Das "rote Jahrzehnt" begann in der Bundesrepublik mit den Schüssen in Westberlin am 2. Juni 1967 und endete mit den Schüssen in Stammheim und der Ermordung Schleyers im "deutschen Herbst" 1977. Das sind aber nur die Eckdaten einer bisher nicht zusammenhängend beschriebenen Generationsgeschichte. Ein erhebliches Segment der ersten Nachkriegs-Generation hat über Jahre hinweg in einer geschlossenen Sphäre von "revolutionärer Politik" gelebt. Wer zählt die Völker, nenn die Namen all der maoistischen, syndikalistischen Gruppen, die die Szene dieses "roten Jahrzehnts" bevölkerten! Aber worum ging es denn eigentlich? Welche psychischen, materiellen, ideologischen Motivationen standen dahinter? Woher diese verbreitete Halluzination einer vor unseren Augen sich abspielenden Weltrevolution? Es kommt längst nicht mehr darauf an, diese Geschichte zu verteidigen oder zu denunzieren - sondern darauf, sie endlich einmal zusammenhängend zu erzählen. Das Bündel von Motiven noch einmal aufzuschnüren, die die Aktivisten getrieben hat. Und sich über psychischen und intellektuellen Folgen dieser Erfahrungen Rechenschaft zu geben. Jetzt, wo "die 68er an der Macht sind", für Jüngere wie für Ältere eine spannungsvolle Lektüre.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.2012Trotzki, der Gute
Chronik einer angekündigten Biographie
Es gibt einen naiven Häretiker-Bonus: Wäre nur dieser an die Macht gekommen anstatt jener! Hans Küng oder Eugen Drewermann statt Kardinal Ratzinger, Hildegard Hamm-Brücher statt Roman Herzog! Oder Leo Trotzki statt Josef Stalin! Die Welt sähe besser aus, toleranter, unblutiger und gerechter, sagt unser Herz. Die Macht an sich ist böse, und wer im Kampf um ihren Gewinn scheitert, muss der Gute sein.
Es ist das Verdienst der Trotzki-Biographie von Robert Service, die 2009 in englischer Sprache erschien, in einem Akt ausgleichender Ungerechtigkeit mit dieser optischen Täuschung aufgeräumt zu haben. Trotzki, geboren 1879 als Leib Bronstein, ermordet 1940 in Mexiko von einem Agenten der GPU, war nicht die Alternative zum Stalinismus, er war der gescheiterte Stalin. "Wäre Trotzki an Stalins Stelle der überragende Sowjetführer geworden, dann hätten sich die Risiken eines Blutbades in Europa drastisch erhöht", schreibt Robert Service in der Einleitung.
Und er kann es belegen. Trotzki als Oberbefehlshaber der Roten Armee führte im Bürgerkrieg die schlimmsten terroristischen Methoden ein, und er war es (nicht der nach Service vorsichtigere, aufs Staatsinteresse bedachte Stalin), der die abenteuerlichsten Gedanken hegte, was eine Intervention der Sowjetunion etwa bei Aufstandsversuchen der Kommunisten in der Weimarer Republik anging.
Die deutsche Ausgabe "Trotzki - Eine Biographie" ist im Suhrkamp-Verlag angekündigt. "Erscheint in Kürze" heißt es auf der Website seit langem. Nun haben schon im Juli des vergangenen Jahres mehrere Historiker und andere Geisteswissenschaftler in einem offenen Brief an Ulla Unseld-Berkéwicz von "Verwunderung und Besorgnis" in der "Fachwelt" gesprochen. Das Ziel des Buches sei eine "Diskreditierung" Trotzkis. Inzwischen, so ist aus dem Verlag zu hören, habe man ein weiteres Gutachten angefordert. Besonders hingewiesen wird von den Autoren des Briefes auf die Diskussion von Trotzkis jüdischer Herkunft bei Service, die, wie es heißt, einen "befremdlichen Beiklang" habe.
