Verbindung zu ihrer Herkunft blickt sie auf ein Rumänien, in dem sich äußerlich alles, innerlich so gut wie nichts verändert hat. Anstelle des abgelösten kommunistischen Regimes teilen nun mafiöse Raubritter das Land untereinander auf. Der Alltag ist heute wie damals von unsentimentalem Durchwursteln mit spitzen Ellbogen bestimmt. Schon zu Zeiten Ceauşescus dämmerte das gehobene Cotroceni-Milieu, dem die Erzählerin entstammt, in einer eskapistischen Blase dahin und behauptete trotzig sein bourgeoises Selbstbild.
„Basse classe“ lautete von jeher die stehende Redewendung, mit der die Mutter als unpassend empfundenen Umgang disqualifizierte, Ehrgeiz gilt hier als „zu proletarisch“, und „die Kommunisten“, das sind immer die anderen. Im Übrigen schwelgt man in Schlagerseligkeit und trifft sich zu nostalgischen Fernsehabenden – wie überhaupt die Atmosphäre des Romans an alte französische Filme mit Alain Delon oder Jean-Paul Belmondo gemahnt.
Dass Rumänien in einer Zeitschleife festhängt, ist eines der Leitmotive des Romans. Einerseits ist da von „flachen Hierarchien“ und „Teambuilding“ die Rede, und die Straßencafés, in denen die Ray-Ban-Sonnenbrillen protzig auf den Bistrotischen liegen, sind wie überall mit „Aperol Spritz“ verseucht, andererseits ist es, ganz altmodisch, eine „Kaltmamsell“, die das Mode-Getränk serviert. In einem Kapitel erinnert sich Victoria an den ausgestorbenen Beruf der „Remailleuse“, die Laufmaschen in Seidenstrümpfen „repassierte“, also ausbesserte. Die Laufmasche gehört zu einem ganzen Arsenal defizitärer, vor allem medialer Technik, in deren Unvollkommenheit sich die verzerrte Wahrnehmung Rumäniens auf seine Geschichte und ihre „Unpässlichkeiten“ spiegelt.
Für die Mixtapes der ABBA-begeisterten kleinen Victoria beispielsweise existiert zwar – quasi als Sicherungskopie – eine CD, aber kein Gerät, um sie abzuspielen. Und einen Farbfernseher hat sich Rapineau, Freund der Familie und gar nicht so heimlicher Liebhaber der Mutter, selber gebastelt, indem er den Bildschirm mit bunten Folien beklebte. Dass dieser Rapineau später erschlagen wird, erwähnt Grigorcea nur beiläufig – und macht doch stets deutlich, welche Abgründe sich auftun unter den Boulevards, über die ihr Roman parliert und flaniert.
In einer Szene von gespenstischer Komik verirren sich die Kinder, die gerade den Grafen von Monte Christo gelesen haben, in den Gemäuern des Gefängnisses Doftana, in dem einst die politischen Gefangenen inhaftiert waren. Es ist der Tag, an dem sie in Anwesenheit des Ehepaars Ceauşescu bei den JungenPionieren aufgenommen werden. Ein Mitschüler steckt in den schmiedeeisernen Handfesseln fest und wird nach vergeblichen Versuchen der Lehrerin, ihn mit Spucke und Gewalt zu befreien, einfach zurückgelassen.
Jahre später steht nicht mehr der Staatspräsident auf dem Balkon des Parlamentspalasts, sondern der per Hubschrauber eingeflogene Michael Jackson, und er trägt, als wäre er ein historischer Wiedergänger, die Uniform der königlichen Garde. Als er jedoch die wartende Menschenmenge, die ihn wie einem Erlöser zujubelt, begrüßt, verwechselt er die Städte und ruft „Hello, Budapest! I love you!“ ins Mikro. Es ist der hochsymbolische Beginn der enttäuschten Hoffnungen nach der Wende.
Dana Grigorceas Technik der literarischen Überblendungvon Fakten und Fiktionen wirkt immer dann überzeugend, wenn es ihr gelingt, die Selbstfiktionalisierung der rumänischen Gesellschaft zu entlarven. Problematisch ist jedoch, dass die Autorin sich das märchenhafte Fabulieren, das ihre Figuren so vollendet beherrschen, auch selbst zu eigen macht. Trotz eingestreuter Hinweise, die den unzuverlässigen Status des Erzählten hervorheben, reproduziert sie damit formal das, was sie inhaltlich kritisiert. Letztlich ist ihre narrative Strategie daher eher Teil des Problems als Teil der Lösung. Was man nach der Lektüre des Romans besser versteht, ist vor allem, weshalb man den Balkan nicht versteht. Das titelgebende Primärgefühl der Schuldlosigkeit, das die Erzählerin für sich in Anspruch nimmt, lässt sich bestenfalls als Ironie auffassen. Denn auch dieser feingewirkte Roman hat eine Laufmasche. Doch für Erinnerungslücken gibt es keine Remailleuse.
CHRISTOPHER SCHMIDT
Als Michael Jackson „Hello“
sagte, verabschiedeten sich die
Hoffnungen nach der Wende
Dana Grigorcea.
Foto: Ayse Yavas
Dana Grigorcea: Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit. Roman. Dörlemann Verlag, Zürich 2015. 264 Seiten,
22 Euro. E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Es ist ein hinreißendes Rumänien-Porträt, das in der Erregung des rumänischen Volkes kulminiert, das sich nach Freiheit und Veränderung sehnt ...« Ijoma Mangold / Die Zeit
»Grigorcea baut mit poetischen Mitteln eine Welt der Gleichzeitigkeit im Ungleichzeitigen, sie schöpft aus der Komik das Todtraurige und hat einen Instinkt für den Irrwitz der Normalität und die Surrealität des Totalitären.« Roman Bucheli / Neue Zürcher Zeitung
»Ein wunderbar leichter, flirrender Roman darüber, dass man die Vergangenheit nicht zurückholen kann.« Christian Möller / WDR5
»Mit ihrem zweiten Roman Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit macht ... Dana Grigorcea klar: Sie ist eine der wichtigsten Stimmen der Schweizer Literatur.« Felix Schneider / SRF
»Dass ihre Poesie zudem immerzu von leisem Humor grundiert wird, kann man kaum genug feiern. Hello, Bukarest!« Wiebke Porombka / Frankfurter Allgemeine Zeitung
»Grigorcea baut mit poetischen Mitteln eine Welt der Gleichzeitigkeit im Ungleichzeitigen, sie schöpft aus der Komik das Todtraurige und hat einen Instinkt für den Irrwitz der Normalität und die Surrealität des Totalitären.« Roman Bucheli / Neue Zürcher Zeitung
»Ein wunderbar leichter, flirrender Roman darüber, dass man die Vergangenheit nicht zurückholen kann.« Christian Möller / WDR5
»Mit ihrem zweiten Roman Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit macht ... Dana Grigorcea klar: Sie ist eine der wichtigsten Stimmen der Schweizer Literatur.« Felix Schneider / SRF
»Dass ihre Poesie zudem immerzu von leisem Humor grundiert wird, kann man kaum genug feiern. Hello, Bukarest!« Wiebke Porombka / Frankfurter Allgemeine Zeitung