Er steht vor Morgengrauen auf und fährt mit dem Fahrrad zum Sägewerk, bei jedem Wetter. Eine Maske aus Sägemehl und Schweiß auf der Haut wiederholt er dort täglich die gleichen Gesten. Seine Kollegen sind hart, die Verletzungsgefahr ist allgegenwärtig, doch er wird nicht aufgeben. Der Erzähler dieses singulären Buchs ist ein junger Mann, der sich vor seinem Militärdienst gezwungen sieht, zwei Jahre lang in einem Sägewerk zu arbeiten. Sein Bericht über diese Zeit beleuchtet ein kaum vorstellbar hartes und bitteres Leben: Zwölf-Stunden-Tage, manchmal sogar noch länger, in schrecklicher Kälte oder drückender Hitze. Die Arbeit ist gefährlich, der Ton unter den Arbeitern rau und ungehobelt wie die Bretter, aus denen sie Kisten zusammennageln. Latent aggressiv misstrauen und verleumden sie einander. Seine Hände aber verraten ihn, Hände, die nie gelitten haben. Abends kehrt der Abiturient wie zerschlagen nach Hause zurück, wo Yvonne – vielleicht seine Schwester oder die Frau seines älteren Bruders – ihn erwartet. Dieser Erinnerungstext berichtet von einem wenig bekannten Wirtschaftszweig: der ländlichen Kleinindustrie. In einer rohen, quasi unbehauenen, schneidenden Sprache handelt das Buch davon, wie sich Körper und Geist im Kontakt mit Dingen und Materialien verändern. Man spürt förmlich die Kälte des Winters, das Gewicht der Baumstämme und die körperliche Erschöpfung, man riecht Schweiß, Harz und Holz und hört den kreischenden Lärm der Sägen. Ein Buch, das tief unter die Haut geht wie ein Holzsplitter.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.01.2021Der Wert des Menschen
So harte Arbeit: Die anonymen Aufzeichnungen „Das Sägewerk“ erzählen vom Inneren der Industrialisierung
Der Triumph der Arbeit ist der Sieg der bürgerlichen Gesellschaft. Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bildet die Arbeit das geistige Zentrum des menschlichen Lebens. Zuvor war sie als Bestandteil der Weltordnung wahrgenommen worden, eingebettet in das Ständewesen oder in den Wechsel der Jahreszeiten. Sie war deswegen nicht weniger hart, im Gegenteil. Aber es gab weder Beschreibungen der Mühsal, die vor allem mit der Verausgabung von Muskelkraft verbunden ist, noch existierte das Ethos des arbeitenden Menschen.
Dann wurde, innerhalb einer erstaunlich kurzen Frist, die Arbeit zu dem Merkmal, anhand dessen über ein Leben befunden wurde: Was ein Mensch war, das entschied sich an seiner Arbeit. Die Differenz von Handarbeit und Kopfarbeit trennte die Klassen, doch gleichwie: dass ein Mensch arbeitete, und womit er arbeitete, daran erwies sich der Wert eines Lebens.
Verschwunden ist diese Wertschätzung der Arbeit nicht. Aber sie stellt sich heute anders dar, da ein großer Teil der physischen Arbeit von Maschinen erledigt oder in ärmere Gegenden der Welt exportiert wird. Etliche Tätigkeiten, die früher von Kopfarbeitern erledigt wurden, folgen ihnen nach, was Anlass zu Spekulationen gibt, die Zukunft der Arbeit überhaupt betreffend.
Und wenn in dieser Lage ein altes Buch neu erscheint, in dem beinahe von nichts anderem die Rede ist als von einer physischen Arbeit, die von dem dazugehörigen Menschen nur ein stöhnendes Wrack übrig lässt, das sogar zum Essen zu müde ist, fragt man sich, was mit dieser Veröffentlichung beabsichtigt ist: eine Erinnerung an überwundene Zustände, eine Mahnung, den zivilisatorischen Fortschritt nicht zu missachten, der in der Mechanisierung der Arbeit liegt? Eine Huldigung an ein Heldentum, das den Beteiligten keineswegs als heldenhaft erschien? Oder soll es hier um Literatur gehen, um eine sprachliche Form für die intensive Schilderung einer verlorenen Welt?