Aber die starke Präsenz von glaubenslos gewordenen Juden im Parteiapparat der zwanziger Jahre wurde von Yuri Slezkine in seinem Buch "Das jüdische Jahrhundert" (Vandenhoeck & Ruprecht, 2006) ungleich massiver zum Thema gemacht. Slezkine, Direktor des Slawistischen Instituts an der University of California in Berkeley, sieht den frühen Bolschewismus geradezu als eine der großen Aufstiegschancen der russischen Juden, die unter dem Zarismus sehr am Fortkommen gehindert und zudem räumlich auf ein bestimmtes Siedlungsgebiet beschränkt waren. Und was die Dominanz jüdischer Intellektueller in der auf Trotzki zurückgehenden "Vierten Internationale" betrifft, so hat der deutsche Historiker Gerd Koenen in seiner Darstellung "Das rote Jahrzehnt" (Frankfurt 2002) die Dinge sachlich und kühl analysiert.
Deutlich werden bei Service die Gründe für Trotzkis Machtverlust nach Lenins Tod im Jahre 1924. Trotzki war spät zum eigentlichen Bolschewismus gekommen, erst 1917, als die Revolution vor der Tür stand; zuvor hatte er seine eigene Position im linksradikalen Meinungsspektrum Russlands vertreten. Die alten Kader fürchteten, von Trotzki zum Zwecke seines höheren Ruhms instrumentalisiert zu werden. Zeitweise traute man eher ihm als Stalin das Verlangen nach persönlicher Diktatur zu, als Chef des Militärs schien er für eine bonapartistische Rolle die Idealbesetzung. Der britische Philosoph Bertrand Russell, der ihm Anfang der zwanziger Jahre begegnete, sah in Trotzkis Habitus die "Eitelkeit eines Schauspielers oder Künstlers". Solche und ähnliche Stellen zitiert Service mit Gusto - und das kränkt manchen heute noch.
Fehler, an die der offene Brief mahnt, enthält dieses Buch tatsächlich. Man staunt, wenn Ferdinand Lassalle als "Marxist" bezeichnet wird - er war der Hauptkonkurrent von Marx um die Gunst der frühen Sozialdemokratie. Man staunt noch mehr, wenn André Breton als surrealistischer Maler gefeiert wird (einschließlich der Beschreibung seiner Bilder, die viel Mitgefühl für die Armen verrieten). Oder wenn es heißt, die Leiche von Rosa Luxemburg hätten ihre Mörder auf eine Berliner Straße geworfen - wo doch der Landwehrkanal jedem aus dem Geschichtsunterricht bekannt sein könnte. Aber solche Fehler ließen sich in der Übersetzung bequem korrigieren.
Wichtiger als Einzelprobleme ist ein anderer Mangel des Buches. Es ist ein technischer Fehler des Erzählers. Die Geschichte bleibt meist sehr nah an Trotzkis Kalender, sie ist actionbetont. Da fallen dann andere Züge heraus: breite panoramatische Schilderungen der historischen Hintergründe, der handelnden Charaktere. Es ist, als kenne Service nur eine einzige Kameraeinstellung. Da sind die Indianer, dort rückt schon die Kavallerie an. Spannend, packend! Aber die majestätische Gegend, die grandiosen Gebirgszüge kommen nicht so recht in den Blick. Dieses Buch ist etwas zu hektisch und zu wenig episch.
LORENZ JÄGER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Chronik einer angekündigten Biographie
Es gibt einen naiven Häretiker-Bonus: Wäre nur dieser an die Macht gekommen anstatt jener! Hans Küng oder Eugen Drewermann statt Kardinal Ratzinger, Hildegard Hamm-Brücher statt Roman Herzog! Oder Leo Trotzki statt Josef Stalin! Die Welt sähe besser aus, toleranter, unblutiger und gerechter, sagt unser Herz. Die Macht an sich ist böse, und wer im Kampf um ihren Gewinn scheitert, muss der Gute sein.
Es ist das Verdienst der Trotzki-Biographie von Robert Service, die 2009 in englischer Sprache erschien, in einem Akt ausgleichender Ungerechtigkeit mit dieser optischen Täuschung aufgeräumt zu haben. Trotzki, geboren 1879 als Leib Bronstein, ermordet 1940 in Mexiko von einem Agenten der GPU, war nicht die Alternative zum Stalinismus, er war der gescheiterte Stalin. "Wäre Trotzki an Stalins Stelle der überragende Sowjetführer geworden, dann hätten sich die Risiken eines Blutbades in Europa drastisch erhöht", schreibt Robert Service in der Einleitung.
Und er kann es belegen. Trotzki als Oberbefehlshaber der Roten Armee führte im Bürgerkrieg die schlimmsten terroristischen Methoden ein, und er war es (nicht der nach Service vorsichtigere, aufs Staatsinteresse bedachte Stalin), der die abenteuerlichsten Gedanken hegte, was eine Intervention der Sowjetunion etwa bei Aufstandsversuchen der Kommunisten in der Weimarer Republik anging.
