Ein 9000 Jahre altes Grab: eine Frau, ein Kind, die Todesumstände unbekannt. Von den Nazis entdeckt und für ihre Zwecke missbraucht, versank es in Vergessenheit. Ein Jahrhundert später macht sich ein Forscherteam daran, einen einzigartigen archäologischen Cold Case neu aufzurollen: den Fall der Schamanin von Bad Dürrenberg. Geleitet werden die Ermittlungen von einem der profiliertesten Archäologen Europas: Harald Meller, der die Himmelsscheibe von Nebra für die Öffentlichkeit rettete. Der Bestsellerautor Kai Michel ist hautnah dabei - und die Ergebnisse sind sensationell. Die Schamanin erweist sich als Schlüssel zu einer Zeit, in der sich das Schicksal der Menschheit entschied. Die Ermittlungen dringen vor zu den Wurzeln von Religion und Spiritualität und konfrontieren uns mit Fragen nach uns selbst und unserem Verhältnis zur Welt. Noch nie war Archäologie so aktuell und spannend wie im Fall dieser mächtigen und außergewöhnlichen Frau.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.01.2023Magie der
alten Dame
Wie erforscht und
erzählt man das Leben einer
9000 Jahre alten Leiche?
Was für eine Geschichte: Da wird 1934 bei Kanalarbeiten ein uraltes Grab, das mit reichen Beigaben ausgestattet ist, in Bad Dürrenberg in Sachsen-Anhalt gefunden. Sofort stürzen sich Prähistoriker der Nazis darauf, sehen in dem Fund den Urarier und glauben, damit den Beweis führen zu können, dass die Arier direkt hier in Mitteldeutschland „entstanden“ sind. Also keine Migration, sondern direkt aus Blut und Boden emporgewachsen. Das alles sind haltlose Behauptungen von sogenannten Wissenschaftlern, die entweder dem Amt Rosenberg zu Diensten waren oder den konkurrierenden Stellen des SS-Chefs Heinrich Himmler.
Alle sind sie vom Arierwahn so besessen, dass ihnen sogar entgeht, dass es sich um ein weibliches Skelett handelt und dass auch noch Knochen eines Kleinkindes dabei sind. Die grotesken Schriften der Naziforscher sind Dokumente von Ideologie, Willkür und Unwissenschaftlichkeit erster Güte. Manches davon befindet sich heute im Keller des Landesmuseums für Vor- und Frühgeschichte in Halle.
Von 2019 an wurde die alte Grabungsstätte erneut ausgegraben, dieses Mal nicht aus Not, sondern um möglichst alles noch Vorhandene und Übersehene zu bergen und richtig auszuwerten. Harald Meller, Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt und Direktor des Hallenser Museums, und Kai Michel, Historiker und Literaturwissenschaftler, haben nun – nach ihrem gemeinsamen Bestseller über die Himmelsscheibe von Nebra – die Geschichte jener ominösen Frau im Grab von Dürrenberg erzählt. Zugleich ist ihr neues Buch „Das Rätsel der Schamanin“ auch ein gedankenreicher und fesselnder Buch über all die modernen wissenschaftlichen Methoden, mit denen inzwischen schier Unglaubliches über jemanden, der vor mehr als 9000 Jahren gelebt hat, herauszubekommen ist. Archäogenetik heißt die chemische Analyse kleinster Partikel von Boden, Farbresten und Knochenteilchen.
Aber die Autoren versuchen im Buch auch mit großer Skepsis und Vorsicht die eigenen Schritte zu überprüfen, um nicht der Versuchung zu erliegen, mit Projektionen aus heutigen ethnografischen, soziologischen oder psychologischen Kenntnissen und Annahmen heraus die uralte Dame und ihre Lebensumstände zu erklären. So erläutern sie ausführlich den problematischen Gebrauch des Begriffs Schamane, der sofort bei der Hand ist, wenn ein so besonderes Grab gefunden wird.
Man erfährt, dass der Begriff aus der Sprache eines sibirischen Volkes entliehen ist und dass zuerst die Christianisierung, aber später auch die stalinistische Sowjetpolitik die sibirischen Schamanen auslöschen wollte. Ähnlich vielschichtig erklären die Autoren das Phänomen des Animismus von Pflanzen, Tieren, Landschaften und Gesteinen in heutigen Jäger- und Sammler-Populationen, ohne einfach 9000 Jahre zurück ins Mesolithikum zu schließen.
