Ein herausragender Beitrag zur Erforschung von Bürokratie und Gewaltherrschaft im »Dritten Reich«. Die Arbeits- und Sozialpolitik spielte für das ideologische Selbstverständnis der NSDAP als Arbeiterpartei eine zentrale Rolle. Welche Stellung das Reichsarbeitsministerium im Kontext der NS-Herrschaft einnahm, wird seit 2013 im Rahmen eines Forschungsprojekts des Bundesarbeitsministeriums von einer unabhängigen Historikerkommission untersucht. Im ersten Band der Veröffentlichungen der Kommission werden die Forschungsergebnisse umfassend präsentiert. In den Blick genommen werden neben Behördenstruktur und Personal die Handlungsfelder des Ministeriums, die von der Arbeitsmarkt- und Tarifpolitik über das Sozialversicherungswesen bis zur Wohnungsbau- und Siedlungspolitik reichten. Zugleich wird die Rolle des Ministeriums im Rahmen der Kriegswirtschaft und in den besetzten Gebieten Europas zwischen 1939 und 1945 beleuchtet. Deutlich wird, dass die klassischen Verwaltungsapparate weitaus stärker in das NS-Regime und seine Verbrechen eingebunden waren als lange Zeit vermutet wurde. Die ministerielle Bürokratie kooperierte sogar eng mit den nationalsozialistischen Partei- und Sonderstäben. Damit werden bisherige Erklärungsmodelle, wie das einer »polykratischen« Herrschaft, in Frage gestellt.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2017Beamtenschaft, die alles macht...
Reichsarbeitsministerium und Nationalsozialismus: Unheilvolles Zusammenwirken
In den zwölf Jahren seiner Herrschaft entfaltete der Nationalsozialismus eine ungeheure Dynamik; er war von einer Rastlosigkeit und einem Aggressionspotential erfüllt, das alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte. Zur Erklärung dieses Umstandes wurden in der Forschung drei Erklärungsmodelle vorgelegt. Erstens: das Modell der charismatischen Herrschaft, die sich über staatliche und verfassungsrechtliche Barrieren durch die messianische Aura der Führergestalt, den populistischen Appell an die Massen und durch zahlreiche Führerbevollmächtigte einfach hinwegsetzte. Zweitens: die Etablierung eines sogenannten "Doppelstaates", in dem die althergebrachten staatlichen Institutionen und Bürokratien zwar weiterbestanden, jedoch durch einen rechtsfreien, die NS-Weltanschauung exekutierenden Maßnahmenstaat zunehmend zersetzt wurden. Und drittens: das polykratische Chaos mit unklaren, sich überschneidenden Zuständigkeiten, in dem die Satrapen und Paladine Hitlers um die Gunst des Diktators wetteiferten, sich im Konkurrenzkampf um die Macht kumulativ radikalisierten und dem ganzen System einen "unendlichen Progressus" einimpften, der weder moralische noch legale Barrieren kannte. Die etablierten Ministerien, Bürokratien und Beamten - so lange der Tenor der Forschung - unterlagen in diesem Geflecht antagonistisch-personaler Herrschaft nicht nur dem Druck der Selbstgleichschaltung, sie wurden als Träger staatlichen Handelns auch funktionslos.
Der Auftaktband der 2013 eingesetzten internationalen Historikerkommission, der die Geschichte des 1919 neu eingerichteten Reichsarbeitsministeriums untersucht, widerlegt diese vorherrschende Sichtweise. 13 Pionierstudien konzentrieren sich auf vier Forschungsfelder: auf die Behördenstruktur und das Personal des Ministeriums (Ulrike Schulz/Lisa-Maria Röhling/Rüdiger Hachtmann); auf seine politischen Handlungsebenen (Wohnungsbau/Karl Christian Führer, Rentenversicherung/Alexander Klimo, Arbeitsrecht/Sören Eden, Organisation der Kriegswirtschaft/Henry Marx); auf die Rolle der Behörde im Expansionskrieg, wobei, neben der Auslandspropaganda (Kiran Klaus Patel/Sandrine Knott), die Rekrutierung von Arbeitskräften aus den besetzten Gebieten (Elizabeth Harvey), die Kooperation mit Fritz Sauckel, dem Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz (Swantje Greve), sowie die Rolle des Ministeriums in den Gettos im Osten (Michael Wildt) im Zentrum stehen; auf die personelle Kontinuität nach 1945 in Form einer erfolgreich praktizierten Exkulpationsstrategie (Kim Christian Priemel) und der politischen Rehabilitierung der einstigen Funktionseliten in der Adenauerschen Bundesrepublik (Martin Münzel).
