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Fast eine halbe Million russischer Flüchtlinge nahm Berlin Anfang der 1920er Jahre auf. Die Stadt war in der Zwischenkriegszeit nicht nur die »Stiefmutter der russischen Städte«, sondern auch heimliches Zentrum der Weltrevolution. Hier trafen die totalitären Bewegungen aufeinander, die das Schicksal Europas im »Zeitalter der Extreme« besiegelten.
Karl Schlögel spürt die große Geschichte in der kleinen auf, er folgt den dramatis personae und rekonstruiert die Netzwerke, in denen sie sich bewegen. Die Welt der Bahnhöfe und die der Salons im Tiergartenviertel, die Dichter des Silbernen
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Produktbeschreibung
Fast eine halbe Million russischer Flüchtlinge nahm Berlin Anfang der 1920er Jahre auf. Die Stadt war in der Zwischenkriegszeit nicht nur die »Stiefmutter der russischen Städte«, sondern auch heimliches Zentrum der Weltrevolution. Hier trafen die totalitären Bewegungen aufeinander, die das Schicksal Europas im »Zeitalter der Extreme« besiegelten.

Karl Schlögel spürt die große Geschichte in der kleinen auf, er folgt den dramatis personae und rekonstruiert die Netzwerke, in denen sie sich bewegen. Die Welt der Bahnhöfe und die der Salons im Tiergartenviertel, die Dichter des Silbernen Zeitalters und die Agitkünstler der Sowjetmacht, der Empfang in der sowjetischen Botschaft und Nabokovs Beobachtungen zum Aufstieg der Nazis, die Stadtwahrnehmung der Taxifahrer und der Skandal um die »Zarentochter Anastasia«. In seiner Darstellung spielen Kursbücher und Adressverzeichnisse eine Rolle, Cafés und Cabarets, das Zeremoniell der Diplomatie und die Praktiken des Untergrundkampfes, die polyglotte Welt der Komintern-Funktionäre und die Karten der Geopolitiker.

Das Russische Berlin ist kein romantischer Ort, sondern Schauplatz einer Epoche, die Nachkrieg und Vorkrieg in einem war. Seit der Entfremdung zwischen Russland und der Europäischen Union ist auch das hochvernetzte »Russkij Berlin« der Gegenwart politisch gespalten. Der doppelte Blick auf das einstige und heutige russische Berlin erweist sich als unerwartet aktuell und produktiv.

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Autorenporträt
Karl Schlögel, 1948 geboren, lehrte bis zu seiner Emeritierung Osteuropäische Geschichte, zuerst an der Universität Konstanz, seit 1995 an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören Moskau lesen, Petersburg 1909-1921. Das Laboratorium der Moderne, Im Raume lesen wir die Zeit und Moskau 1937. Sein 2017 erschienenes Buch Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.05.2019

