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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Eine vertuschte Untat kommt in der Wendezeit ans Tageslicht: Susanne Tägders Kriminalroman "Das Schweigen des Wassers" führt nach Mecklenburg, kurz nach der Wiedervereinigung. Ein Debüt voller deutsch-deutscher Traumata.
Das schwarze Wasser des Landwehrkanals schweigt, als die "Philippa" mit quietschendem Schleifen unter der Zossener Brücke entlang schrappt. Das Gespräch muss pausieren, Susanne Tägder und Andreas Pflüger tragen den Cliffhanger mit Fassung. Wir sind auf einer Bootsfahrt durch das nächtliche Berlin, es geht um ein Romandebüt, das dem Krimigenre alle Ehre macht. Susanne Tägder hat es verfasst, Andreas Pflüger betätigt sich als Werbetrommler, denn "Das Schweigen des Wassers" fühle sich für ihn so an, sagt Pflüger, als sei es nicht Tägders erstes, sondern ihr zehntes Buch.
Die Autorin, 1968 in Heidelberg geboren, lebt mit ihrer Familie im kalifornischen Palo Alto. Sie hat als Richterin am Sozialgericht in Karlsruhe gearbeitet und dort prägende Einblicke in Abstiegsgeschichten bekommen. Abservierte gibt es auch in ihrem Debütroman zuhauf. Zunächst hat sich Tägder mit Kurzprosa erprobt, erhielt vor zwei Jahren den Walter-Serner-Preis für Kurzgeschichten. An der Stanford University hat sie einen Schreibkurs absolviert, dann wurde sie von einer deutschen Agentur entdeckt. Der Tropen Verlag, das Berliner Beiboot von Klett-Cotta, griff sofort zu.
Tägders Eltern stammen aus der DDR, sie verließen das Land auf unterschiedlichen Wegen. Die Mutter kehrte auf der Rückreise in die DDR am 13. August 1961, dem Tag der Verkündung des Mauerbaus, nicht in ihre Heimat zurück, weil ihr ein DDR-Grenzpolizist den Hinweis gab, sie könne im Bahnhof Zoo, dem letzten Halt auf Westberliner Seite, aussteigen. Die Verbindung zur Familie riss nie ab, auch Tochter Susanne war immer wieder bei der Verwandtschaft in Neubrandenburg. Die Fluchtgeschichten ließen sie nie los. Dass ihr Debüt 1991 in Mecklenburg spielt, spiegelt diese Obsession.
Andreas Pflügers Auftritt ist eine Galanterie: Der Großmeister des deutschen Thrillers ("Ritchie Girl", "Wie Sterben geht") versagt sich eigentlich Literaturbetriebsrituale wie das Stiften von Werbesprüchen. Er wird eine geistige Verwandtschaft zu Susanne Tägder verspürt haben, womöglich weil ihn Genrebezeichnungen langweilen. Auf seinen Büchern stehe außen "Thriller" und innen "Roman", erzählt Pflüger. Er selbst beschreibt sich als Schriftsteller, in dessen Romanen "Menschen zu Schaden kommen". So verhält es sich auch mit Susanne Tägders Roman, der auf einer Reportage basiert, die Renate Meinhof 2002 in der "Süddeutschen Zeitung" veröffentlichte. "Das eisige Echo des Verdachts" erzählt von einem Mann in Mecklenburg, der zu unrecht eines Mordes verdächtigt und dessen Geständnis mit Folter erpresst wurde. Als sich Jahre später seine Unschuld herausstellt, kann er nicht mehr Tritt fassen.