Die deutsche Ausgabe "Trotzki - Eine Biographie" ist im Suhrkamp-Verlag angekündigt. "Erscheint in Kürze" heißt es auf der Website seit langem. Nun haben schon im Juli des vergangenen Jahres mehrere Historiker und andere Geisteswissenschaftler in einem offenen Brief an Ulla Unseld-Berkéwicz von "Verwunderung und Besorgnis" in der "Fachwelt" gesprochen. Das Ziel des Buches sei eine "Diskreditierung" Trotzkis. Inzwischen, so ist aus dem Verlag zu hören, habe man ein weiteres Gutachten angefordert. Besonders hingewiesen wird von den Autoren des Briefes auf die Diskussion von Trotzkis jüdischer Herkunft bei Service, die, wie es heißt, einen "befremdlichen Beiklang" habe.
Aber die starke Präsenz von glaubenslos gewordenen Juden im Parteiapparat der zwanziger Jahre wurde von Yuri Slezkine in seinem Buch "Das jüdische Jahrhundert" (Vandenhoeck & Ruprecht, 2006) ungleich massiver zum Thema gemacht. Slezkine, Direktor des Slawistischen Instituts an der University of California in Berkeley, sieht den frühen Bolschewismus geradezu als eine der großen Aufstiegschancen der russischen Juden, die unter dem Zarismus sehr am Fortkommen gehindert und zudem räumlich auf ein bestimmtes Siedlungsgebiet beschränkt waren. Und was die Dominanz jüdischer Intellektueller in der auf Trotzki zurückgehenden "Vierten Internationale" betrifft, so hat der deutsche Historiker Gerd Koenen in seiner Darstellung "Das rote Jahrzehnt" (Frankfurt 2002) die Dinge sachlich und kühl analysiert.
Deutlich werden bei Service die Gründe für Trotzkis Machtverlust nach Lenins Tod im Jahre 1924. Trotzki war spät zum eigentlichen Bolschewismus gekommen, erst 1917, als die Revolution vor der Tür stand; zuvor hatte er seine eigene Position im linksradikalen Meinungsspektrum Russlands vertreten. Die alten Kader fürchteten, von Trotzki zum Zwecke seines höheren Ruhms instrumentalisiert zu werden. Zeitweise traute man eher ihm als Stalin das Verlangen nach persönlicher Diktatur zu, als Chef des Militärs schien er für eine bonapartistische Rolle die Idealbesetzung. Der britische Philosoph Bertrand Russell, der ihm Anfang der zwanziger Jahre begegnete, sah in Trotzkis Habitus die "Eitelkeit eines Schauspielers oder Künstlers". Solche und ähnliche Stellen zitiert Service mit Gusto - und das kränkt manchen heute noch.
Fehler, an die der offene Brief mahnt, enthält dieses Buch tatsächlich. Man staunt, wenn Ferdinand Lassalle als "Marxist" bezeichnet wird - er war der Hauptkonkurrent von Marx um die Gunst der frühen Sozialdemokratie. Man staunt noch mehr, wenn André Breton als surrealistischer Maler gefeiert wird (einschließlich der Beschreibung seiner Bilder, die viel Mitgefühl für die Armen verrieten). Oder wenn es heißt, die Leiche von Rosa Luxemburg hätten ihre Mörder auf eine Berliner Straße geworfen - wo doch der Landwehrkanal jedem aus dem Geschichtsunterricht bekannt sein könnte. Aber solche Fehler ließen sich in der Übersetzung bequem korrigieren.
Wichtiger als Einzelprobleme ist ein anderer Mangel des Buches. Es ist ein technischer Fehler des Erzählers. Die Geschichte bleibt meist sehr nah an Trotzkis Kalender, sie ist actionbetont. Da fallen dann andere Züge heraus: breite panoramatische Schilderungen der historischen Hintergründe, der handelnden Charaktere. Es ist, als kenne Service nur eine einzige Kameraeinstellung. Da sind die Indianer, dort rückt schon die Kavallerie an. Spannend, packend! Aber die majestätische Gegend, die grandiosen Gebirgszüge kommen nicht so recht in den Blick. Dieses Buch ist etwas zu hektisch und zu wenig episch.
LORENZ JÄGER
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