In einer Phase von Selbstzweifeln und Depression gerät Emmanuel Carrère in eine Krise des Unglaubens. Er wendet sich dem Christentum zu und versucht, sich zum Glauben zu überzeugen. Nach einer Zeit der intensiven Auseinandersetzung mit den Ursprüngen des Christentums und dem Versuch, konsequent den christlichen Idealen zu folgen, gerät er in eine zweite Krise, eine Krise des Glaubens. In radikaler Ehrlichkeit stellt sich der vernunft- und psychoanalysegeprägte Pariser Intellektuelle der Gretchenfrage und der eigenen Tradition : Was bedeutet uns der Glaube, was uns persönlich und was unserer Gesellschaft ? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, vertieft er sich in die Anfänge des Christentums, er findet Identifikationsfiguren in Paulus, dem Revolutionär, Lukas, dem Intellektuellen und fragt nach der Kraft, mit der es ihnen gelang, etwas zu glauben, was niemand sonst glaubte und eine so machtvolle Tradition zu begründen. Er bringt diese überaus fesselnde frühe Geschichte des Christentums, voll politischer und gesellschaftlicher Unruhen und Intrigen, dem Leser so nahe, dass dieser unmittelbar herausgefordert wird, sein eigenes Verhältnis zur Tradition und zum Glauben zu hinterfragen. Carrère gelingt es in diesem einzigartigen und brisanten Buch, seine eigene Lebens- und Glaubensgeschichte mit der historischen Handlung zu verweben und den Leser mit den unendlichen Facetten des Glaubens und Nichtglaubens zu konfrontieren. Ob ablehnend oder bejahend : An den Fragen des Glaubens kommt heute niemand vorbei.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Wie glauben? Um diese Frage kreist das vorliegende Buch, erklärt Rezensentin Hanna Engelmeier. Sich diese Frage eindringlich zu stellen, dazu habe der Autor Emmanuel Carrère allen Grund, erfahren wir weiter: Im Zuge einer Lebenskrise wandte er sich in den 90ern Trost suchend dem Christentum zu, scheiterte aber daran, gläubig zu werden, was zur vorliegenden Auseinandersetzung mit den Lebensstationen zahlreicher, für den christlichen Glauben maßgeblicher Persönlichkeiten führte. Was sie selbst davon hält, bleibt jedoch unklar. Dass sie das Buch im folgenden eher lakonisch abhandelt - der Autor suche vor allem unexotische Orte auf, sein Fazit aus dieser Auseinandersetzung mit dem Glaube falle recht lapidar aus - lässt jedoch auf eine wenig ersprießliche Lektüre schließen. Ausdrückliches Lob findet immerhin die Übersetzung von Claudia Hamm.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2016Macht
euch
bereit!
Der französische Autor
Emmanuel Carrère erzählt
vom frühen Christentum
und von seiner eigenen
spirituellen Suche
VON ALEX RÜHLE
Ein Agnostiker, der einen weit ausgreifenden Roman über die Anfänge des Christentums schreibt. Der sich darüber hinaus nicht entblödet, eine eigene Sinn- und Schaffenskrise in diesen Text einzuweben, während er versuchte, sich durch den Glauben zu retten, täglich im Neuen Testament las, jeden Morgen zur Messe ging, strenges Bibelstudium betrieb. Das kann ja heiter werden. So eine Mischung aus „Quo vadis“ und sinnstiftendem Ratgeber.
In Frankreich muss man sich erst recht gewundert haben: Emmanuel Carrère? Der hat doch zuletzt mit „Amok“ die beklemmende Chronik eines fünffachen Mordes und seiner irrwitzigen Vorgeschichte vorgelegt, die sehr unheimliche, hervorragend recherchierte Biografie über einen französischen Hochstapler, der 15 Jahre lang als Arzt und Forscher durchgegangen war; als seine Lüge aufflog, erschoss der charmante Mann seine Frau, die drei Kinder und seine Eltern. Danach schrieb Carrère eine ähnlich eindrückliche und abgründige Romanbiografie über den russischen Schriftsteller, Nationalbolschewisten und Mystiker Eduard Limonow. Jetzt also „Le Royaume“. Das klingt erst mal wie eine dieser Sci-Fi-Sagas, in denen Weltraum-Hightech mit Mittelalter verschmilzt.