Zauber der Zugfahrpläne
Karl Schlögel vergegenwärtigt noch einmal das russische Berlin - überraschend, packend, erhellend
Der Historiker Karl Schlögel hat das Ende des Kalten Krieges und den Fall des Eisernen Vorhangs als Chance begriffen, tief in die bis dahin versperrte Hälfte des europäischen Kontinents einzudringen. Auf einmal konnte man dort frei reisen und die Archive einsehen, und er hat davon den fruchtbarsten Gebrauch gemacht. Heraus kamen in dichter Folge Bücher mit Titeln wie „Moskau lesen“, „Petersburg. Das Laboratorium der Moderne“, „Terror und Traum. Moskau 1937“, „Im Raume lesen wir die Zeit“. Vor allem dieser letzte Titel bringt Schlögels Verfahren einprägsam auf den Punkt. Für sein Opus magnum „Das sowjetische Jahrhundert“ erhielt er voriges Jahr den Sachbuch-Preis der Leipziger Buchmesse. Nun bringt der Suhrkamp-Verlag nach mehr als zwanzig Jahren, in erweiterter Neuauflage, „Das Russische Berlin“ neu heraus.
Die Erweiterung ist wichtig. Sie enthält zunächst eine Reihe neuer Porträts von deutsch-russischen Grenzgängern – am fesselndsten davon Edwin Erich Dwinger, Soldat, russischer Kriegsgefangener und später allgemein anerkannter Russland-Experte, Bestsellerschreiber, von Himmler persönlich als Korrespondent für die Aktion Barbarossa ausgewählt, nach dem Krieg dann strammer Paladin des Abendlandes oder was davon noch übrig war. Man spürt Schlögels Faszination, trotz oder gerade wegen des Abscheus, den ihm dieser Remarque der Ostfront einflößt. An solchen Funden ist das Buch reich.
Und dann hat der Autor seine Vorstellungen zu Russland und Europa erheblich korrigiert. Hatte sein Vorwort zur Erstausgabe 1998 noch fast jubilierend begonnen: „Zum ersten Mal nach einem Jahrhundert furchtbarer Verwicklungen und Zusammenstöße gibt es zwischen Deutschland und Russland keine wirklichen Probleme mehr“, so beurteilt er die Lage inzwischen weitaus skeptischer. Russland hat die Weltbühne wieder als Akteur im großen Stil betreten; das Motto seiner Staatsraison lautet „Wo Russen sind, ist Russland“, worin jedenfalls die Andeutung steckt, dass es sich weiteres Ausgreifen in die Nachbarschaft vorbehält.
In Berlin hat es während der letzten hundert Jahre immer besonders viele Russen gegeben. Hunderttausende waren es in der Zeit der Weimarer Republik, Hunderttausende sind es heute wieder, immer viel mehr, als man auf Anhieb vermuten würde. Schlögels Buch hat es mit der Weimarer Epoche zu tun, endet aber mit einem Ausblick in die Gegenwart.
Heute leben die Berliner Russen als Pendler zwischen zwei Welten, teils unter problematischen Bedingungen, aber grundsätzlich unbedroht. Schlögel scheint es ein wenig zu bedauern, dass das russische Berlin der Zwanzigerjahre einen Vladimir Nabokov hervorgebracht hat und das aktuelle nur einen Wladimir Kaminer; aber er bleibt gerecht genug, die heutige Dekompression und Entpolitisierung doch als einen humanen Fortschritt zu begreifen.
Damals handelte es sich um Flüchtlinge, Leute, die das nackte Leben gerettet hatten und die außer der Sprache nicht viel verband: die Juden, die den Pogromen entronnen waren, und die Kosaken, die die Pogrome verübt hatten; die Generäle der Weißen Armeen, die Bürgerlich-Liberalen, die Trotzkisten, der alte Adel, die Menschewiki – mehrere komplette Regierungen im Exil, wie Schlögel nicht ohne Ironie bemerkt. Es waren prekäre Existenzen, die darauf warteten, wieder heim zu können, ohne erschossen zu werden.
Schlögel interessiert sich für das alltägliche Leben dieser Menschen, wie es üblicherweise ohne Spur vergeht. Wie kommt man an dieses flüchtige Ding, das Leben, heran, besonders wenn seither drei bis vier Generationen vergangen sind? Schlögel konzentriert sich auf eine besondere Art von Quellen, in denen das Transitorische sich kristallisiert hat, scheinbar dürre und abstrakte Gebilde, die er aber zum Sprechen bringt: Adressbücher, Landkarten, Branchenverzeichnisse, Zugfahrpläne – diese am liebsten. Er sagt dazu: „Für die herkömmliche Geschichtswissenschaft kommen Bahnhof oder Eisenbahn nur als Tatort in Betracht, während die zivilisatorische Leistung, die in der pünktlichen und berechenbaren Überwindung einer Distanz liegt, ja die unsere moderne Zivilisation erst möglich macht, stillschweigend vorausgesetzt wird. Man muss das Ende der Selbstverständlichkeiten erlebt haben, um darin einen Stoff für Geschichte zu entdecken.“
Schlögel ist Historiker; aber er begreift sich auch als einen Schriftsteller, der, was er weiß, zu Literatur macht. Er verfügt über einen ungeheuren Schatz von Quellen und Zitaten. Sie sind immer beredt, aufschlussreich, originell. Den Gewährsmann verrät er selten an Ort und Stelle, meistens verweist er auf eine Schlussnote. Damit hält man sich natürlich nicht auf, wenn man gerade im Zug der Lektüre ist. So fügt sich alles zu einem einzigen Text, der die angeführten Belege in sich einschmilzt. Walter Benjamin hat etwas Ähnliches versucht, als er über Paris als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts schrieb. Bei Benjamin blieb das im experimentellen Stadium stecken, die Masse des vor ihm Geschriebenen erschlug ihn. Schlögel bringt das Verfahren auf seine Weise ans Ziel – wie wenigstens der Laie urteilt, während die Fachkollegen an solcher Eingemeindung wohl einiges auszusetzen fänden.
Das kann dem allgemeinen, nicht fachgebundenen Leser egal sein; ja der anscheinende wissenschaftliche Mangel des Buchs macht es für ihn erst recht zu einem Lese-Erlebnis. Schlögel schreibt ausgezeichnet, der Stoff ist packend, das Ganze erhellend für Vergangenheit und Gegenwart. Wer sich darauf einlässt, gewinnt eine historische Perspektive auf Berlin und auf die östliche Hälfte Europas, die ihm schwerlich auf anderem Weg zugänglich würde.
BURKHARD MÜLLER
Karl Schlögel: Das russische Berlin. Eine Hauptstadt im Jahrhundert der Extreme. Aktualisierte, erweiterte Neuausgabe. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2019. 667 Seiten, 38 Euro.
„Die Völkerverständigung zum Tanzen ist eine feste Größe im Nachtleben der Hauptstadt.“ – „Russendisko“ mit Wladimir Kaminer (rechts).
Foto: dpa
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»Schlögel schreibt ausgezeichnet, der Stoff ist packend, das Ganze erhellend für Vergangenheit und Gegenwart.« Burkhard Müller Süddeutsche Zeitung 20190526