All das liest sich so spannend wie erhellend, allmählich wird einem die Dame sogar fast vertraut. Die genaue wissenschaftliche Untersuchung des Genoms ermöglicht es, sich auch optisch ein recht präzises Bild der alten Dürrenbergerin zu machen: helle Augen, dunkle Haut, dunkle Haare. Es sammeln sich im Laufe der Forschungen zudem viele harte Belege und sichere Indizien dafür, dass die Tote eine hochbedeutsame Person gewesen sein muss, sonst hätte es nie dieses bedeutende Grab an herausgehobener Lage gegeben. Und die vielen verschiedenen Beigaben zeugen davon, dass sie wohl „eine medizinische Expertin“ gewesen sein muss, vulgo eine Schamanin. Dass ihre Bedeutung von Generation zu Generation weitergeben wurde, zeigt sich auch daran, dass noch 600 Jahre später nahe ihrem Grab zwei Hirschgeweihmasken abgelegt wurden.
Meller und Michel scheuen sich auch nicht, Trance, Rausch, Reisen ins Jenseits, bewusstseinserweiternde Drogen, Meditation, Spiritualität und Religion zu diskutieren, Elemente, die sofort mit dem Schamanismus in Verbindung gebracht werden, den in den Sechzigern etwa der rumänische Religionswissenschaftler Mircea Eliade beschwor und so zu neuem Leben verhalf (das aber kaum noch etwas mit den sibirischen Ursprüngen des Phänomens zu tun hatte). So geraten die Autoren zwanglos vom menschheitsgeschichtlichen ins gesellschaftspolitische Philosophieren. Mit anderen Worten: Die Magie der alten Dame aus Bad Dürrenberg wirkt mit all ihren Beigaben bis heute. Und bei der Lektüre des Buches spürt man manchmal seltsam konkret, was die reich Bestattete aus dem Mesolithikum zu Lebzeiten unzweifelhaft gehabt haben muss: Charisma.
HARALD EGGEBRECHT
Archäogenetik ist die Analyse
kleinster Partikel von Boden,
Farbresten und Knochenteilchen
Harald Meller,
Kai Michel: Das Rätsel der Schamanin: Eine archäologische Reise zu unseren Anfängen. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 368 Seiten,
28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
alten Dame
Wie erforscht und
erzählt man das Leben einer
9000 Jahre alten Leiche?
Was für eine Geschichte: Da wird 1934 bei Kanalarbeiten ein uraltes Grab, das mit reichen Beigaben ausgestattet ist, in Bad Dürrenberg in Sachsen-Anhalt gefunden. Sofort stürzen sich Prähistoriker der Nazis darauf, sehen in dem Fund den Urarier und glauben, damit den Beweis führen zu können, dass die Arier direkt hier in Mitteldeutschland „entstanden“ sind. Also keine Migration, sondern direkt aus Blut und Boden emporgewachsen. Das alles sind haltlose Behauptungen von sogenannten Wissenschaftlern, die entweder dem Amt Rosenberg zu Diensten waren oder den konkurrierenden Stellen des SS-Chefs Heinrich Himmler.
Alle sind sie vom Arierwahn so besessen, dass ihnen sogar entgeht, dass es sich um ein weibliches Skelett handelt und dass auch noch Knochen eines Kleinkindes dabei sind. Die grotesken Schriften der Naziforscher sind Dokumente von Ideologie, Willkür und Unwissenschaftlichkeit erster Güte. Manches davon befindet sich heute im Keller des Landesmuseums für Vor- und Frühgeschichte in Halle.
Von 2019 an wurde die alte Grabungsstätte erneut ausgegraben, dieses Mal nicht aus Not, sondern um möglichst alles noch Vorhandene und Übersehene zu bergen und richtig auszuwerten. Harald Meller, Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt und Direktor des Hallenser Museums, und Kai Michel, Historiker und Literaturwissenschaftler, haben nun – nach ihrem gemeinsamen Bestseller über die Himmelsscheibe von Nebra – die Geschichte jener ominösen Frau im Grab von Dürrenberg erzählt. Zugleich ist ihr neues Buch „Das Rätsel der Schamanin“ auch ein gedankenreicher und fesselnder Buch über all die modernen wissenschaftlichen Methoden, mit denen inzwischen schier Unglaubliches über jemanden, der vor mehr als 9000 Jahren gelebt hat, herauszubekommen ist. Archäogenetik heißt die chemische Analyse kleinster Partikel von Boden, Farbresten und Knochenteilchen.