Stattdessen Paulus und Lukas. Die zweite Hälfte des ersten Jahrhunderts. Und minutiöse Textexegese: Apostelgeschichte, Lukasevangelium, Paulus’ Briefe an die ersten Gemeinden. Der Streit zwischen Jerusalem und dem bekehrten Paulus, der Jesus ja gar nie erlebt hat und dennoch durch seine feurigen Episteln zum Schriftführer der Geheimsekte wird. Die Etablierung des Abendmahls, das Wunder, dass aus dieser apokryphen, angefeindeten, zersprengten Gruppierung eine Weltreligion wurde – kurzum Themen, die man in spirituellen Nischenverlagen vermutet, publiziert in unverkäuflichen Broschüren. Es begab sich aber zu der Zeit, im Sommer 2014, dass aus einem einzelnen Manuskript viele Tausend Bücher wurden, „Das Reich Gottes“ schoss auf Platz eins der französischen Bestsellerlisten.
Carrère lockt seine Leser in diese ferne Zeit und fremde Gesinnungswelt, indem er mit seiner eigenen metaphysischen Sehnsucht und spirituellen Suche Anfang der Neunzigerjahre beginnt, einer Phase, in der er exerzitienartige Tagebücher führte, auf deren bigotten Ton er heute nur mit ironischem Befremden reagieren kann. Das ist deshalb so geschickt, weil er so einerseits signalisiert, dass er sich intensiv mit seinem Material beschäftigt hat, und gleichzeitig Entwarnung gibt: Ich werde euch nicht bekehren, schließlich bin ich selbst Agnostiker. Gleichzeitig tappt er aber auch nicht in die Falle des dünkelhaften Intellektuellen, der allen Glauben mokant weglächelt, im Gegenteil: „Ich glaube nicht, dass ein Mensch von den Toten zurückgekehrt ist. Aber man kann es glauben, und dass ich es selbst geglaubt habe, weckt meine Neugier, fasziniert mich, wirft mich aus der Bahn. Ich schreibe dieses Buch, um mir nicht einzubilden, als Nichtmehrgläubiger mehr zu wissen als jene, die glauben, und als ich, da ich selbst noch glaubte. Ich schreibe dieses Buch, um mir selbst nicht zu sehr recht zu geben.“
Angesichts dieses Bescheidenheitscredos ist es nur konsequent, dass Carrère das wenige, das wir zur Verfügung haben, nie mit hollywoodesk realistischen Sandalenszenen ausschmückt. Immer bleibt klar, dass hier einer Vermutungen anstellt, Sätze wie „Es erscheint mir plausibel“ oder „Mir gefällt folgende Möglichkeit“ bilden sein auktoriales Glaubens-Bekenntnis.
Ausgehend von der Apostelgeschichte, dem Lukasevangelium und Ernest Renans „Das Leben Jesu“, versucht Carrère, sich dem jungen Lukas an die Fersen zu heften, einem wortgewandten, griechischen Arzt, der hier zum Chronisten der Apostel wurde, weil ihn deren verrückte Lehre von der Umwertung aller Werte faszinierte. Die Schwachen werden die Starken, liebe deine Feinde. Paulus, dieser knorrige, unnachgiebige Mann mit dem lodernden Geist ist die Inkarnation dieser Umwertung, war er doch selbst einer der gnadenlosesten Christenverfolger, bis ihm auf der Straße von Damaskus Jesus erschienen ist.
Carrère stellt sich vor, dass Lukas Paulus eine Zeit lang auf dessen Reisen begleitet haben könnte. Er verortet seine beiden Helden in einer Kultur, die der unseren in manchem sehr ähnlich ist: Die Römer gingen an Glaubensdinge mit pragmatischem Kalkül heran, das an heutigen Laisser-faire-Laizismus erinnert: Lasst sie glauben, was sie wollen, solange sie Steuern zahlen, ist alles gut. Man zelebrierte Riten und opferte den Göttern, „aber man tat es etwa so, wie wir Weihnachten, Ostern oder Pfingsten feiern.“ Diesem Vakuum verdankte sich in Carrères Augen damals wie heute ein Interesse an den östlichen Religionen „und das Beste, was der Markt zu bieten hatte, war eben das Judentum“. Und plötzlich diese irrlichternden Typen, die sagen, der Messias sei schon da gewesen, gestorben, wieder auferstanden und er werde bald wiederkehren, macht euch bereit . . .
