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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Jean-Philippe
Toussaints Logbuch "Das Schachbrett"
erzählt, wie das Streben nach Perfektion ein
Leben vergiften kann.
Über die gegenseitige Anziehung zwischen Schachspiel und Literatur ließen sich Anthologien füllen. Vorstellungskraft, Formulierungskunst und kombinatorische Präzision gehen da abenteuerliche Verbindungen ein, bis ein volles Brett leer geräumt beziehungsweise leere Seiten vollgeschrieben sind. Bei Jean-Philippe Toussaint war das ein Thema von Anfang an, es ist sogar so etwas wie die Nullstunde seines literarischen Werks. "Échecs" (Schach) hieß sein angeblich in neun Versionen geschriebener, nie erschienener, nur im Internet einsehbarer Erstlingsroman. Der Anfangssatz lautete, wie der Autor sich später in seinem Buch "Die Dringlichkeit und die Geduld" erinnerte: "Ein wenig aus Zufall habe ich das Schachspiel entdeckt." Es war die Geschichte einer Endlospartie in einem fensterlos weißen Raum, die erst mit dem Tod der beiden Spieler endet.
So sehr aufs literarisch und existenziell Ganze geht es in diesem neuen Buch nicht. Es ist ein Querfeldein über 64 Kapitelfelder mit der unter Schachspielern als "Springerproblem" bekannten Schwierigkeit, alle 64 Felder eines Schachbretts zu durchlaufen, ohne mehr als einmal sich auf dasselbe Feld zu setzen. Keine autobiographische Vollständigkeit also, gesteht Toussaint, sondern nur das Vorhaben, "meinen Springer gemäß meinen Erinnerungen lässig von Feld zu Feld wandern zu lassen und zu versuchen, ein paar flüchtige und bewegende, fragile Erscheinungsbilder aus meinem Leben wieder zum Leben zu erwecken".
Der Zeitrahmen dafür waren die Monate der Covid-Pandemie: eine kollektive und individuelle Schwellenerfahrung. "Ich erwartete das Alter und bekam den Lockdown", lautet der Sprung ins erste Kapitelfeld. Der Schreibende sitzt mit lauter abgesagten Terminen etwas verloren in seiner Brüsseler Wohnung oder in Ostende und fasst den Entschluss, Stefan Zweigs "Schachnovelle" ins Französische zu übersetzen - auch das ein schon altes Vorhaben. Gleichzeitig will er einen Essay über das Übersetzen schreiben. Und überdies kommt eine dritte Buchidee hinzu: eine Art begleitendes Logbuch mit Beobachtungen, Überlegungen und freien Einfällen dazu. Die Zweig-Übersetzung ist in Frankreich unlängst erschienen. Zum Essay kam es nie. Das Logbuch halten wir hier in Händen.
Die Sprünge durch die Zeit- und Raumfelder sind zugleich kapriziös und wohlkalkuliert. Erinnerungen an Panikmomente in der Kindheit, wenn etwa beim Schönschreiben ein Tintenklecks auf der Seite entsteht und die Großmutter mit der Rasierklinge sich dranmacht - stets dieses kräftezehrende Streben nach Perfektion, "das mein ganzes Leben vergiftet hat" - wechseln ab mit Selbstanalyse, literarischen Betrachtungen, Reflexionen übers eigene Schreiben, Szenen aus dem Ehealltag und immer wieder Beobachtungen zum Schach und zum Leben mit Covid.
Zu "dieser Krise", was sie bedeute und wie die Welt in Zukunft aussehen werde, habe er im Unterschied zu so vielen anderen Intellektuellen nichts zu sagen, außer vielleicht, dass sie ihn persönlich eher in die Vergangenheit zurückführe, notiert der Autor. Wie findet man aber durch die Fülle der aus der Vergangenheit schimmernden Erinnerungsnebel? Eben am Leitfaden des in der Jugend eifrig betriebenen Schachspiels, zu dem nach langer Pause der Autor im Lockdown wieder zurückkehrt: "Schach - seine Symbolik, seine Romantik, seine beruhigende Abstraktion - war für mich immer eng mit dem Schreiben verbunden."
So folgen Episoden, wie es dazu kam: große Momente aus der Schachgeschichte, berühmte Turniere, denen der junge Mann einst nachreiste, Partien als Kind mit dem Vater, der beim Essen einmal sich wohlig zurücklehnend sagte: "Ach, wie gern hätte ich, wenn mein Sohn später Schriftsteller würde." Und mitgeliefert zu alldem jeweils die Kommentare des Autors aus der Jetztzeitstarre der Pandemie, durchsetzt von mehr oder weniger scharfen Beobachtungen zum gesellschaftlichen Umgang mit dieser, etwa die penetrant falsche Heiterkeit der Leute beim Ellbogengruß.
Autobiographische Texte wie dieser sind bei Toussaint besondere Aggregatphasen seines literarischen Werks und als solche ein Pendant zu den Romanen. Das hat seine Tücken. Sie liegen in der Schwebe zwischen Anekdote und der komponierten Systematik eines jeweiligen Themas. Denn Toussaint ist alles andere als ein Autor der belletristischen Autofiktion. Das Autobiographische wirkt in seinen Büchern wie eine musikalische Transposition in eine andere Tonart. In diesem Buch gelingt sie jedoch nicht immer. Die zahlreichen Bezüge auf die Schachliteratur wecken den Eindruck einer forcierten Gesetzmäßigkeit, wo manchmal die Details anekdotisch durchhängen. Wenn einer darüber nachsinnt, dass er immer seltener ein Bad nimmt und sich stattdessen mit einer Dusche begnügt, wie wir im 20. Kapitelfeld dieses Buchs erfahren, könnte das im Spannungsfeld einer Romanfigur bedeutsam sein. Hier interessiert es uns wenig. Dagegen bleibt das Parallelthema von Zweigs "Schachnovelle" unausgeschöpft.
Er wolle aus diesem im ewigen Präsens des Lockdowns geschriebenen Buch ein Journal frei schwebender Gedanken und zugleich eine Chronik der Pandemie machen, notiert der Autor. Seltsam, wie schnell jene Zeit sich auflöst, auch hier in der Sprache des treuen Übersetzers und Verlegers. Wir freuen uns auf Toussaints nächsten Roman. JOSEPH HANIMANN
Jean-Philippe Toussaint: "Das Schachbrett".
Aus dem Französischen von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2024. 256 S., geb., 24,- Euro.
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