Aber die Autoren versuchen im Buch auch mit großer Skepsis und Vorsicht die eigenen Schritte zu überprüfen, um nicht der Versuchung zu erliegen, mit Projektionen aus heutigen ethnografischen, soziologischen oder psychologischen Kenntnissen und Annahmen heraus die uralte Dame und ihre Lebensumstände zu erklären. So erläutern sie ausführlich den problematischen Gebrauch des Begriffs Schamane, der sofort bei der Hand ist, wenn ein so besonderes Grab gefunden wird.
Man erfährt, dass der Begriff aus der Sprache eines sibirischen Volkes entliehen ist und dass zuerst die Christianisierung, aber später auch die stalinistische Sowjetpolitik die sibirischen Schamanen auslöschen wollte. Ähnlich vielschichtig erklären die Autoren das Phänomen des Animismus von Pflanzen, Tieren, Landschaften und Gesteinen in heutigen Jäger- und Sammler-Populationen, ohne einfach 9000 Jahre zurück ins Mesolithikum zu schließen.
All das liest sich so spannend wie erhellend, allmählich wird einem die Dame sogar fast vertraut. Die genaue wissenschaftliche Untersuchung des Genoms ermöglicht es, sich auch optisch ein recht präzises Bild der alten Dürrenbergerin zu machen: helle Augen, dunkle Haut, dunkle Haare. Es sammeln sich im Laufe der Forschungen zudem viele harte Belege und sichere Indizien dafür, dass die Tote eine hochbedeutsame Person gewesen sein muss, sonst hätte es nie dieses bedeutende Grab an herausgehobener Lage gegeben. Und die vielen verschiedenen Beigaben zeugen davon, dass sie wohl „eine medizinische Expertin“ gewesen sein muss, vulgo eine Schamanin. Dass ihre Bedeutung von Generation zu Generation weitergeben wurde, zeigt sich auch daran, dass noch 600 Jahre später nahe ihrem Grab zwei Hirschgeweihmasken abgelegt wurden.
Meller und Michel scheuen sich auch nicht, Trance, Rausch, Reisen ins Jenseits, bewusstseinserweiternde Drogen, Meditation, Spiritualität und Religion zu diskutieren, Elemente, die sofort mit dem Schamanismus in Verbindung gebracht werden, den in den Sechzigern etwa der rumänische Religionswissenschaftler Mircea Eliade beschwor und so zu neuem Leben verhalf (das aber kaum noch etwas mit den sibirischen Ursprüngen des Phänomens zu tun hatte). So geraten die Autoren zwanglos vom menschheitsgeschichtlichen ins gesellschaftspolitische Philosophieren. Mit anderen Worten: Die Magie der alten Dame aus Bad Dürrenberg wirkt mit all ihren Beigaben bis heute. Und bei der Lektüre des Buches spürt man manchmal seltsam konkret, was die reich Bestattete aus dem Mesolithikum zu Lebzeiten unzweifelhaft gehabt haben muss: Charisma.
HARALD EGGEBRECHT
Archäogenetik ist die Analyse
kleinster Partikel von Boden,
Farbresten und Knochenteilchen
Harald Meller,
Kai Michel: Das Rätsel der Schamanin: Eine archäologische Reise zu unseren Anfängen. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 368 Seiten,
28 Euro.
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«Ein spannendes Buch: Die Rekonstruktion einer detektivischen Meisterleistung, die in der jüngeren deutschen Archäologie ihresgleichen sucht.» Guido Kleinhubbert Der Spiegel 20221015
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Bad Dürrenberg in Sachsen-Anhalt war auch für Rezensent Harald Eggebrecht bis dato terra incognita. Umso faszinierter ist er von der Geschichte, die der Archäologe Harald Meller und der Historiker Kai Michel über eine 9000 Jahre alte Grabstelle erzählen, die 1934 entdeckt und von den Nazis postwendend als "Urarier"-Fund vereinnahmt wurde. Was es wirklich mit der Frau und dem Kind auf sich hatte, ist für Eggebrecht in zweifacher Hinsicht unbedingt lesenswert: Zum einen schafften die Autoren es, nach und nach ein Bild der Toten entstehen zu lassen. Zum anderen sei der Weg dorthin eine packende Beschreibung der wissenschaftlichen Methoden moderner Archäologie. Der Rezensent zieht vor allem den Hut, weil die forschenden Autoren ihre eigenen Erkenntnisse und die von Ethnografie, Soziologie und Psychologie immer wieder skeptisch reflektieren und die Leser damit vor Fallstricken der Geschichte warnen. "Spannend und erhellend", so Eggebrecht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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