Diese theologisch euphorisierte Subkultur bettet Carrère tief ein in ihre Zeit, liefert eindrückliche Porträts von Nero, Vespasian und dem alten Seneca, der hier wie ein agnostischer Christ klingt. Vor allem aber schafft er es, in diesem merkwürdigen Zwitter aus Roman, philosophischem Essay, historischer Abhandlung und persönlicher Bilanz das nie zuvor Gehörte der Evangelien so herauszupräparieren, dass man das ungläubige Staunen damaliger Paulus-Leser nachempfinden kann. Wie gesagt, das könnte schnell nach Weihrauch riechen und nach Bekenntnisschwulst klingen, wäre da nicht dieser Humor, der immer wieder überraschend um die Ecke kommt, einmal sogar in Form eines New Yorker Taxis. Darin sitzen zwei berühmte Rabbis, die einander an devoter Bescheidenheit zu überbieten versuchen, ach Verehrtester, was bin ich schon, verglichen mit Ihnen . . . Irgendwann dreht sich der Taxifahrer um: „Seit zehn Minuten höre ich Ihnen zu, wie Sie einander als Nichtsnutze beschreiben. Aber was bin ich denn dann? Ein Garnnichtsnutz!“ Die Rabbiner halten verblüfft inne und raunen einander zu: „Was bildet denn der sich ein?“ Dazu Carrère: „Ich sehe Lukas als diesen Taxifahrer und Paulus als einen dieser Rabbis.“
Emmanuel Carrère: Das Reich Gottes. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2016. 524 Seiten, 24,90 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Es begab sich aber zu der Zeit,
im Sommer 2014, dass das Buch
die Bestsellerlisten erklomm
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euch
bereit!
Der französische Autor
Emmanuel Carrère erzählt
vom frühen Christentum
und von seiner eigenen
spirituellen Suche
VON ALEX RÜHLE
Ein Agnostiker, der einen weit ausgreifenden Roman über die Anfänge des Christentums schreibt. Der sich darüber hinaus nicht entblödet, eine eigene Sinn- und Schaffenskrise in diesen Text einzuweben, während er versuchte, sich durch den Glauben zu retten, täglich im Neuen Testament las, jeden Morgen zur Messe ging, strenges Bibelstudium betrieb. Das kann ja heiter werden. So eine Mischung aus „Quo vadis“ und sinnstiftendem Ratgeber.
In Frankreich muss man sich erst recht gewundert haben: Emmanuel Carrère? Der hat doch zuletzt mit „Amok“ die beklemmende Chronik eines fünffachen Mordes und seiner irrwitzigen Vorgeschichte vorgelegt, die sehr unheimliche, hervorragend recherchierte Biografie über einen französischen Hochstapler, der 15 Jahre lang als Arzt und Forscher durchgegangen war; als seine Lüge aufflog, erschoss der charmante Mann seine Frau, die drei Kinder und seine Eltern. Danach schrieb Carrère eine ähnlich eindrückliche und abgründige Romanbiografie über den russischen Schriftsteller, Nationalbolschewisten und Mystiker Eduard Limonow. Jetzt also „Le Royaume“. Das klingt erst mal wie eine dieser Sci-Fi-Sagas, in denen Weltraum-Hightech mit Mittelalter verschmilzt.
Stattdessen Paulus und Lukas. Die zweite Hälfte des ersten Jahrhunderts. Und minutiöse Textexegese: Apostelgeschichte, Lukasevangelium, Paulus’ Briefe an die ersten Gemeinden. Der Streit zwischen Jerusalem und dem bekehrten Paulus, der Jesus ja gar nie erlebt hat und dennoch durch seine feurigen Episteln zum Schriftführer der Geheimsekte wird. Die Etablierung des Abendmahls, das Wunder, dass aus dieser apokryphen, angefeindeten, zersprengten Gruppierung eine Weltreligion wurde – kurzum Themen, die man in spirituellen Nischenverlagen vermutet, publiziert in unverkäuflichen Broschüren. Es begab sich aber zu der Zeit, im Sommer 2014, dass aus einem einzelnen Manuskript viele Tausend Bücher wurden, „Das Reich Gottes“ schoss auf Platz eins der französischen Bestsellerlisten.