Die Resultate der breiten archivalischen Forschungstätigkeit sind ebenso beeindruckend wie innovativ, zumal - anders als auf dem Feld der gut ausgeleuchteten Sozial- und Arbeitspolitik des NS-Staates - hier zum ersten Mal das Reichsarbeitsministerium direkt ins Scheinwerferlicht gerät. Inmitten des polykratisch bestimmten Kräftefelds von Robert Leys Deutscher Arbeitsfront, dem Reichsarbeitsdienst von Konstantin Hierl, den sogenannten "Treuhändern der Arbeit", der NS-Volkswohlfahrt und der NS-Betriebszellenorganisationen war das Ministerium das Instrument für den radikalen Umbau des Weimarer Sozialsystems mit dem Ziel der Schaffung einer Volksgemeinschaft.
Anders als bislang angenommen, erfuhr die Behörde seit 1933 eine Ausweitung ihrer Kompetenzen und gestaltete mit ihren 16 Abteilungen, darunter die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, bis zum Krieg die gesamte Arbeits- und Sozialpolitik des Regimes federführend mit. Dieser Befund ist umso erstaunlicher, als der zuständige Minister, der ehemalige Stahlhelmführer Franz Seldte, schon 1938 den direkten Zugang zu Hitler verloren hatte, Robert Ley im Kriege nicht nur die Tarifpolitik, sondern auch den Siedlungsbau an sich zog, Görings Vierjahresplanbehörde die Arbeits- und Lohnpolitik bestimmte und mit dem Herrn über die Zwangsarbeiter, Fritz Sauckel, ab 1942 ein neuer konkurrierender Machtfaktor hinzukam. Für die Fortdauer der institutionellen Gestaltungsmacht waren andere Faktoren entscheidend: das effiziente Verwaltungshandeln und das Fachwissen der Amtsträger, die gebraucht wurden, um die vielen neuen Gesetze und Maßnahmen durchzusetzen; die ins Auge fallende personelle Kontinuität des Ressorts, dessen Anteil an Parteigenossen bis 1938 deutlich unter 20 Prozent lag; sowie die engmaschige Interaktion zwischen der Reichsbehörde und den ihr nachgeordneten Verwaltungseinheiten.
Die Rivalitäten und Kompetenzüberschneidungen wirkten somit nicht dysfunktional, indem sie das Handeln der Bürokratie zugunsten der Parteidienststellen aushebelten, sondern sie führten - wie Rüdiger Hachtmann in seinem fulminanten Beitrag zeigt - zu einem dynamischen Funktionswandel der staatlichen Strukturen, zu einem "hybriden Organisationstypus", der die traditionelle Abgrenzung von Bürokratie und Partei überwand. Es war also, wenn man diesem Erklärungsansatz folgt, nicht der Ämterdarwinismus allein, aus dem sich die Dynamik des nationalsozialistischen Staates speiste. Vielmehr ergab sich aus dem unheilvollen Zusammenwirken von Ministerialbürokratie, NS-Konkurrenzorganisationen und ideologischen Zielvorgaben der nationalsozialistischen Weltanschauung eine neue Form von Staatlichkeit, die die radikale Effizienz des Regimes zu erklären vermag. Ihre praktische Ausformung erfuhr sie auf diversen Handlungsfeldern: in den Anläufen zur Gründung einer "braunen" Internationale als Gegenpol zur International Labour Organization, eingebettet in langfristige Planungen zum Aufbau einer "völkischen" Sozialordnung für den Kontinent; in der Einbindung des Ministeriums in die Zwangsarbeiterrekrutierung von Belgien bis zum Generalgouvernement, bei der flächendeckend zum Auslandseinsatz abgeordnete Beamte aus Reichs-, Landes- und kommunalen Behörden über zwölf Millionen Menschen der Kriegswirtschaft zuführten; sowie schließlich in den Gettos des Reichsgaus Wartheland, des Generalgouvernements und Litauens, wo Ministerialbeamte die arbeitsfähigen Juden erfassten oder der Vernichtung preisgaben.
Von alldem, das zeigen die Forschungen deutlich, war bei den Nürnberger Prozessen keine Rede. Vielmehr gelang es Seldte und seinen Führungskräften, die eigene Verstrickung zu verschleiern und die Verantwortung ganz auf Sauckel und Albert Speer abzuwälzen. Somit blieb den hohen Beamten des Reichsarbeitsministeriums eine Anklage erspart, und der Weg war frei für eine Rehabilitierung in der Ära Adenauer. Schon 1953 belief sich der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder in der Spitze des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales auf mehr als die Hälfte. Und bis 1960 erhöhte er sich auf über 70 Prozent.