Der kleine Roman „Das Sägewerk“ wurde vermutlich im Jahr 1953 geschrieben. Aber es gibt keinen Autor, den man namentlich dingfest machen könnte: Er blieb anonym, und er scheint die Veröffentlichung nicht gesucht zu haben. Das Manuskript geriet an den Schriftsteller Pierre Gripari (der später angab, sein Bruder habe den Text geschrieben, aber ob das stimmt, weiß man nicht). Er gab es an den Schweizer Verlag L’Âge d’Homme weiter, wo das kleine Buch im Jahr 1975 erschien. Fast vierzig Jahre später wurde es wieder veröffentlicht, woraufhin es schließlich zu einer deutschen Übersetzung kam, vermutlich solcher Sätze wie dieser wegen: „Mein Handgelenk schwillt immer weiter an, es schmerzt so sehr, dass ich den Hammer nicht mehr halten kann. Also muss ich mit links hämmern, doch bis ich das gelernt habe, sind mein rechter Daumen und Zeigefinger buchstäblich zerhämmert. Das ganze Nagelbett blutet, die zehn Stunden sind ein einziger Albtraum.“ Es gibt viele solcher Albträume in diesem Buch. Sie steigern sich von Mal zu Mal, und manchmal fährt das Werkzeug in die Hand.
Erzählt wird hier von einem jungen Mann aus der französischen Provinz, genauer: aus Saint-Dyé an der Loire, der durch das Abitur fällt und sich die beiden Jahre bis zur Einberufung zum Militärdienst als Arbeiter in Sägewerken durchschlägt. Diese Arbeit ist eine extreme physische Herausforderung und verlangt zugleich ein hohes Maß an Konzentration und Geschicklichkeit. Man hantiert mit großen, mobilen Gewichten und gefährlichen Geräten, und man befindet sich in Gesellschaft von Menschen, denen nichts anderes übrig blieb, als die schlechteste aller möglichen Arbeiten anzunehmen.
Für den Ich-Erzähler werden diese beiden Jahre zu einer höchst zwiespältigen Erfahrung: Auf der einen Seite lässt er keinen Zweifel daran, welche Qual die Arbeit in einem Sägewerk damals gewesen sein muss. Auf der anderen Seite erkennt er in dieser Qual nicht nur eine Herausforderung, die es zu bestehen gilt, sondern erlebt auch ein sonderbares Glück, dass im Gebrauch der eigenen Kräfte liegen muss.
Auf der einen Seite weiß er um die Niedertracht der Kollegen, auf der anderen Seite gibt es durchaus eine Solidarität im Willen, das Elend irgendwie zu überstehen. Auf der einen Seite weiß er, dass er entfremdete Arbeit verrichtet, einen fast selbstmörderischen Dienst an anderer Leute Kapital, auf der anderen Seite entwickelt er ein inniges Verhältnis nicht nur zum Holz, sondern auch zur Säge.
In solchen Zweideutigkeiten liegt die Qualität dieses Büchleins, und wenn es eher schlecht und manchmal sogar unbeholfen geschrieben ist (die Übersetzung erhält diese Rohheit), so erweist sich das nicht als Mangel. Karl Marx hatte behauptet, die Menschen begännen, sich von den Tieren zu unterscheiden, „sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren“.
Aber auch Tiere arbeiten, weshalb die eigentliche Differenz im Wissen um die zeitliche Verschiebung zwischen der Arbeit und dem Genuss des Erarbeiteten liegen dürfte (wobei man den Instinkt, etwa für den Winter vorzusorgen, wohl dem Genuss zuschlagen muss). Diese Differenz macht sich gewöhnlich als Unlust geltend. Dass auch darin wieder eine kleine Lust liegen kann, oder vielleicht besser gesagt, eine Intensität des Erlebens, in der Darstellung dieses Gedankens liegt der Sinn der Veröffentlichung, und deswegen sollte dieses Büchlein nicht wieder vergessen werden.