Carrère lockt seine Leser in diese ferne Zeit und fremde Gesinnungswelt, indem er mit seiner eigenen metaphysischen Sehnsucht und spirituellen Suche Anfang der Neunzigerjahre beginnt, einer Phase, in der er exerzitienartige Tagebücher führte, auf deren bigotten Ton er heute nur mit ironischem Befremden reagieren kann. Das ist deshalb so geschickt, weil er so einerseits signalisiert, dass er sich intensiv mit seinem Material beschäftigt hat, und gleichzeitig Entwarnung gibt: Ich werde euch nicht bekehren, schließlich bin ich selbst Agnostiker. Gleichzeitig tappt er aber auch nicht in die Falle des dünkelhaften Intellektuellen, der allen Glauben mokant weglächelt, im Gegenteil: „Ich glaube nicht, dass ein Mensch von den Toten zurückgekehrt ist. Aber man kann es glauben, und dass ich es selbst geglaubt habe, weckt meine Neugier, fasziniert mich, wirft mich aus der Bahn. Ich schreibe dieses Buch, um mir nicht einzubilden, als Nichtmehrgläubiger mehr zu wissen als jene, die glauben, und als ich, da ich selbst noch glaubte. Ich schreibe dieses Buch, um mir selbst nicht zu sehr recht zu geben.“
Angesichts dieses Bescheidenheitscredos ist es nur konsequent, dass Carrère das wenige, das wir zur Verfügung haben, nie mit hollywoodesk realistischen Sandalenszenen ausschmückt. Immer bleibt klar, dass hier einer Vermutungen anstellt, Sätze wie „Es erscheint mir plausibel“ oder „Mir gefällt folgende Möglichkeit“ bilden sein auktoriales Glaubens-Bekenntnis.
Ausgehend von der Apostelgeschichte, dem Lukasevangelium und Ernest Renans „Das Leben Jesu“, versucht Carrère, sich dem jungen Lukas an die Fersen zu heften, einem wortgewandten, griechischen Arzt, der hier zum Chronisten der Apostel wurde, weil ihn deren verrückte Lehre von der Umwertung aller Werte faszinierte. Die Schwachen werden die Starken, liebe deine Feinde. Paulus, dieser knorrige, unnachgiebige Mann mit dem lodernden Geist ist die Inkarnation dieser Umwertung, war er doch selbst einer der gnadenlosesten Christenverfolger, bis ihm auf der Straße von Damaskus Jesus erschienen ist.
Carrère stellt sich vor, dass Lukas Paulus eine Zeit lang auf dessen Reisen begleitet haben könnte. Er verortet seine beiden Helden in einer Kultur, die der unseren in manchem sehr ähnlich ist: Die Römer gingen an Glaubensdinge mit pragmatischem Kalkül heran, das an heutigen Laisser-faire-Laizismus erinnert: Lasst sie glauben, was sie wollen, solange sie Steuern zahlen, ist alles gut. Man zelebrierte Riten und opferte den Göttern, „aber man tat es etwa so, wie wir Weihnachten, Ostern oder Pfingsten feiern.“ Diesem Vakuum verdankte sich in Carrères Augen damals wie heute ein Interesse an den östlichen Religionen „und das Beste, was der Markt zu bieten hatte, war eben das Judentum“. Und plötzlich diese irrlichternden Typen, die sagen, der Messias sei schon da gewesen, gestorben, wieder auferstanden und er werde bald wiederkehren, macht euch bereit . . .
Diese theologisch euphorisierte Subkultur bettet Carrère tief ein in ihre Zeit, liefert eindrückliche Porträts von Nero, Vespasian und dem alten Seneca, der hier wie ein agnostischer Christ klingt. Vor allem aber schafft er es, in diesem merkwürdigen Zwitter aus Roman, philosophischem Essay, historischer Abhandlung und persönlicher Bilanz das nie zuvor Gehörte der Evangelien so herauszupräparieren, dass man das ungläubige Staunen damaliger Paulus-Leser nachempfinden kann. Wie gesagt, das könnte schnell nach Weihrauch riechen und nach Bekenntnisschwulst klingen, wäre da nicht dieser Humor, der immer wieder überraschend um die Ecke kommt, einmal sogar in Form eines New Yorker Taxis. Darin sitzen zwei berühmte Rabbis, die einander an devoter Bescheidenheit zu überbieten versuchen, ach Verehrtester, was bin ich schon, verglichen mit Ihnen . . . Irgendwann dreht sich der Taxifahrer um: „Seit zehn Minuten höre ich Ihnen zu, wie Sie einander als Nichtsnutze beschreiben. Aber was bin ich denn dann? Ein Garnnichtsnutz!“ Die Rabbiner halten verblüfft inne und raunen einander zu: „Was bildet denn der sich ein?“ Dazu Carrère: „Ich sehe Lukas als diesen Taxifahrer und Paulus als einen dieser Rabbis.“
Emmanuel Carrère: Das Reich Gottes. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2016. 524 Seiten, 24,90 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Es begab sich aber zu der Zeit,
im Sommer 2014, dass das Buch
die Bestsellerlisten erklomm
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»Man wird belohnt mit einem rasanten und lehrreichen Buch über das Christentum, die Bibelschreibung und den Glauben - und das ist ja eigentlich ein kleines Wunder.« - David Pfeifer, Süddeutsche Zeitung David Pfeifer SZ - Süddeutsche Zeitung Magazin 20170717