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Einfalt gibt es oft dort, wo Vielfalt propagiert wird: Ulrike Ackermann verteidigt die Freiheit gegen Systemzwänge und Anpassungsdruck
Die Extreme regieren den Diskurs. Die Mitte ist leer. Das gilt Ulrike Ackermann zufolge ebenso für die Parteipolitik wie für die Intellektuellenszene. Man mag einwenden, dass an Warnungen vor den Feinden von Demokratie und Rechtsstaat kein Mangel besteht und der Zug zur Mitte gerade das Kennzeichen der Parteipolitik ist. Aber laut Ackermann kreist sie um ein leeres Zentrum. Es gelinge ihr nicht, die Repräsentationslücke zu schließen, die das Wachstum der Extreme verursache. Stattdessen schotte sie sich mit dem Populismusvorwurf von Kritik ab und überdecke eigene Defizite mit der herablassenden Erklärung, diffuse Ängste der Bürger ernst zu nehmen.
Die Direktorin des Heidelberger John Stuart Mill Instituts verschreibt ihr Buch der Freiheit, nicht im Sinn eines schrankenlosen Individualismus, sondern der universellen Werte liberaler Demokratien. Freiheit, so ihre These, sei heute ein unzureichend genutztes Gut. Sie belegt diesen Eindruck mit zwei Studien, dem jährlich erhobenen Freiheitsindex des John Stuart Mill Instituts und der Allensbach-Studie von 2019, die beide eine irritierende Verengung des Meinungskorridors konstatieren, besonders bei den zentralen Themen Euro-Krise, Flüchtlingskrise und Islam.
Für Ackermann ist das Ausdruck einer Strukturschwäche der Politik, der im Zuge gesellschaftlicher Individualisierung ihre vertraute Klientel abhandengekommen sei. Der Konservatismus habe sich von Traditionswerten entfernt und die Bedeutung ökologischer Fragen ignoriert, die Sozialdemokratie wiederum habe sich vom "Arbeitermilieu" abgewendet in Richtung einer Identitätspolitik, die universale Solidarität zugunsten eines identitären Gruppendenkens aufgebe, das sie wiederum in die Nähe ihrer rechten Gegner rücke.
Die politische Handlungsschwäche manifestiere sich in einer Krise des Parlamentarismus, der das entscheidende Kriterium der Repräsentation aushöhle und Elitenkritik im Prinzip, wenn auch nicht in jeder Form und Lautstärke, legitimiere. Besonders deutlich sei die Ausdünnung des Parlamentarismus bei zwei entscheidenden Belastungsproben zutage getreten: der Euro-Rettung, die unter einer weiten Auslegung des Unionsrechts am Bundestag vorbei beschlossen wurde, und der Flüchtlingskrise, in der, wie der ehemalige Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier kritisierte, Migrationspolitik unrechtmäßig über das Asylrecht betrieben worden sei. Die Debatte, so Ackermann, wurde entpolitisiert, und Kritiker, die auf Rechtsstaatlichkeit bestanden, moralisch in Zweifel gezogen.
Worin der Kern dieses Einheitsdenkens bestehen soll, wird bei der Lektüre nicht vollends klar. Jedenfalls äußert es sich in der Bereitschaft, Freiheitsrechte dem Strukturzwang zu opfern. Mit dem Soziologen Wolfgang Streeck kritisiert Ackermann eine marktförmige Politik, die von den Finanzmärkten regiert werde, und mit dem Kultursoziologen Andreas Reckwitz einen sich linksliberal gebenden Kosmopolitismus, der nach außen weltoffen, nach innen auf Status bedacht sei, soziale Brennpunkte bei äußerlicher Parteinahme für Marginalisierte meide und sich flexibel den Güterströmen anpasse. Andererseits lässt Ackermann eine gewisse Distanz gegenüber wohlfeiler Neoliberalismus-Kritik erkennen. Die Durchdringung des linksliberalen Milieus von ökonomischem Denken entgeht ihr und damit auch das Gravitationszentrum einer Moral, die sich über die illiberalen Folgen ihrer Forderungen nicht im Klaren ist.
Diese Moral äußere sich exemplarisch in der modisch gewordenen Nationalstaatskritik. So sei die Forderung nach Aufhebung aller Grenzen angesichts des Mangels internationaler Institutionen, die nationalstaatliche Aufgaben übernehmen können, eine Abkehr vom Rechtsstaat, vom Sozialstaat - und schließlich auch von der Demokratie. Man könne einen Bürger außerhalb des Nationalstaats nicht adressieren und folglich keine demokratische Entscheidung treffen, schließt sie mit Francis Fukuyama.
Ackermann beobachtet ein identitäres Gruppendenken, das rechts unter völkischem Label und links als Opferkollektiv in Erscheinung trete - jeweils unter Ausschluss individueller Freiheit. Besonders ausgeprägt sei diese Tendenz an den Universitäten, wie zahlreiche Veranstaltungen der jüngeren Vergangenheit belegten, die im Krawall endeten. Statt einer Vielfalt der Positionen und Argumente, wie sie für die Wissenschaft wesentlich ist, erlebe man hier willkürliche Ausschließung von Gegenpositionen, Rückzug in Schutzräume und einen Opferkult, der gemeinsames Erkenntnisstreben von Beginn an unmöglich mache. Die von manchen Fächern im Umkreis der postkolonialen Studien geförderte Tendenz, nicht über sich hinauszudenken, sondern die Wertigkeit von Argumenten nach Gruppenzugehörigkeit zu bemessen, münde in intellektueller Regression, die als Emanzipationsfortschritt gefeiert werde, und schaffe ein Klima der Bezichtigung. Antipluralismus, so Ackermanns Botschaft, ist als verbreitete Haltung auch dort anzutreffen, wo man sich Vielfalt auf die Fahnen schreibt.
So navigiert Ulrike Ackermann durch ein Meer von Widersprüchen, in dem die Freiheit eine kleine Insel ist, welche oft von Anwälten vertreten wird, die sie bei geringem Widerstand aufgeben. Ihr Schlussplädoyer gilt dem freischwebenden Intellektuellen, der sich von Systemzwängen und Konformitätsdruck befreit. Mit ihrem Buch zeigt sie, wie man es machen kann.
THOMAS THIEL
Ulrike Ackermann:
"Das Schweigen der Mitte". Wege aus der
Polarisierungsfalle.
wbg / Theiss Verlag,
Darmstadt 2020.
206 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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