RAINER F. SCHMIDT
Alexander Nützenadel (Hrsg.): Das Reichsarbeitsministerium im Nationalsozialismus. Verwaltung - Politik - Verbrechen. Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 592 S., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Reichsarbeitsministerium und Nationalsozialismus: Unheilvolles Zusammenwirken
In den zwölf Jahren seiner Herrschaft entfaltete der Nationalsozialismus eine ungeheure Dynamik; er war von einer Rastlosigkeit und einem Aggressionspotential erfüllt, das alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte. Zur Erklärung dieses Umstandes wurden in der Forschung drei Erklärungsmodelle vorgelegt. Erstens: das Modell der charismatischen Herrschaft, die sich über staatliche und verfassungsrechtliche Barrieren durch die messianische Aura der Führergestalt, den populistischen Appell an die Massen und durch zahlreiche Führerbevollmächtigte einfach hinwegsetzte. Zweitens: die Etablierung eines sogenannten "Doppelstaates", in dem die althergebrachten staatlichen Institutionen und Bürokratien zwar weiterbestanden, jedoch durch einen rechtsfreien, die NS-Weltanschauung exekutierenden Maßnahmenstaat zunehmend zersetzt wurden. Und drittens: das polykratische Chaos mit unklaren, sich überschneidenden Zuständigkeiten, in dem die Satrapen und Paladine Hitlers um die Gunst des Diktators wetteiferten, sich im Konkurrenzkampf um die Macht kumulativ radikalisierten und dem ganzen System einen "unendlichen Progressus" einimpften, der weder moralische noch legale Barrieren kannte. Die etablierten Ministerien, Bürokratien und Beamten - so lange der Tenor der Forschung - unterlagen in diesem Geflecht antagonistisch-personaler Herrschaft nicht nur dem Druck der Selbstgleichschaltung, sie wurden als Träger staatlichen Handelns auch funktionslos.
Der Auftaktband der 2013 eingesetzten internationalen Historikerkommission, der die Geschichte des 1919 neu eingerichteten Reichsarbeitsministeriums untersucht, widerlegt diese vorherrschende Sichtweise. 13 Pionierstudien konzentrieren sich auf vier Forschungsfelder: auf die Behördenstruktur und das Personal des Ministeriums (Ulrike Schulz/Lisa-Maria Röhling/Rüdiger Hachtmann); auf seine politischen Handlungsebenen (Wohnungsbau/Karl Christian Führer, Rentenversicherung/Alexander Klimo, Arbeitsrecht/Sören Eden, Organisation der Kriegswirtschaft/Henry Marx); auf die Rolle der Behörde im Expansionskrieg, wobei, neben der Auslandspropaganda (Kiran Klaus Patel/Sandrine Knott), die Rekrutierung von Arbeitskräften aus den besetzten Gebieten (Elizabeth Harvey), die Kooperation mit Fritz Sauckel, dem Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz (Swantje Greve), sowie die Rolle des Ministeriums in den Gettos im Osten (Michael Wildt) im Zentrum stehen; auf die personelle Kontinuität nach 1945 in Form einer erfolgreich praktizierten Exkulpationsstrategie (Kim Christian Priemel) und der politischen Rehabilitierung der einstigen Funktionseliten in der Adenauerschen Bundesrepublik (Martin Münzel).
Die Resultate der breiten archivalischen Forschungstätigkeit sind ebenso beeindruckend wie innovativ, zumal - anders als auf dem Feld der gut ausgeleuchteten Sozial- und Arbeitspolitik des NS-Staates - hier zum ersten Mal das Reichsarbeitsministerium direkt ins Scheinwerferlicht gerät. Inmitten des polykratisch bestimmten Kräftefelds von Robert Leys Deutscher Arbeitsfront, dem Reichsarbeitsdienst von Konstantin Hierl, den sogenannten "Treuhändern der Arbeit", der NS-Volkswohlfahrt und der NS-Betriebszellenorganisationen war das Ministerium das Instrument für den radikalen Umbau des Weimarer Sozialsystems mit dem Ziel der Schaffung einer Volksgemeinschaft.