THOMAS STEINFELD
Anonym: Das Sägewerk. Roman. Aus dem Französischen von Konstantin Meisel. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020. 160 Seiten, 12 Euro.
Die Arbeit im Sägewerk
ist Qual und Glück zugleich
Sie sahen sich nicht als Helden: Arbeiter eines Sägewerks in Bernes-sur-Oise, um 1910.
Foto: imago images/KHARBINE-TAPABOR
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So harte Arbeit: Die anonymen Aufzeichnungen „Das Sägewerk“ erzählen vom Inneren der Industrialisierung
Der Triumph der Arbeit ist der Sieg der bürgerlichen Gesellschaft. Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bildet die Arbeit das geistige Zentrum des menschlichen Lebens. Zuvor war sie als Bestandteil der Weltordnung wahrgenommen worden, eingebettet in das Ständewesen oder in den Wechsel der Jahreszeiten. Sie war deswegen nicht weniger hart, im Gegenteil. Aber es gab weder Beschreibungen der Mühsal, die vor allem mit der Verausgabung von Muskelkraft verbunden ist, noch existierte das Ethos des arbeitenden Menschen.
Dann wurde, innerhalb einer erstaunlich kurzen Frist, die Arbeit zu dem Merkmal, anhand dessen über ein Leben befunden wurde: Was ein Mensch war, das entschied sich an seiner Arbeit. Die Differenz von Handarbeit und Kopfarbeit trennte die Klassen, doch gleichwie: dass ein Mensch arbeitete, und womit er arbeitete, daran erwies sich der Wert eines Lebens.
Verschwunden ist diese Wertschätzung der Arbeit nicht. Aber sie stellt sich heute anders dar, da ein großer Teil der physischen Arbeit von Maschinen erledigt oder in ärmere Gegenden der Welt exportiert wird. Etliche Tätigkeiten, die früher von Kopfarbeitern erledigt wurden, folgen ihnen nach, was Anlass zu Spekulationen gibt, die Zukunft der Arbeit überhaupt betreffend.
Und wenn in dieser Lage ein altes Buch neu erscheint, in dem beinahe von nichts anderem die Rede ist als von einer physischen Arbeit, die von dem dazugehörigen Menschen nur ein stöhnendes Wrack übrig lässt, das sogar zum Essen zu müde ist, fragt man sich, was mit dieser Veröffentlichung beabsichtigt ist: eine Erinnerung an überwundene Zustände, eine Mahnung, den zivilisatorischen Fortschritt nicht zu missachten, der in der Mechanisierung der Arbeit liegt? Eine Huldigung an ein Heldentum, das den Beteiligten keineswegs als heldenhaft erschien? Oder soll es hier um Literatur gehen, um eine sprachliche Form für die intensive Schilderung einer verlorenen Welt?
Der kleine Roman „Das Sägewerk“ wurde vermutlich im Jahr 1953 geschrieben. Aber es gibt keinen Autor, den man namentlich dingfest machen könnte: Er blieb anonym, und er scheint die Veröffentlichung nicht gesucht zu haben. Das Manuskript geriet an den Schriftsteller Pierre Gripari (der später angab, sein Bruder habe den Text geschrieben, aber ob das stimmt, weiß man nicht). Er gab es an den Schweizer Verlag L’Âge d’Homme weiter, wo das kleine Buch im Jahr 1975 erschien. Fast vierzig Jahre später wurde es wieder veröffentlicht, woraufhin es schließlich zu einer deutschen Übersetzung kam, vermutlich solcher Sätze wie dieser wegen: „Mein Handgelenk schwillt immer weiter an, es schmerzt so sehr, dass ich den Hammer nicht mehr halten kann. Also muss ich mit links hämmern, doch bis ich das gelernt habe, sind mein rechter Daumen und Zeigefinger buchstäblich zerhämmert. Das ganze Nagelbett blutet, die zehn Stunden sind ein einziger Albtraum.“ Es gibt viele solcher Albträume in diesem Buch. Sie steigern sich von Mal zu Mal, und manchmal fährt das Werkzeug in die Hand.