Bei Tägder geschieht die Untat, die alles auslöst, 1980. Die Polizistentochter Jutta Timm wird vergewaltigt und ermordet. Die Romanhandlung setzt ein, als elf Jahre später Kriminalhauptkommissar Arno Groth in seine ostdeutsche Heimatstadt Wechtershagen (das fiktive Pendant Neubrandenburgs) zurückkehrt. Er hat eine Ermittlung verbockt, als Aufbauhelfer Ost soll er den Ball flach halten. Groth ist ein Eigenbrötler, der Literatur liest und sich von ihr zu ungewöhnlichen Lösungswegen verleiten lässt, von Kafkas "Hungerkünstler" etwa. Seine Tochter Saskia ist tot, warum, erfahren wir erst spät. Groth trifft Gestalten seiner Jugend wie die alleinstehende Lehrerin Irina, mit der zusammen er Abitur gemacht hat. "Wie konnte er das vergessen. Er hat sie schon damals nicht gemocht." Das beginnt sich kaum merklich zu ändern. Es ist die Möglichkeit einer sich anbahnenden Liebesgeschichte, die Tägder hier einflicht. Groths Denken, Reden und Handeln sind nicht deckungsgleich, aber er hat Momente in denen er "plötzlich von kompromissloser Wahrheitsliebe erfüllt" ist.
Der heruntergekommene Bootsverleiher Siegmar Eck liegt tot im See. Er war einst der Hauptverdächtige im Fall Jutta Timm. Kurz vor seinem Tod hat er Groth angesprochen. Er hat herausgefunden, wer Jutta umgebracht hat. Dieses Wissen nimmt er mit ins Grab. Nach einigen Ermittlungsschritten, in denen auch der alte Mordfall eine Rolle spielt, heißt es: kein Verdacht auf Fremdeinwirkung, Akte zu. Man hat genug mit der Gegenwart zu tun. Doch Groth ahnt einen Zusammenhang zwischen den Fällen. Bei seinen Ermittlungen kollidiert er mit seinem Chef, der noch Karriere beim neuen LKA in Schwerin machen will; und er stolpert über die Obstruktion seines Kollegen Gerstacker, der im neuen System keine Karriere mehr machen wird, weil seine Vorgeschichte zu trübe ist. Dass es in Kafkas Roman "Das Schloss" einen Fuhrmann Gerstäcker gibt, ist vermutlich kein Zufall - auch wenn Tägder angibt, ein wesentlicher Einfluss sei für sie Stefan Zweig gewesen. Und "Vermisst", das vor elf Jahren erschienene Krimidebüt des israelischen Autors Dror Mishani.
Die Geschichte wird aus zwei Perspektiven erzählt. Neben jener Groths steht die von Regine Schadow, die im Service der Ausflugsgaststätte "Erholung" arbeitet. Zuletzt hat sie im Kempinski in Berlin gejobbt, was sie in der Provinz will, bleibt ihr Geheimnis. Der dubiose Fotoreporter Hennemann heftet sich an ihre Fersen. Er war es, der 1980 ein Bild des Leichnams von Jutta Timm gemacht hat, von dem niemand weiß. Groth braucht bis Seite 186, bis es zündet: "Er kann es nicht fassen, dass ihm das nicht früher aufgefallen ist."
Tägders Sprache ist souverän rhythmisiert, sie kennt das Milieu, macht es mit feinen Details lebendig. Etwa wenn Groth ein Tapetenmuster sieht, "das ihn an die alten Pril-Blumen erinnert, die Saskia mit fünf von der Flasche abzog und überall in der Hamburger Wohnung verteilte." Oder die Nachbarin, die täglich Gesprächsfäden auswirft, die Groth nicht aufgreift, weil ihm "ihr Repertoire an rhetorischen Fragen unerschöpflich" erscheint. Oder das neue weinrote Tastentelefon in der Farbe "Bordo". "So nennt man Rot neuerdings", sagt die Empfangsdame im Altersheim.
Es geht im Kern um "Blutwissen", um den siebten Sinn, der Menschen lenkt. Tägders Figuren sind Erben transgenerationaler Traumata, die deutsch-deutsche Geschichte in ihrem Seelenrucksack mit sich herumschleppen. Der Kriminalfall liefert nur den Rahmen. Andreas Pflügers Blurb - "Diese Autorin ist gekommen, um zu bleiben" - trifft es gut. Ein zweites Buch mit Arno Groth sei in Arbeit, erzählt die Autorin mit einem leichten Achselzucken - so als könne sie nicht anders. Wie schön. HANNES HINTERMEIER
Susanne Tägder: "Das Schweigen des Wassers". Kriminalroman.
Tropen Verlag, Berlin 2024.
342 S., br.,
17,- Euro.
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