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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Von der Konkurrenz sexueller und politischer Identitätsfindung: Pirkko Saisios autobiographischer Roman "Das rote Buch der Abschiede"
"Die Grunderfahrung meines Lebens scheint zu sein, dass ich nirgendwo richtig hinpasse", schreibt die finnische Schriftstellerin Pirkko Saisio im Vorwort zu ihrem "Roten Buch der Abschiede". Es ist der letzte Teil einer autobiographischen Trilogie, der in Finnland bereits 2003, hier aber erst jetzt und vor den anderen beiden Bänden erscheint. Eine der vielen Wieder- und Neuentdeckungen also, nach denen alle Verlage gerade suchen. Nur dass Saisio nicht wie viele andere Autoren längst tot, sondern noch immer bei der Arbeit ist und also ein neues Nachwort zu ihrem zwanzig Jahre alten Buch schreiben kann. Zu einem Roman, wie unter dem Titel der deutschen Ausgabe steht, obwohl die Aufmachung die autobiographischen Elemente des Buchs betont: Auf den ersten Seiten sind Fotos der Autorin abgedruckt, die sie mit ihrer Tochter und als Schauspielerin zeigen - Szenen, die auch im Buch eine Rolle spielen.
"Das rote Buch der Abschiede" erstreckt sich über die Jahre der Erzählerin als junge Erwachsene, in denen eine ganze Menge passiert ist. Saisio entdeckt ihre lesbische Sexualität, als diese in Finnland noch strafbar ist, und verlässt das Elternhaus, um mit ihrer ersten Freundin zusammenzuleben. Sie studiert an Universität und Schauspielschule, wo sie ihre große Liebe Havva kennenlernt, von der sie verlassen wird, als die gemeinsam gewünschte Tochter, das "Sonntagskind", zur Welt kommt. Die Erzählerin bleibt alleinerziehend zurück und vergeht vor Liebeskummer; es ist nur einer in einer ganzen Reihe von Abschieden, die sie mit den Jahren hinnehmen muss - "man gewöhnt sich an alles, nur nicht an die Liebe". Und so sind die Szenen der Trennung von einer Traurigkeit, die vergessen lässt, das zwischen ihr und der 2002 spielenden Rahmenerzählung um die zwanzig Jahre liegen.
Saisio erzählt diese Geschichte, die nicht nur eine persönliche Entwicklungsgeschichte, sondern auch ein Porträt Finnlands in den späten Sechziger-, Siebziger- und frühen Achtzigerjahren ist, unchronologisch: Sie springt zwischen Lebensabschnitten und Jahrzehnten hin und her. In der Anfangsszene steht sie im August 2002 im Urlaub vor einer toten Robbe und muss ihrem Lektor mitteilen, dass sie an jenem Morgen ihr gesamtes, bereits fertiges Manuskript aus Versehen gelöscht hat. Unwiederbringlich. Nicht nur aus technischen Gründen: "Auch ich werde eine andere sein, unweigerlich, und Das rote Buch der Abschiede, das ich noch einmal schreibe, ist ein anderes als Das rote Buch der Abschiede, dass am siebten August um fünf Uhr morgens verschwand." Schon deshalb ist dieses Buch ein Roman, der anhand von assoziativen Verkettungen, von Träumen und aufkommenden Erinnerungsfetzen die eigene Jugend aus Sicht der viel älteren Schreibenden rekonstruiert: "Die Erinnerung trägt Mitbringsel aus der Gegenwart zurück in die Vergangenheit."
"Das rote Buch der Abschiede" erscheint zu einem günstigen Zeitpunkt. Nicht nur, weil es sich in die zahlreichen autofiktionalen Romane einreiht, die seit ein paar Jahren erscheinen, und eine weibliche, noch dazu lesbische Entwicklungsgeschichte erzählt. Sondern auch wegen jenes Satzes, den Saisio in ihrem Vorwort schreibt. Wegen des Gefühls, nie ganz dazuzugehören, obwohl sie das inzwischen, als eine der berühmtesten Autorinnen Finnlands, ja irgendwie doch tut. Die Autorin hat - wie viele Menschen - unterschiedliche Identitäten, die sie prägen und dabei nicht recht zueinander passen. Als junges Mädchen geht sie gern in die Kirche und stellt Fragen nach Gott, was weder ihrem kommunistischen Elternhaus, noch ihrer späteren sexuellen Orientierung entspricht. Diese wiederum, die Homosexualität, ist in Saisios Jahren an der Universität auch für die Kommunisten ein Problem: für ihre Eltern, aber auch für die politischen Gruppen, die als "humorloser Torpedo" im Uni-Umfeld die Macht übernehmen. Als ein Gremium an der Schauspielschule die Arbeit der Studierenden beurteilen soll, bekommt Saisio zwar Lob für ihre Leistung, aber ihr Privatleben soll sie ändern, ihre Beziehung zu Havva beenden: "Jeder einzelne Stein in der Mauer trägt sozusagen zum Gesicht der Revolution bei. Und auch umgekehrt: Jeder trägt mit fragwürdigem Verhalten zu Zweifeln an der revolutionären Sache bei." Eine lesbische Beziehung ist aus Sicht des Gremiums deshalb fragwürdig, weil die Belange von Minderheiten das Ziel der Mehrheit, den Sozialismus, torpedieren.
Es sind solche Fragen nach dem Verhältnis des Individuums zur Gruppe und zur Gesellschaft, die das Buch aktuell machen. Inwiefern sollte unsere Identität den politischen Diskurs bestimmen? Und wie können wir unsere unterschiedlichen Identitäten miteinander vereinen? Für die Erzählerin ist sowohl ihre politische Sozialisation als auch ihre sexuelle Orientierung prägend. Sie teilt die sozialistischen Ziele, aber will die resultierenden Konsequenzen für sich nicht akzeptieren: "Es könnte doch schließlich sein, dass wir hier alle schön gemeinsam ein Haus bauen, aber wenn's fertig ist, lassen sie uns nur einen Kopf kürzer rein."
Die Beziehung zu Havva ist für die Erzählerin schon beim Kennenlernen von emotionalen Spielchen, Schmerzen und Unsicherheiten geprägt, zu denen unter anderem gehört, dass Havva in manchen Augenblicken der persönlichen Liebe eben keinen Vorzug gegenüber den politischen Realitäten geben möchte, auch wenn ihr das nicht gelingt. Die Erzählerin hingegen versucht, in jenen turbulenten Jahren ihre eigene Richtung zu finden, "macht sich auf, die zu werden, die die anderen in ihr sehen", merkt, dass das ein Irrtum war, sucht weiter. Das Buch endet mit ihrem Entschluss, Schriftstellerin zu werden. Vielleicht weil ein Roman Raum für all die Seiten hat, die man nun einmal in sich trägt. ANNA VOLLMER
Pirkko Saisio: "Das rote Buch der Abschiede". Roman.
Klett-Cotta, Stuttgart 2023. 304 S., geb., 25,- Euro.
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