Erzählt wird hier von einem jungen Mann aus der französischen Provinz, genauer: aus Saint-Dyé an der Loire, der durch das Abitur fällt und sich die beiden Jahre bis zur Einberufung zum Militärdienst als Arbeiter in Sägewerken durchschlägt. Diese Arbeit ist eine extreme physische Herausforderung und verlangt zugleich ein hohes Maß an Konzentration und Geschicklichkeit. Man hantiert mit großen, mobilen Gewichten und gefährlichen Geräten, und man befindet sich in Gesellschaft von Menschen, denen nichts anderes übrig blieb, als die schlechteste aller möglichen Arbeiten anzunehmen.
Für den Ich-Erzähler werden diese beiden Jahre zu einer höchst zwiespältigen Erfahrung: Auf der einen Seite lässt er keinen Zweifel daran, welche Qual die Arbeit in einem Sägewerk damals gewesen sein muss. Auf der anderen Seite erkennt er in dieser Qual nicht nur eine Herausforderung, die es zu bestehen gilt, sondern erlebt auch ein sonderbares Glück, dass im Gebrauch der eigenen Kräfte liegen muss.
Auf der einen Seite weiß er um die Niedertracht der Kollegen, auf der anderen Seite gibt es durchaus eine Solidarität im Willen, das Elend irgendwie zu überstehen. Auf der einen Seite weiß er, dass er entfremdete Arbeit verrichtet, einen fast selbstmörderischen Dienst an anderer Leute Kapital, auf der anderen Seite entwickelt er ein inniges Verhältnis nicht nur zum Holz, sondern auch zur Säge.
In solchen Zweideutigkeiten liegt die Qualität dieses Büchleins, und wenn es eher schlecht und manchmal sogar unbeholfen geschrieben ist (die Übersetzung erhält diese Rohheit), so erweist sich das nicht als Mangel. Karl Marx hatte behauptet, die Menschen begännen, sich von den Tieren zu unterscheiden, „sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren“.
Aber auch Tiere arbeiten, weshalb die eigentliche Differenz im Wissen um die zeitliche Verschiebung zwischen der Arbeit und dem Genuss des Erarbeiteten liegen dürfte (wobei man den Instinkt, etwa für den Winter vorzusorgen, wohl dem Genuss zuschlagen muss). Diese Differenz macht sich gewöhnlich als Unlust geltend. Dass auch darin wieder eine kleine Lust liegen kann, oder vielleicht besser gesagt, eine Intensität des Erlebens, in der Darstellung dieses Gedankens liegt der Sinn der Veröffentlichung, und deswegen sollte dieses Büchlein nicht wieder vergessen werden.
THOMAS STEINFELD
Anonym: Das Sägewerk. Roman. Aus dem Französischen von Konstantin Meisel. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020. 160 Seiten, 12 Euro.
Die Arbeit im Sägewerk
ist Qual und Glück zugleich
Sie sahen sich nicht als Helden: Arbeiter eines Sägewerks in Bernes-sur-Oise, um 1910.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Thomas Steinfeld sucht nach Gründen für die Wiederveröffentlichung des bereits 1975 erschienenen Buches, dessen Verfasser nicht bekannt ist. Der Text erzählt laut Steinfeld von einem jungen Mann in der französischen Provinz und der harten Arbeit in einem Sägewerk. Die Sprache ist "unbeholfen", roh, erklärt Steinfeld, auch in der Übersetzung, was für den Rezensenten aber kein Manko darstellt. Die Qualität des Textes erkennt er schließlich in den geschilderten Zweideutigkeiten, der kollegialen Niedertracht und Solidarität, der Schwere der Arbeit und der Lust daran.
© Perlentaucher Medien GmbH
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