Anders als bislang angenommen, erfuhr die Behörde seit 1933 eine Ausweitung ihrer Kompetenzen und gestaltete mit ihren 16 Abteilungen, darunter die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, bis zum Krieg die gesamte Arbeits- und Sozialpolitik des Regimes federführend mit. Dieser Befund ist umso erstaunlicher, als der zuständige Minister, der ehemalige Stahlhelmführer Franz Seldte, schon 1938 den direkten Zugang zu Hitler verloren hatte, Robert Ley im Kriege nicht nur die Tarifpolitik, sondern auch den Siedlungsbau an sich zog, Görings Vierjahresplanbehörde die Arbeits- und Lohnpolitik bestimmte und mit dem Herrn über die Zwangsarbeiter, Fritz Sauckel, ab 1942 ein neuer konkurrierender Machtfaktor hinzukam. Für die Fortdauer der institutionellen Gestaltungsmacht waren andere Faktoren entscheidend: das effiziente Verwaltungshandeln und das Fachwissen der Amtsträger, die gebraucht wurden, um die vielen neuen Gesetze und Maßnahmen durchzusetzen; die ins Auge fallende personelle Kontinuität des Ressorts, dessen Anteil an Parteigenossen bis 1938 deutlich unter 20 Prozent lag; sowie die engmaschige Interaktion zwischen der Reichsbehörde und den ihr nachgeordneten Verwaltungseinheiten.
Die Rivalitäten und Kompetenzüberschneidungen wirkten somit nicht dysfunktional, indem sie das Handeln der Bürokratie zugunsten der Parteidienststellen aushebelten, sondern sie führten - wie Rüdiger Hachtmann in seinem fulminanten Beitrag zeigt - zu einem dynamischen Funktionswandel der staatlichen Strukturen, zu einem "hybriden Organisationstypus", der die traditionelle Abgrenzung von Bürokratie und Partei überwand. Es war also, wenn man diesem Erklärungsansatz folgt, nicht der Ämterdarwinismus allein, aus dem sich die Dynamik des nationalsozialistischen Staates speiste. Vielmehr ergab sich aus dem unheilvollen Zusammenwirken von Ministerialbürokratie, NS-Konkurrenzorganisationen und ideologischen Zielvorgaben der nationalsozialistischen Weltanschauung eine neue Form von Staatlichkeit, die die radikale Effizienz des Regimes zu erklären vermag. Ihre praktische Ausformung erfuhr sie auf diversen Handlungsfeldern: in den Anläufen zur Gründung einer "braunen" Internationale als Gegenpol zur International Labour Organization, eingebettet in langfristige Planungen zum Aufbau einer "völkischen" Sozialordnung für den Kontinent; in der Einbindung des Ministeriums in die Zwangsarbeiterrekrutierung von Belgien bis zum Generalgouvernement, bei der flächendeckend zum Auslandseinsatz abgeordnete Beamte aus Reichs-, Landes- und kommunalen Behörden über zwölf Millionen Menschen der Kriegswirtschaft zuführten; sowie schließlich in den Gettos des Reichsgaus Wartheland, des Generalgouvernements und Litauens, wo Ministerialbeamte die arbeitsfähigen Juden erfassten oder der Vernichtung preisgaben.
Von alldem, das zeigen die Forschungen deutlich, war bei den Nürnberger Prozessen keine Rede. Vielmehr gelang es Seldte und seinen Führungskräften, die eigene Verstrickung zu verschleiern und die Verantwortung ganz auf Sauckel und Albert Speer abzuwälzen. Somit blieb den hohen Beamten des Reichsarbeitsministeriums eine Anklage erspart, und der Weg war frei für eine Rehabilitierung in der Ära Adenauer. Schon 1953 belief sich der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder in der Spitze des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales auf mehr als die Hälfte. Und bis 1960 erhöhte er sich auf über 70 Prozent.
RAINER F. SCHMIDT
Alexander Nützenadel (Hrsg.): Das Reichsarbeitsministerium im Nationalsozialismus. Verwaltung - Politik - Verbrechen. Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 592 S., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die Studien sind quellengesättigt, auf dem Stand der Forschung und durchgängig prägnant in Argumentation und Stil.« (Dr. Sebastian Felz, webcritics.de, 13.11.2017) »Die Resultate der breiten archivalischen Forschungstätigkeit sind ebenso beeindruckend wie innovativ« (Rainer F. Schmidt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.12.2017) »eine verdienstvolle Dokumentation über einen wichtigen Teil der Reichsverwaltung im NS-Staat« (Diemut Majer, Journal der Juristischen Zeitgeschichte 2/2020)