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Ein konservativer Anarchist: Der französische Philosoph Jean-Claude Michéa weist der liberalen Gesellschaft ihre Widersprüche nach
Manchmal bedarf es wenig, um den Ruf eines Autors zu ruinieren. Ein Übersetzungsfehler zum Beispiel reicht. Das wäre jetzt dem französischen Philosophen Jean-Claude Michéa beinahe widerfahren. Ausgerechnet der Zeitschrift "konkret" war zu entnehmen, dass Marine Le Pen von den "vielen anregenden Gesprächen" schwärme, die sie mit Michéa geführt habe. Dies wäre genug, um aus dem Verfasser des in deutscher Fassung gerade erschienenen "Das Reich des kleineren Übels" einen Vordenker der rechten Front National zu machen. Gutgläubig hatte der "konkret"-Rezensent diese Information der deutschen Ausgabe der "Monde Diplomatique" entnommen. Nur hatte der dort zuständige Übersetzer einen Fehler gemacht. Im Originalartikel gab Frau Le Pen ihre Begeisterung für Diskussionen kund, die sie nicht mit, sondern, kleiner Unterschied, über Michéa geführt hatte. Der Philosoph hatte sich demnach also keineswegs desavouiert.
Diese Fehlleistung ist symptomatisch für die kontroverse Rezeption eines Denkers, der in vielerlei Hinsicht aus der Reihe tanzt. Angefangen damit, dass Michéa sich von der Pariser Intelligenzija fernhält und ein Fußballspiel seiner Lokalmannschaft glanzvollen Symposien vorzieht. Viele Jahre lehrte er an einem einfachen Gymnasium in Montpellier. So viel Provinzialität ist der gallischen Gelehrtenaristokratie ein klarer Beweis für Belang- und (schlimmer noch) Geschmacklosigkeit. Seine ersten Bücher, darunter ein böses Traktat gegen das moderne Bildungssystem, wurden ohne Marketing von einem regionalen Verlag veröffentlicht. Doch die große Nachfrage trug dazu bei, dass der kleine Verlag bald von dem renommierten Haus Flammarion übernommen wurde. Offenbar hatte Michéa, der gegen elitäres Denken und für einen "aufgeklärten Populismus" wirbt, einen öffentlichen Nerv getroffen.
Populismus wird ihm auch, allerdings nicht lobend, vom akademischen Mainstream zugeschrieben. Das wundert nicht weiter, liest man, wie genüsslich er heilige Kühe zu pieksen pflegt, heißen diese auch Bourdieu, Deleuze, Rancière oder Negri. Aber die Frontenbildung ist alles andere als willkürlich. Denn Michéas Essay, und damit verlassen wir den franko-französischen Mikrokosmos, ist eine ganzheitliche Abrechnung mit der liberalen Gesellschaft, ihre intellektuellen Verfechter eingeschlossen. Ein durchaus exzentrisches Unterfangen: Angesichts der hiesigen Meinungsvielfalt könnte man meinen, dass der Liberalismus das geworden sei, was Sartre einst vom Marxismus behauptete: der unüberschreitbare Horizont unserer Zeit. In den Medien wie in der Politik reicht die Meinungsvielfalt von linksliberalen bis zu bürgerlich-liberalen Schattierungen. Außerhalb dieses Spektrums werden nur Salafisten, Wutbürger und eben Le-Pen-Unterstützer vermutet.
Nach dem Untergang des Sozialismus und des Konservatismus sind gemäß dieser Vorstellung also die entscheidenden Bedingungen des Gemeinwesens geklärt und implementiert worden. Zur Debatte stehen nur noch wirtschaftliche und rechtliche Justierungen, die zwar endlos verhandelt werden, doch den vorgegebenen Rahmen niemals antasten. Da kann einem schon mulmig werden. Ein solcher Anspruch auf Endgültigkeit war bisher nur von totalitären Regimen bekannt. Die Frage ist also legitim, ob sich die liberale Idee nach dem Erreichen ihrer hegemonialen Position nicht in ihr Gegenteil verkehrt hat. Eine Lehre, die die freie Entfaltung der Entwürfe fördern sollte, ist in Einheitsdenken erstarrt. Es wäre an der Zeit, das scheinbar Selbstverständliche noch einmal zu überprüfen. Darum kommen auch im Deutschland der Großen Koalition Michéas provokante Thesen gelegen.
Freilich ist seit dem Ausbruch der Finanzkrise "Neoliberalismus" ein Schimpfwort geworden. Viele Autoren wie Thomas Piketty oder Joseph Vogl weisen auf die Refeudalisierung der Welt, die Abschaltung der Demokratie und die programmierte Lähmung des Wirtschaftskreislaufs hin. Aus solchen Diagnosen ragt "Das Reich des kleineren Übels" heraus, in dem Michéa den "bösen" Wirtschaftsliberalismus von dem "guten" Kulturliberalismus nicht trennen will. Beide werden in ihrer grundsätzlichen Einheit aufgefasst. Überzeugend stellt er dar, wie merkwürdig zwiespältig das linksliberale Narrativ ist. Die westliche Gesellschaft sei von zwei parallelen, doch entgegengesetzten Entwicklungslinien bestimmt, von "zwei Endlosigkeiten", wie er sie in Anlehnung an Blaise Pascal ironisch nennt: Auf der einen Seite entfalte sich die "schlechte Endlosigkeit" der kapitalistischen Anhäufung, auf der anderen Seite schreite die "positive" Entwicklung der Sitten, der Toleranz, der Vielfalt und des entsprechenden Konsumangebots immer weiter fort. Die eine Spur führe zu immer mehr Unsicherheit und Ungerechtigkeit, die andere zu erweiterter Emanzipation und Wahlfreiheit. Diese Spaltung von Wirtschaft und Kultur, oder wie es ein Marxist formulieren würde: von Unter- und Überbau, ist umso rätselhafter, als beide Tendenzen auf demselben philosophischen Fundament fußen.
Beide Entwicklungslinien beschreibt Michéa als komplementär. Schließlich behauptete Marx bereits im "Kommunistischen Manifest": Patriarchat, Fremdenhass, konservative Familienverhältnisse, spießbürgerliche Werte und althergebrachte Sittenkodizes, all diese Dinge werden von der Logik des Kapitals gnadenlos zerstört, ja in "dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt". In diesem Sinne hätte die "emanzipatorische" Linke genau die kulturellen Bedingungen geschaffen, die jener moderne Kapitalismus brauchte, den sie zu bekämpfen meinte. Sie hat sozusagen der Bourgeoisie dazu verholfen, zu sich zu kommen. Heute wird nichts mehr unternommen, um die sozialen Verhältnisse zu verändern. Dafür wird die Welt immer bunter, vielfältiger und gendergerechter.
Nur: Ist es überhaupt zulässig, von "dem" Liberalismus zu sprechen, wo es doch so viele, zum Teil widersprüchliche Auslegungen des Begriffs gibt? Da gibt Michéa das Argument listig zurück, das Liberale gern gegen den Sozialismus verwenden: Nicht auf die diversen Ideale und Prinzipien komme es an, sondern auf ihre einzig bekannte Konkretisierung, den "realexistierenden Liberalismus". Von den Absichten der Akteure abgesehen gebe es eine zwingende Logik, die von den theoretischen Prämissen zu ihrer aktuellen Umsetzung führt. Wie bei Judith Shklar wird der Ausgang der liberalen Idee auf die Furcht vor Religions- und Bürgerkriegen zurückgeführt. Ab dem 17. Jahrhundert gewinnen moralische Pessimisten die Überzeugung: Über die Kriterien und Bedingungen einer guten Gesellschaft werden sich Menschen nie einigen können. Viel besser ließe sich das Zusammenleben über wertneutrale, unpersönliche Mechanismen regulieren: den Markt und das Rechtssystem. Zum ersten Mal verzichtet eine politische Lehre auf die Definition der guten Lebensführung. Ähnlich wie die Straßenverkehrsordnung sorgen liberale Rechtsnormen ausschließlich dafür, dass die Regungen der Einzelnen nicht zusammenstoßen. So weit die Prinzipien, doch weist Michéa auf verheerende Resultate hin.
Der Verzicht auf moralische Übereinkünfte habe zur Folge: Solange es nicht strafbar ist, kann sich jedes noch so schädliche und asoziale Verhalten - die obszöne Gewinnsucht eines Bankers etwa - hemmungslos entfalten. Tendenziell bringt die egomane Freiheit eine "Kultur des Narzissmus" hervor (Michéa ist ein großer Bewunderer des Soziologen Christopher Lasch), in der "Toleranz" bestenfalls ein Kosename für gegenseitige Indifferenz ist. Der Andere wird nicht mehr als die Bedingung, sondern als die Grenze meiner Freiheit aufgefasst. Mit der Privatisierung ethischer Gefühle vermengen sich Interessenkonflikte zu einem "Krieg aller gegen alle per Rechtsanwalt", der immer mehr Normativität produziert. An diesem Prozess sind übrigens nicht nur überstaatliche Instanzen wie die EU-Kommission beteiligt, sondern auch Privatkonzerne wie Google. Da pointiert Michéa einen fundamentalen Widerspruch: Ursprünglich war die freiheitliche Lehre mit dem bescheidenen Anspruch angetreten, die Menschen so zu nehmen, wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollten. In der Praxis werden jedoch diese Menschen durch Normierungen und Verordnungen permanent aufgefordert, ihre vertraute (und per se "konservative") Denk- und Lebensweise aufzugeben, um sich der neuen Realität anzupassen.
Spätestens jetzt stellt sich die Frage, von welchem Standpunkt aus der Kritiker sich äußert. Einen historischen Bezug nimmt er auf die Frühsozialisten, die von einer Empörung gegen Individualismus und Unanständigkeit angetrieben waren (wofür sie später von Marxisten verlacht wurden). Michéa verweist auf die libertär-mutualistische Tradition der Arbeiterbewegung, die auf Moral und Erziehung Wert legte, ohne "wertkonservativ" zu sein. Wie die französischen Anti-Utilitaristen ist er der Auffassung, dass es unterhalb der auf Konkurrenz gründenden Struktur der Marktgesellschaft auch heute noch eine Bereitschaft der einfachen Leute zur Solidarität gibt. Sie sei es, die trotz aller Erosionserscheinungen die Gesellschaft noch zusammenhalte. Das wäre sein Populismus. "Je höher man empor steigt", sagt er, "desto dünner die moralische Luft."
Daher wundert es nicht, dass sein großes Vorbild George Orwell ist, der sich halb scherzend einen "konservativen Anarchisten" nannte. Von ihm hat Michéa den Begriff der "common decency" übernommen, eher als Kompass, um sich inmitten der ideologischen Wirbel zu orientieren. Auf die Frage, wie sich diese allgemeine Anständigkeit politisch artikulieren ließe, um die Aporien des Liberalismus zu überwinden, gibt das Buch freilich keine Auskunft.
GUILLAUME PAOLI
Jean-Claude Michéa: "Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesellschaft". Aus dem Französischen von Nicola Denis. Matthes & Seitz, 192 Seiten, 19,90 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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